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Was wäre wenn? Paare und die kontrafaktische Geschichtsschreibung

©Bacho FotoDie kontrafaktische Geschichtsschreibung ist eine vor allem in angelsächsischen Ländern verbreitete und hierzulande etwas umstrittene Methode der Geschichtswissenschaft. Sie interessiert sich, wie der Name andeutet, für mögliche alternative Verläufe der Geschichte und basiert auf der schlichten Frage, was wäre wenn?

Nehmen wir als Beispiel die Person Martin Luther. Wie sähe die Welt heute aus, wenn Martin Luther als Kind ertrunken wäre und sich der Protestantismus und die Spaltung der Kirche niemals ergeben hätten?

Natürlich gibt es auf diese Frage keine wirkliche Antwort, aber man kann auf der Basis dieses Gedankenexperimentes eine Unmenge verschiedener alternativer Geschichtsverläufe konstruieren. Grundsätzlich beruhen alle diese Alternativgeschichten aber auf zwei deutlich zu unterscheidenden Grundansichten von historischen Entwicklungen: Entweder wir nehmen an, dass eine klar bestimmbare historische Person etwas getan hat, was außer ihr niemand hätte leisten können, in Luthers Fall seine berühmten Thesen und die deutsche Übersetzung der Bibel.

Oder bestimmte Dinge und Entwicklungen liegen einfach in der Luft und ergeben sich gewissermaßen von selbst, sodass die Person Luther völlig austauschbar ist, d. h. ein anderer Mensch wäre früher oder spä- ter auf ähnliche Ideen gekommen und die Geschichte hätte sich mehr oder weniger genauso entwickelt, wie die tatsächliche.

Die kontrafaktische Geschichtsschreibung ist also einerseits eine Art spielerisches Gedankenexperiment, sie hat aber darüber hinaus auch wissenschaftlichen Wert, weil historische Einzelereignisse auf diese Weise auf ihre Relevanz für den Verlauf der Geschichte überprüft werden können.

Was hat aber nun kontrafaktische Geschichtsschreibung mit der Gesprächstherapie von Paaren zu tun?

Zunächst einmal sind Therapeuten (immer m/w) in einer ähnlichen Position wie Geschichtswissenschaftler, denn auch sie rekonstruieren die mehr oder weniger lange Geschichte eines Paares mit ihren historischen Großereignissen, wie dem Kennenlernen, einer möglichen Heirat, der Familiengründung und so weiter. Natürlich werden hierfür keine historischen Dokumente oder andere Quellen verwendet, sondern die Aussagen von unmittelbar beteiligten Zeitzeugen, nämlich eben dem betroffenen Paar. Doch täuschen wir uns nicht: Ein emotional engagiertes Paar ist im Hinblick auf sein eigenes Tun und Handeln in der Vergangenheit ein viel schlechterer Augenzeuge, als man auf den ersten Blick meinen könnte.

Hierfür gibt es mehrere Gründe, von denen ich nur zwei kurz umreißen möchte. Der erste und wichtigste Grund besteht darin, dass alle Menschen unter einem selektiven Gedächtnis leiden. Wir erinnern uns kaum an den Dienstagabend der vergangenen Woche, aber unsere Schulzeit z. B. steht uns so deutlich vor Augen, als sei sie erst gestern vorbeigegangen. Bei näherer Betrachtung entpuppen sich solche goldenen Erinnerungen jedoch häufig als falsch, da wir dazu neigen, Erinnerungslücken nicht als Lücken bestehen zu lassen, sondern sie kreativ mit falschen Pseudoerinnerungen zu füllen.

Solche Ergänzungen werden jedoch nicht bewusst geschaffen, sondern ergeben sich in einem komplizierten Prozess, in welchem Gehörtes oder Gesagtes sich mit Bruchstücken von Erinnerung vermischt und so in einem mehr oder weniger suggestiven Gespräch zu einem vermeintlich echten Erinnerungsbild zusammengesetzt wird. Hinzu kommt, dass wir uns vor allem an emotional besonders intensive Erlebnisse, sei es Glück oder Leid, erinnern, während die weniger stark besetzten Lebensereignisse entweder unter den Tisch fallen oder u. U. emotional umbewertet werden.

Ein wesentlicher Teil der Anamnese zu Beginn einer Psychotherapie besteht also auch darin, die angeblichen historischen Fakten, die uns unsere Einzelpatienten im Gespräch präsentieren, auf ihre emotionale Gültigkeit hin zu überprüfen und die Erlebnisse zu identifizieren, die möglicherweise gerade diejenige Störung ausgelöst haben könnten, wegen der man uns konsultiert hat.

Weit komplizierter gestaltet sich dieser Prozess in der Anamnese der Störungen von Paaren, weil es sich bei dem Ausgangsmaterial hier um die präsentierten Fakten von zwei Menschen handelt, die sich trotz des gemeinsamen Erlebens aus den genannten Gründen deutlich voneinander unterscheiden können. Wir haben es demnach dann nicht nur mit einem, sondern mit zwei unzuverlässigen Zeugen zu tun und die echte, wahre Geschichte, die uns als Therapeuten interessiert, wird noch unzugänglicher. Besonders fatal kann die Situation werden, wenn begonnen wird, gemeinsam Erinnerungslücken zu rekonstruieren. Die gefühlte und erinnerte Wirklichkeit kann dann so schnell voneinander abweichen, dass bestehende Konflikte noch weiter verschärft werden können.

Aus diesem Dilemma kann die kontrafaktische Geschichtsschreibung möglicherweise einen Ausweg weisen. Wie erwähnt, geht es hier ja nicht darum, eine objektive historische Wahrheit zu rekonstruieren, sondern historische Einzelsituationen auf ihre Relevanz für die Gegenwart zu überprüfen.

Nehmen wir als Beispiel einen Paarkonflikt, der auf den ersten Blick auf einem sexuellen Betrug zu ruhen scheint. Mann hat, ganz dem Klischee entsprechend, seine langjährige Ehefrau mit einer jüngeren Arbeitskollegin betrogen, die ganze Geschichte ist herausgekommen, man entschließt sich zu einer Therapie und auch eine mögliche Trennung steht im Raum. 

Nehmen wir nun an, ähnlich wie im Beispiel der Person Luther, der Ehebruch sei dieser eine historische Auslöser, der letzten Endes dazu geführt hat, dass sich die (emotionale) Wirklichkeit des Paares bis in die Gegenwart so entwickelt hat, wie geschildert.

Ein kontrafaktischer Zugang zur Geschichte des Paares bestünde nun darin, das auslösende Ereignis zu löschen und die Auswirkungen auf die Geschichte zu (re-) konstruieren. Konkret an das Paar formuliert lautete dann die erste und auf den ersten Blick zunächst ganz banale Frage: Wie würde es Ihnen als Paar heute gehen, wenn es den Ehebruch nicht gegeben hätte?

Die Antwort liegt in den meisten Fällen auf der Hand, man hätte eben keine partnerschaftlichen Probleme, alles wäre beim Alten geblieben. Im nächsten Schritt wird das historische Einzelereignis jedoch weiter eingegrenzt: Wie ist es zu der Begegnung gekommen, die zu einem späteren Zeitpunkt zum Ehebruch führen wird? Treibt man dieses Spiel, denn um ein solches handelt es sich ja, konsequent weiter, so wird dem Paar über kurz oder lang deutlich, dass nicht der Ehebruch das Ausgangsereignis ihrer aktuellen Problemlage ist, sondern eher eine emotionale Entfremdung, die bereits deutlich früher begonnen hat und die, und hier entpuppt sich der Wert der kontrafaktischen Herangehensweise, ohnehin stattgefunden hätte.

Der therapeutische Vorteil liegt nun darin, dass keine klar benennbaren Schuldigen an der gegenwärtigen Situation mehr existieren, sondern die Gegenwart als das Produkt der gemeinsam verbrachten Vergangenheit verstanden werden kann. Diese muss dann mit anderen Augen betrachtet werden, was im Laufe der Therapie ja in den meisten Fällen auch geschieht.

Die Therapeuten erzeugen also mit dieser Methode auch eine gewisse Offenheit für die anstehende Paartherapie, was ja ebenfalls vorteilhaft ist, da der Entschluss, sich als Paar Hilfe zu suchen, zumeist von nur einem Partner ausgeht.

Man mag nun einwenden, dass man zu dem genannten vorläufigen Ergebnis auch deutlich einfacher hätte kommen können, was nicht zu leugnen ist. Der Vorteil der Methode besteht jedoch darin, dass sie, einmal eingeführt, auch im weiteren Therapieverlauf sinnvoll eingesetzt werden kann.

Und das nicht zuletzt deswegen, weil auf diese Weise in spielerischer Form auch existenzielle Themen angesprochen werden können.

Nehmen wir an, unser Paar hat zwei Kinder, deren Erziehung und Aufzucht die Frau daran gehindert haben, in ihren ursprünglichen Beruf zurückzukehren. Eine kontrafaktische Frage könnte dann lauten: Was wäre, wenn Sie kinderlos geblieben wären? Eine solche Diskussion ist zumeist schwierig anzustoßen, weil es gerade in einer Krisensituation sehr schnell zu Vorwürfen kommt, in einem solchen Fall den des Egoismus, des Karrierismus oder der mangelnden Kinderliebe.

Im Rahmen eines kontrafaktischen Gedankenspiels erscheinen solche Gedanken jedoch weit erträglicher und können rationaler diskutiert werden. Das letzte und existenziell bedrohlichste Gedankenspiel stellt natürlich die kontrafaktische Löschung der ersten Begegnung des Paares selbst dar: Wie wären die Einzelleben dann verlaufen?

Schlagen wir zum Schluss noch einmal den Bogen zum Anfang dieser Überlegungen.

Wenn nicht die einzelnen Begebenheiten einer Beziehungsgeschichte wichtig sind, sondern die oben erwähnte Zwangsläufigkeit, so bietet sich schließlich die Möglichkeit, die Beziehungsfähigkeit der beiden einzelnen Menschen als solche zu diskutieren, als konkrete Frage formuliert: Würde ich eine Beziehung wie diese auch führen, ganz unabhängig von meinem Partner, sondern mit jedem Partner?

Auch hierin bieten sich therapeutisch wertvolle Anknüpfungspunkte für weiterführende Einzelgespräche, die durch das kontrafaktische Gedankenspiel in spielerischer Weise genutzt werden können.

Jens HelmigJens Helmig

Philosophische Praxis für Lebensmanagement, Köln
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Fotos: ©Photographee, ©Bacho Foto