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Du bist, was du gibst!

Das Paar „Geben + Nehmen“ beschäftigt mich schon immer. Meine Aufmerksamkeit war dabei jeher von vielen offenen Fragen begleitet – die auch nie wirklich weniger wurden. Meine Fragen kreisten vor allem um die für das Auge unsichtbaren, tief hinter der scheinbaren Oberfläche liegenden Prozesse. Was ist die richtige Menge und was sind die richtigen Zutaten für ein für alle gleichermaßen ausgewogenes Rezept? Was sind die Faktoren, die alles versalzen oder zu süß werden lassen? Wie findet man eine harmonische Balance, die allem und allen dienlich ist? Und vor allem war es jene Frage, die immer wieder zu mir zurückkehrte: Gebe ich mir, während ich dir gebe? Wenn ja, wie und was gebe ich dabei mir? Und: Was ist wirklich dienlich?

Ich habe zu diesem Thema viele Vorbilder in meinem Leben kennengelernt. Menschen, die sich selber und andere gleichsam versorgen, die nie jemanden benachteiligen und anderen gaben und gleichzeitig sichtbar selber zur schönsten Blume erblühten. Aber haben diese Meister des Gebens tief in sich auch ein ebenso entsprechendes Nehmen verspürt? Jene harmonische, allem dienende Balance, wenn im Garten des Lebens Gärtner und Blumen eins sind?

Wenn ich solch eine gelebte Hingabe glaubte gefunden zu haben, beobachtete ich diese immer wieder mit Staunen und war von dieser reinen Form der Liebe tief ergriffen und inspiriert. Ebenso kenne ich aber auch Beispiele, bei denen die Ausprägung in ein Ungleichgewicht ausuferte, bei denen das Meer den Boden bei Ebbe regelrecht ausgetrocknet zurückließ und ihn wiederum mit seiner größten Stärke überflutete und damit alles erstickte.

Ein metaphorischer Vergleich für Menschen, die für andere alles gaben und dabei selber verhungerten. Ist unser Geben also wirklich immer gleich jenem altruistischen, reinen Geben und wie gelingt die gesunde Balance von Geben + Nehmen?

Konzepte zum Thema

Zu den uns steuernden Konditionierungen ist auch das Geben als automatisiertes Programm in uns angelegt, zumeist eng verknüpft mit Egoismus, Altruismus, Selbstwert und Dienen. „Geben ist gut, nehmen ist schlecht“, so in etwa lautet die Zusammenfassung vieler damit einhergehender Glaubenssätze, die allesamt jene beiden Polaritäten, das Geben einerseits und das Nehmen andererseits, trennen und deren Einheit missachten.

Aus der Biologie

Leben ist Geben! Dass wir gebende Lebewesen sind, hat zum einen mit einer der herausragendsten Charaktereigenschaften von uns Menschen zu tun, nämlich damit, dass wir soziale Wesen sind. In einem sozialen Gefüge zu leben bzw. sich zu bewegen, ist ein menschliches Grundbedürfnis und ein solches soziales Gefüge ist eben durch einen beständigen Kreislauf von Geben + Nehmen bedingt.

Aus der Bibel

In der Bibel finden sich einige Passagen zur Gabenkultur. Die Quintessenz, wie überwunden werden kann, sich nicht länger als der zu fühlen, der leer ausgeht, wird im Lukas-Evangelium in einem Satz zusammengefasst: „Gebt, so wird euch gegeben werden.“ (Lukas 6,38). Hier erfolgt bereits der Verweis auf den unmittelbaren Zusammenhang von Geben + Nehmen.

Auch in der „Goldenen Regel“, die Geben + Nehmen dahingehend ineinandergreifend ausdrückt, als dass beide Pole unmittelbar aneinander und ungetrennt voneinander gekoppelt sind, drückt sich die Wechselwirkung von Geben + Nehmen aus: „Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen!“ (Lukas, 6,31). „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“ (Matthäus 7,12).

Aus der Karmalehre

Karma ist die Lehre, die vor allem im Buddhismus und im Hinduismus die prägende Säule des religiösen Glaubens bildet. In der Karmalehre wird davon ausgegangen, dass es nicht etwa Schicksal, höhere Gewalt oder Macht sind, die als „Zufälle“ unseren Lebensweg leiten, sondern die zurückgekehrte Energie in Form von Erlebnissen, Wahrnehmungen und Erfahrungen (passiv oder aktiv), die wir eines Tages verursacht haben. Die Karmalehre verbindet Ursache und Wirkung, wobei Geben die Ursache und Nehmen die Wirkung ist.

Allerdings kann es auch dein Nehmen durch dein Reagieren sein, was entsprechend wieder dazu führt, was dir vom Leben gegeben wird. Ausgangspunkt ist das Verständnis, dass du immer genau jenes empfangen wirst, was du gegeben (ausgesandt) hast, wobei dies eben auf der wahrhaftigen und nicht der äußeren Ebene basiert. Dein Nehmen (deine Erfahrungen) wird entsprechend deines wahren Gebens (dein Reagieren) zu dir zurückkommen.

Ich gebe, also bin ich

„Du bist, was du denkst“, lehrte Buddha 500 v. Chr. den Samen all unseres gegenwärtigen und zugleich zukünftigen Seins: unsere Gedanken. Auch mein Ansatz „Du bist, was du gibst!“ reiht sich hier ein und will unser Sein fortgesetzt durch unser Geben, im Sinne unserer gebenden Handlungen, näher beleuchten. Wenn wir nun also unsere Handlungen näher betrachten, erforschen wir diese vor allem auf ihren „gebenden“ Charakter in der Grundannahme, dass unsere Handlungen fast immer gebend und intendiert sind, also aus einer bestimmten Absicht heraus.

Intendiertes Geben

Intendierte Handlungen sind all jene, nach denen wir zu einem bestimmten Zweck geben, um in späterer Folge zu erhalten. Die Wahrheit ist: Des Menschen Handlung ist zumeist auf ein „um zu“ geprägt. Ich gebe dir, damit ... ich gebe (dir), um ... zu. Die meisten würden nicht zugeben, dass ihre offensichtlich schöne und positive Handlung – auch – eine egoistische Basis beherbergt.

Auch der Meister der Lehre des Moments, Eckhart Tolle, spricht in seiner Abhandlung „Jetzt!“ davon und unterscheidet die Hingabe an den Moment, das wahre Sein, von der „psychologischen Zeit“ und zeigt ebenso jenes Intendierte auf, fernab von unserem wahren Sein ausschließlich in der Gegenwart, nämlich, wenn wir ständig entweder wegen unserer Vergangenheit oder für unsere Zukunft handeln, indem wir versuchen, ständig woanders zu sein, als da, wo wir jetzt sind, dort, wo unser Tun hauptsächlich einem Mittel zum Zweck gleicht.

„Der gegenwärtige Moment ist alles,
was du je haben wirst.
Es gibt nie eine Zeit, in der dein
Leben nicht ‚dieser Moment‘ ist.
Ist es nicht so?“
Eckhart Tolle

Gedankenimpuls

Betrachte du für dich einfach einmal genau: Warum gibst du dies oder das? Ist es fließend oder ist es aus einer bestimmten, den anderen oder dich betreffenden Absicht heraus?

Egoismus vs. Altruismus
Geben: heiliges Sein oder Heiligenschein?

„Gebt, so wird euch gegeben werden.“ (Lukas 6,38), findet man in der Bibel fest verankert. Und so wird fleißig gegeben, gespendet, geholfen und unterstützt, der Mensch ist von Natur ein Philanthrop und Altruismus ist unser wahres Wesen. Nun, wäre dem wirklich ausschließlich so, dann hätten all die Kriege Zeit unseres Lebens sowohl im Großen als auch im Kleinen erheblichen Erklärungsbedarf, oder nicht?

Schon Hobbes bezeichnete den Naturzustand von uns Menschen als „Kriegszustand“, als Krieg eines jeden gegen jeden, ähnlich wie Rousseau, der immerhin dies der gesellschaftlichen Prägung zuschrieb.

Egoismus, vom Lateinischen „ego“ – ich, Altruismus, vom Lateinischen „alter“ – der andere.

Egoismus bezieht sich demnach
auf alles, was du für dich tust.
Altruismus eben auf all das,
was du für den anderen tust.

Hand aufs Herz? Wie oft gibst du, ohne dass ein „um zu“ mitschwingt? Oft lässt sich zumindest schnell entlarven, dass du gibst, damit es dem anderen gut geht, damit der andere hat, was er braucht etc. Doch tiefer beleuchtend erkennst du, dass es nicht nur für den anderen, sondern auch für dich ist.

Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler James Andreoni sprach in diesem Zusammenhang vom „the warm glow“ oder Aristoteles: „Der ideale Mensch verspürt Freude, wenn er anderen einen Dienst erweisen kann.“

Altruismus, eine selbstlose Denk- und Handlungsweise, kommt also in der Mogelpackung des Egoismus daher, indem, wenn du gibst, du nämlich mithin das eigene Wohlgefühl steigerst. Ist der verpönte Egoismus gar authentischer als der gepriesene Altruismus?

Gedankenimpuls

Kennst du solche Situationen? Während du vermeintlich rein und altruistisch gibst, fühlst du dich dann nicht etwa selber gebraucht, wertvoll, nützlich? Kann es sein, dass dies Situationen sind, in denen du gibst, damit du so dein eigenes Wohlbefinden bis hin zum Selbstbewusstsein steigerst? Viele Beziehungen beruhen auf diesem bedingenden Prinzip: Ich gebe dir, dafür bist du mit mir zusammen.

Frag dich also: Warum gibst du? Gibst du für dich oder für den anderen oder gibst du dem anderen für dich? Gib dir Zeit und erlaube so der Stille, dir den Raum aller Antworten zu offenbaren.

Selbstwert

Und auch für das Thema Geben + Nehmen ist es wieder einmal der Selbstwert, dem eine gewichtige Rolle zuteilwird. Nur, wenn der Selbstwert gelebt wird, kann man auch entsprechend geben und in Folge auch nehmen. Leider ist es allerdings so, dass sich gerade um den Selbstwert viele Glaubenssätze tummeln, und so fällt es den meisten nicht leicht, sich selber die Dinge vom Leben zu geben bzw. diese auch anzunehmen.

„Sei es dir selbst wert!“

Das ist zwar weitverbreitet, doch dies wirklich umzusetzen bzw. zu leben, stellt für die meisten ein Leben lang eine Herausforderung dar. Meistens sind es folgende oder ähnliche tief verankerte Glaubenssätze (Sätze, an die wir glauben – und zwar zumeist unbewusst und ungeprüft), die uns von der Erfüllung dieses gut gemeinten Ratschlags abhalten:
– Niemand ist perfekt.
– Ich bin nicht gut genug.
– Ich weiß nicht, ob ich das kann/schaffe.
– Andere wissen viel mehr. Andere können viel mehr.
– Ich bin nur einer von vielen.

Dies sind nur einige Sätze, die uns gesellschaftlich mitgegeben werden und die tief in uns schlummern und unseren Selbstwert unterbewusst immer drücken. Scheint dir der Selbstwert als schwer überwindbare, große „Aufgabe“, so gibt es jedoch eine heilsame Brücke: die Selbstliebe. Und diese lässt sich sehr gut trainieren. Wie kannst du deine Selbstliebe leben bzw. praktizieren?

Geben + Nehmen in Balance

Übung: Atme jetzt einmal gegenwärtig in dich hinein. Atme ein und nimm wahr, was passiert, atme wieder aus. Wiederhole noch einmal. Nimm wahr (Pause).

Was konntest du wahrnehmen, was passiert während deines Atemvorgangs? Wenn du einatmest, nimmst du oder gibst du?

Wenn du einatmest, nimmst du, oder? Nämlich die Atemluft aus deiner Umgebung, nimmst Leben („prana“) und gibst es in dich hinein, gibst Sauerstoff in deinen Körper und versorgst ihn damit, versorgst deine Zellen, deinen Blutkreislauf. Atme ein und spüre, wie du Leben nimmst, und wie du dich mit Leben beseelst.

„Atman“ – Lebenshauch, ein Sanskrit-Begriff aus der indischen Philosophie, mag sehr gut diesen Atemvorgang beschreiben: Dein Atem ist Leben. Atem, Leben nehmend gibst du es zugleich. Wenn du ausatmest, versorgst du dich, die Bäume, die Pflanzen, deine Umwelt im gleichen Moment um dich herum; sie erhalten dein produziertes Kohlenstoffdioxid.

Geben + Nehmen passiert ständig, ist allgegenwärtig – so, wie unsere Atmung. Wahrhaftiges Geben + Nehmen ist in diesem Beispiel repräsentiert, in diesem Beispiel des natürlichen Atmens.

Dein Atmen verbindet dich mit deinem Leben. Dein Atem hält dich am Leben, schenkt dir Leben. Du atmest dein Leben ein und gibst dein Leben auch wieder hinaus, beständig. In vollstem Vertrauen. Atmend gibst und nimmst du also zugleich.

An diesem Beispiel kannst du die reine Form von Geben + Nehmen erkennen – nämlich, wie du zugleich gibst und nimmst.

Ein reines Geben + Nehmen versorgt und gibt, ist harmonisch und natürlich. Zwei scheinbare Polaritäten, Geben + Nehmen, die hier in der Mitte klar eins werden – vielmehr: sind! Dort, wo sich die Polaritäten aufheben, dort, wo dein Geben + Nehmen natürlich ist, fließend, friedvoll, freudvoll, erhebend, kraftgebend. Wenn dein Geben + Nehmen im Fluss ist, dann ist dein Geben rein und herzverbunden.

Ist dein Geben nicht reiner Absicht, so kostet es dich Kraft, ist anstrengend und mühevoll, es gibt dir nichts, es nimmt dir etwas. Es geht dabei also auch um die innere Absicht, wie so oft.

Fazit

Wir haben gesehen, dass viele unserer gebenden Handlungen in ihrer Absicht nicht identisch mit ihrer „Verpackung“ sind. Würde es sich um einen rein gebenden Akt handeln, wäre die Absicht ebenso jene des „einspurigen“ Gebens und nicht die jedoch meist verbreitete Variante des Gebens in Erwartung, etwas zurückzuerhalten. (Und sei es auch „nur“ die Wertschätzung, die Dankbarkeit oder die Anerkennung durch den anderen.). Damit Absicht und Handlung übereinstimmen und wir in Folge eben auch jenes ernten, was wir ursprünglich säen wollten, bedarf es der Aufrichtigkeit, der Wahrhaftigkeit und der Reinheit.

Geben wir in vermischter Absicht, in der „Um-zu-Absicht“, so wird uns gebend genommen, etwas fehlen, das später als nicht vorhandener Ausgleich (bzw. als nicht wie geplant erwarteter Ausgleich) spürbar wird. Aus genau diesem Geben in Dysbalance entsteht ein Mangelbewusstsein, Burnout-Symptome zählen zu den Boten dieser toxischen Struktur.

Intendiertes Geben hinterlässt seine Spuren. Die gelebte Unverbundenheit zu sich selber fordert, wie in allen solchen gelebten Situationen, ihren Tribut.

Messbar ist dies vor allem an Unzufriedenheit, nicht in Frieden zu sein, in Erwartung zu sein, Sehnsucht oder Reue zu verspüren. Wahrhaftiges Geben hingegen zeichnet sich durch Leichtigkeit aus, durch ein „Im-Flow-Sein“, einem reinen Herzen während des gebenden Aktes, dem Gefühl der Verbundenheit, der Hingabe und Aufrichtigkeit sowie der Balance, dass einem danach nichts fehlt und man somit auch nichts im Gegenzug erwartet.

Geben fühlt sich dann
kraftgebend und nicht
kraftkostend an.
Wahrhaftiges Geben ist
also spür- und messbar!

Manuela Gassner:
„DU BIST, WAS DU GIBST!“,
Books on Demand,
2022

Manuela Gassner
dipl. Mentaltrainerin, zertifizierte Yogatrainerin, Autorin

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