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Die Polyvagal-Theorie: Paradigmenwechsel in Therapie und Beratung

Viele neue Erkenntnisse benötigen einige Zeit, bis sie allgemein Beachtung finden. Auch in der Medizin und in der Psychotherapie haben es neue Sichtweisen oft sehr schwer. Ein Beispiel ist die bereits 1995 erstmals formulierte Polyvagal-Theorie. Doch langsam, aber sicher erhält sie über die Fachkreise hinaus viel Aufmerksamkeit. Besonders in der Psychotherapie findet sie zunehmend die verdiente Anerkennung.

Die Polyvagal-Theorie wurde von dem US-amerikanischen Psychiater und Neurowissenschaftler Stephen W. Porges entwickelt. Porges ist Universitätswissenschaftler am Kinsey Institute, Indiana University, und Professor für Psychiatrie an der University von North Carolina.

Die Polyvagal-Theorie beschreibt eine neue Sicht auf das Autonome Nervensystem (ANS). Sie postuliert, dass das ANS ständig unsere Umgebung daraufhin untersucht, ob sie sicher, gefährlich oder sogar lebensbedrohlich erscheint. Dazu verwendet es sowohl Signale aus der Umgebung als auch solche, die aus den inneren Organen an das ANS übermittelt werden. Dieser Vorgang wird Neurozeption genannt. Er läuft weitgehend unbewusst ab.

Je nachdem, zu welcher Einschätzung das Autonome Nervensystem gelangt, werden unterschiedliche neurophysiologische Vorgänge in Gang gesetzt, die unser Überleben in Gefahr sicherstellen sollen.

Diese Sichtweise hat weitreichende Konsequenzen für die psychotherapeutische und beraterische Arbeit.

Eine neue Sicht auf das Autonome Nervensystem durch die Polyvagal-Theorie

In unserem autonomen Nervensystem spielt der Nervus vagus als Hauptnerv des parasympathischen Nervensystems eine entscheidende Rolle.

Im Laufe seiner Forschungsarbeit erkannte Porges, dass der Vagusnerv nicht als ein einzelner Nerv zu verstehen ist, sondern tatsächlich aus zwei separaten Ästen besteht, die unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Daher der Name „Polyvagal-Theorie“ (vom griech. „poly“ = viel, mehrere). Anatomisch versorgen die beiden Vagus-Äste unterschiedliche Regionen.

Der dorsale (hintere) Vagus regelt überwiegend die inneren Organe, die unter dem Zwerchfell liegen: den Magen, Teile des Darms, die Leber und die Nieren.

Der ventrale (vordere) Vagus hingegen steuert Bereiche oberhalb des Zwerchfells, vor allem jene, die wir für soziale Aktivitäten benötigen: Gesicht, Mund, Kehlkopf, Rachen und Mittelohr sowie das Herz.

Die unterschiedlichen Äste des Vagusnervs sind aber auch unterschiedlich aufgebaut. Der ventrale Vagus besitzt zusätzlich eine „Myelinisierung“ genannte, umhüllende Fettschicht. Diese Fettschicht ermöglicht, in Abhängigkeit von der Dicke der Nervenfasern, eine bis zu 100-fach schnellere Informationsübermittlung durch die Nervenfasern.

Und noch etwas Wesentliches stellt Porges heraus: Entgegen der landläufigen Annahme steuert nicht einseitig unser Gehirn das Nervensystem, sondern das Nervensystem gibt auch unserem Gehirn entscheidende Handlungsanweisungen. Körper und Gehirn beeinflussen sich in einem Regelkreislauf gegenseitig. Ein entscheidender Faktor in diesem Regelkreislauf ist eine Fähigkeit des Nervensystems, die Porges im Rahmen der Polyvagal-Theorie „Neurozeption“ nennt.

Neurozeption

Der Begriff Neurozeption bezeichnet die Fähigkeit des ANS – automatisch und ohne dass wir dies bewusst wahrnehmen – die Umgebung ständig daraufhin zu überprüfen, ob sie sich sicher, bedrohlich oder gar lebensgefährlich darstellt.

Dazu verwendet es Signale, die sowohl über unsere Sinnesorgane aus der Umgebung als auch aus den inneren Organen an das ANS übermittelt werden. Je nachdem, zu welcher autonomen Einschätzung das ANS kommt, aktiviert es einen von drei grundsätzlichen physiologischen Zuständen:

  1. Bewertet das ANS die Umgebung als sicher, wird das Social Engagement System (SES) aktiviert, das u. a. soziale Interaktion ermöglicht. Hierbei wird der ventrale Vagus aktiv.
  2. Wird die Umgebung als bedrohlich eingeschätzt, aktiviert das ANS den Kampf- oder Fluchtmodus. Dies ist eine Aufgabe für den Sympathikus.
  3. Erscheint eine Situation als lebensgefährlich und ein Kampf/eine Flucht als nicht möglich, bewirkt das ANS über den dorsalen Vagus eine Erstarrung.

Entwicklungsgeschichtlich sind die zwei Äste des Vagusnervs zu unterschiedlichen Zeiten entstanden. Der dorsale Teil ist weitaus älter als der ventrale. In Gefahrensituationen läuft die Reaktion kaskadenförmig ab. Wenn ein „jüngeres“ Verhalten nicht greift oder gelernte Erfahrungen dagegensprechen, wird auf das „nächstältere“ Verhaltensmuster umgeschaltet.

Konkret heißt das, dass ein Mensch, der sich bedroht fühlt, zuerst versucht, durch soziale Interaktion die Gefahr zu bannen. Gelingt dies nicht oder erscheint der Versuch von vornherein aussichtslos, schaltet das System um auf „Kampf oder Flucht“. Ist auch dies nicht möglich, wird in den dritten Modus gewechselt, der Erstarrung oder Erschlaffung hervorruft.

Traumata führen zu falschen Einschätzungen

Dabei kann es vorkommen, dass das ANS zu einer falschen Einschätzung, in den meisten Fällen zu einer falsch-negativen Einschätzung, der Umgebung kommt: Selbst wenn objektiv keine Bedrohung vorhanden ist, kann der Körper völlig anders reagieren und wir beginnen plötzlich zu zittern oder unser Herz beginnt zu rasen.

Dies ist häufig der Fall, wenn Menschen in der Vergangenheit traumatische Erfahrungen gemacht haben. Das Nervensystem ist in diesen Fällen quasi zu empfindlich eingestellt. Dies ist vergleichbar mit einem Feuermelder, der bereits dann Alarm gibt, wenn nur die Sonne zum Fenster hereinscheint.

Der Zustand des ANS als Wahrnehmungs- und Verhaltensfilter

Je nachdem, in welchem Modus sich unser ANS aufgrund der Neurozeption befindet, wird der gleiche Reiz unterschiedlich interpretiert und führt zu ganz unterschiedlichen Wahrnehmungen und Verhaltensweisen.

Der Zustand des ANS beeinflusst auf diese Weise z. B. die Fähigkeit zum Verarbeiten von Informationen, zum Zuhören, in soziale Interaktion treten zu können und generell das gesamte Sozialverhalten. Es hängt also nicht nur von unserem „Wollen“ ab, wie wir uns verhalten und welche Fähigkeiten wir einsetzen, sondern oftmals „können“ wir aufgrund unseres vegetativen Zustandes nicht anders. Das ist eine wichtige Information (nicht nur) für Therapeuten (immer m/w/d).

Diese Tatsache erklärt auch, warum es vielen Menschen so schwerfällt, die Dinge, die sie als richtig erkannt haben, in die Tat umzusetzen. Oder warum es uns häufig geschieht, dass wir in einer Übung oder in einer entspannten Situation als hilfreich erlebte Verhaltensweisen souverän beherrschen – und sie uns unter Stress plötzlich nicht mehr zur Verfügung stehen.

Je größer mittels Neurozeption die Gefahr eingeschätzt wird, desto weniger Gehirnbereiche stehen uns zur Verfügung. Wird der ventrale Vagus in seiner Aktivität reduziert, sind weite Bereiche unseres kognitiven Verstandes nicht mehr zugänglich. Und wenn wir in einen dorsal-vagalen Zustand fallen, regiert ausschließlich das Stammhirn mit seinen eingeprägten Instinkten.

Anzeichen der unterschiedlichen Zustände des ANS

Die Schaubilder verdeutlichen die typischen Verhaltens- und Erlebensweisen in den jeweiligen autonomen Zuständen. Aus der Sicht der Polyvagal-Theorie erscheinen viele – in der herkömmlichen Sichtweise der Medizin – als krankhaft eingestuften Verhaltensweisen und Symptome plötzlich als nachvollziehbare Stressreaktionen. Diese hatten zum Zeitpunkt ihres Entstehens eine äußerst sinnvolle Funktion. Unter geänderten Rahmenbedingungen können sie aber sehr lebenseinschränkend wirken.

Wenn sich unser Nervensystem sicher fühlt, dominiert der ventrale Vagus unser Verhalten und Erleben.

Siehe Abb. 2

Fühlen wir uns bedroht, geraten wir zunehmend in den durch den Sympathikus geregelten „Kampf / Fluchtmodus“. Alle Aufmerksamkeit wird auf die Bedrohung gerichtet und alle Energie für die Mobilisierung bereitgestellt.

Siehe Abb. 3

Werden wir in einer Situation überwältigt und können weder kämpfen noch fliehen, geraten wir zunehmend in den Zustand der Erstarrung. Alle Energiereserven werden gebündelt für eine letzte Kampf- oder Fluchtaktion, falls sich diese ergeben sollte.

Siehe Abb. 4

Das Social Engagement System (SES)

Das System für soziale Verbundenheit oder Social Engagement System (SES) findet sich nur bei Säugetieren. Es ist maßgeblich vom ventralen Vagus gesteuert. Die einzelnen Teile des SES beeinflussen sich dabei wechselseitig. Zum SES gehören neben Herz und Lunge alle Bereiche des menschlichen Körpers, die für soziale Interaktion entscheidend sind. Dies sind u. a. die Gesichtsmuskulatur – besonders der oberen Gesichtshälfte (Augenringmuskel) – der Kehlkopf und die Gehörmuskulatur.

Ist das SES voll ausgereift, erfüllt es zwei wichtige Funktionen. Erstens dient es der weitgehenden Regulation des körperlichen Zustandes, sodass Entwicklung und Heilung gefördert werden. Dies geschieht, indem der ventrale Vagus Stressreaktionen herunterreguliert, etwa durch Dämpfung der Ausschüttung von Stresshormonen oder Beeinflussung des Immunsystems.

Zweitens übermittelt es über die bei Säugetieren vorhandene Gesicht-Herz-Verbindung Informationen über den körperlichen Zustand. Dies geschieht u. a. über den Gesichtsausdruck, die Stimmmelodie (Prosodie) und die Steuerung der Mittelohrmuskulatur. Letztere ermöglicht es, auf die Frequenz der menschlichen Stimme zu fokussieren.

Im nächsten Beitrag wird es darum gehen, welche Auswirkungen die Erkenntnisse der Polyvagal-Theorie auf die therapeutische und die beraterische Arbeit haben.

Michael Krause
Heilpraktiker für Psychotherapie,
Dozent und Supervisor, Praxis in Bergheim/Erft

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