Der Fall Jessica
Es gibt nur wenige Fälle in meinem Leben, die so unglaublich sind und mich so perplex machten, dass ich sie nie vergessen werde. Jessica war ein solcher Fall.
Die damals 12-jährige Realschülerin wuchs im Raum Trier bei ihrem Vater auf, dessen Frau mit einem anderen durchbrannte und die Tochter nie wieder besuchte. Im Haus wohnten noch Jessicas Großeltern. Jessica hatte ihr eigenes Zimmer und war alles andere als ein „Problemkind“. Ihre Schulnoten waren überdurchschnittlich gut und zum Freundeskreis zählten Mädchen aus gutem Hause.
Allerdings genierte sie sich, Freunde (immer m/w/d) mit nach Hause zu nehmen oder einzuladen, eben weil die Großeltern dort wohnten. Irgendwie war das nicht „cool“. Und so kam sie eines Tages auf die Idee und erfand eine Geschichte: Ihr Opa würde sie verhauen. Zu Hause sei der Teufel los.
Dummerweise erzählte die Mitschülerin die Story einer anderen und das hörte die Lehrerin. Vielleicht hatten die Schülerinnen beim Weitererzählen etwas übertrieben, ich weiß es nicht. Jedenfalls informierte die Schule sofort das Jugendamt – ohne Rücksprache mit Jessica, ohne Gespräch mit Vater oder Großvater.
Zwei Mitarbeiter des Amtes fuhren dann zu Jessicas Haus, trommelten an die Türe, schüchterten die Großeltern massiv ein, packten Jessica am Arm und nahmen sie im Auto mit. Einfach so, zum Schutze des Kindes, wie sie sagten. Als der Vater von der Arbeit nach Hause kam (es war sein Geburtstag), war er wütend auf seine Eltern, die sich doch hätten wehren sollen. Die Nachbarin der Familie, eine Krankengymnastin und selbst Mutter einer Tochter, rief mich an und bat um Hilfe. Die Familie sei am Durchdrehen.
Und so lernte ich am nächsten Tag Jessicas Familie kennen. Der Opa machte absolut keinen gewaltbereiten Eindruck, die Oma war die Güte in Person und der besorgte Vater wirkte nicht aggressiv oder impulsiv auf mich. Doch das soll ja in der heutigen Zeit nichts bedeuten. Ausschlaggebend war für mich die Aussage der Nachbarin, deren Tochter mit Jessica befreundet war und die in den letzten acht Jahren noch nie einen Streit mitbekam, eine Androhung von Gewalt, übertriebene Strenge o. dgl.
Im Gegenteil: Jessica habe stets einen glücklichen und zufriedenen Eindruck gemacht. Ich glaubte ihr und übernahm die psychologische, emotionale, rechtliche und strategische Betreuung der Familie auf Basis bona fide – gratis zum Wohle des Opfers.
Der Vater fand zwischenzeitlich den Sachbearbeiter heraus (man hinterließ der Familie keine Tel.-Nr.) und wo sich seine Tochter befand. Als er zu ihr wollte, hieß es, das müsse man erst schriftlich beantragen. Der Besuch gewalttätiger Eltern müsse schließlich vorbereitet werden, unter Anwesenheit einer geschulten Sozialpädagogin. Gesagt, getan. Doch am übernächsten Tag ließ das Jugendamt ausrichten, Jessica sei nun verlegt worden in ein Heim, das sich eine Autostunde vom Wohnort der Familie befände. Erneut mussten Anträge gestellt werden.
Die sonstigen Ungeheuerlichkeiten und das Autoritätsgebaren der Behörde, die doch dem Wohl von Jugendlichen und deren Familien dienen soll, waren so unglaublich, dass ich mal das Internet nach ähnlichen Fällen durchkämmte. Hunderte von Familien schilderten dort ihre Erfahrungen mit der „Jugend-Polizei“, die aufmarschiert kam und deren Kinder wegnahm. Die Welle an Protesten und Entrüstungen ist groß. Ich musste also davon ausgehen, dass man Jessicas Familie Unrecht getan hat.
Ich fuhr mit dem Vater zu Jessicas Schule und traf dort den Direktor an. Gemeinsam schilderten wir ihm, was er durch seinen Anruf ausgelöst hat. Der wusste längst davon, war es doch Thema Nr. 1 an seiner Schule. Dem Vater gegenüber entschuldigte er sich. Er habe das nicht gewollt. Doch der Gesetzgeber würde verlangen, dass die Schule das Amt einschaltet in solchen Fällen. „In welchen Fällen denn?“ konterte ich. „Jessica hatte nur eine Story in die Welt gesetzt. Sie hatte weder Spuren von Schlägen noch Anzeichen psychischer Gewalt!“ Er entschuldigte sich nochmals und musste dann zu einem dringenden Termin ...
Drei Tage darauf erhielt die Familie eine Rechnung vom Jugendamt über rund 2 000 Euro für die Beherbergung, Versorgung und Betreuung von Jessica, monatlich zu zahlen. Kurz, es kam zur Gerichtsverhandlung, bei der ich als Außenstehender nicht anwesend sein durfte. Ich war nur kurz im Saal, umarmte den völlig überforderten Vater und wünschte ihm alles Gute. Er saß auf der Anklagebank wie ein Häufchen Elend.
Auf der Klägerbank thronten siegessicher drei Mitarbeiter des Jugendamtes mit einem Stapel an Unterlagen. Natürlich bekamen sie Recht – in Abwesenheit von Jessica(!). Die durfte aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen bzw. zu Wort kommen. Sie habe sich am Vortag erkältet. Und das, obwohl der Vater am Vortag noch bei ihr war und nichts bemerkte.
Als er zum Auto zurückging und Jessica zuwinkte, kam sie ihm hinterhergelaufen und wollte mit nach Hause fahren. Da ging in Windeseile eine Betreuerin dazwischen und hielt sie fest. Dem Vater warf sie einen bösen Blick zu mit den Worten: „Das wird aber nicht noch einmal passieren ...“ Mit anderen Worten, Jessica wurde gegen ihren Willen festgehalten.
Wie ging die Sache aus? Jessica machte Stress im Heim, aß nichts und wiederholte unter Tränen, sie habe doch die Geschichte mit ihrem „bösen Opa“ nur erfunden. Die Familie zahlte die Gebühren nicht, und ich selbst drohte damit, den Fall publik zu machen.
Einen Monat später wurde Jessica zu Hause abgeliefert. Man habe sich wohl geirrt, so die Stellungnahme des Amtes. Der Vater wurde arbeitsunfähig aufgrund der Traumatisierung. Jessicas Opa erlitt einen Herzinfarkt, zum Glück nur einen leichten, die Oma hat bis heute Herzprobleme und muss starke Medikamente nehmen. Die Nachbarin ist außer sich vor Wut und brauchte ebenfalls eine Therapie bzw. Betreuung.
Hätte ich den Fall nicht persönlich miterlebt, ich hätte es nicht geglaubt. Doch es war nicht der letzte Fall dieser Art, den ich zu Ohren bekam. Als ich mich mit einem Rechtsanwalt hierüber unterhielt, erzählte er mir von Fällen, die noch unglaublicher sind. Ich realisierte, dass viele Menschen das Jugendamt nicht anzweifeln, eben davon ausgehend, diese Einrichtung sei eine gute Sache. Geschädigte oder verärgerte Eltern würden sicher nur Schutzbehauptungen aufstellen, um ihren Ruf zu wahren. Nein, das Jugendamt mache keinen Fehler, so die Meinung vieler.
Solche Fälle mag es geben; wenn aber ein großes Jugendamt (12 Mitarbeiter) nur aufgrund indirekter Rede einer Mitschülerin ein Gerücht aufgreift, ohne Hinterfragen, ohne genaue Analyse des Falls, ohne Gespräch mit der Familie das Kind einfach mitnimmt – und das ist kein Einzelfall – dann ist das Kindesentführung. Doch darum geht es mir nicht. Es geht mir um das psychische Leid der Familie, die mit all dem fertigwerden muss, und zwar mit dem Autoritätsmissbrauch der Beamten, der irreparablen Rufschädigung im Umfeld, dem Kontaktverlust zum Kind, dem Angriff und Eingriff in die Privatsphäre, den Sorgen um die Zukunft des Kindes und so weiter.
Man bedenke, dass psychosomatische Erkrankungen bei Heranwachsenden (ADHS, Ängste, Inkontinenz, Depressionen und Essstörungen) so sehr zugenommen haben in Deutschland, dass Wartezeiten bis zu sechs Monaten bei Psychologen normal sind.
Kognitive Störungen und Anormalitäten nehmen laut Pressemitteilungen diverser Verbände ebenfalls drastisch zu, was m. E. mit dem Einfluss von Social Media, der Belastung durch Schulstress sowie dem Wegfall von Liebe und Warmherzigkeit in unserer Gesellschaft zusammenhängt. Es wäre falsch, die Eltern als Sündenbock zu deklarieren bzw. vorschnelle Schlüsse zu ziehen.
Im Nachhinein erfuhr ich von Jessica, man habe alles getan, um ihr den Aufenthalt im Heim schmackhaft zu machen. Täglich habe man auf sie eingeredet, dort sei es doch viel schöner als bei den „bösen Großeltern“. Wenn psychologisch geschulte Mitarbeiter einer Behörde ihre moralische Grenze überschreiten, um an Gelder für ihre Einrichtung zu kommen, so meine Vermutung, zu was sind dann Regierende fähig, um an der Macht zu bleiben, schoss es mir durch den Kopf. Doch darüber sollen andere schreiben.
Ich konnte das Schlimmste verhindern, indem ich der Familie erklärte, der Angriff sei karmisch bedingt. Zusätzlich beschwor ich die Oma, für ihre Enkelin zu beten, und dass Jessica ihre Dummheit sicher bald einsehen und gestehen würde, was sie dann auch tat. Zusätzlich schaltete ich eine Heilpraktikerin ein, die der Familie homöopathisch weiterhalf. Heute liegt die Erfahrung wie ein böser Traum zurück, doch die Spuren sind nicht ganz verheilt.
Im Nachhinein bin ich froh, den Großeltern und der Nachbarin von Jessica Glauben geschenkt zu haben statt mich vom Vorgehen des Amtes blenden zu lassen. Das allein hatte ihnen Kraft gegeben. Und diese Kraft brauchen Opfer in solchen Fällen, wollen sie nicht daran zerbrechen, egal wer oder was nun der Auslöser war.
Wir alle haben schwierige Phasen in unserer Jugend durchlebt, sind an die Grenzen unserer Zuversicht in die Welt der Erwachsenen gestoßen, hatten Zweifel über den Weg, den man uns auferlegt hat, wussten oft nicht weiter, rebellierten und hofften, irgendwann mal unseren Traum ausleben zu können, unsere Ziele verfolgen zu können, die doch so anders waren als das, was die Gesellschaft uns vorgab.
Dass es in dieser Phase zu Reibungen kommt mit Familie, Schule und Gesellschaft, ist nur natürlich. Inmitten der Konflikte zwischen äußerer und innerer Welt brauchen Betroffene einen Freund, einen Zuhörer, einen Kraftgeber, Liebe und Verständnis, und nicht das Entreißen aus dem familiären Umfeld, nicht das Konfrontieren mit Gesetzen, Paragrafen und Behörden.
Unsere Welt ist voll von „Jessicas“, voll von überforderten Eltern. Eine herzbetonte, wohlwollende Beratung kann in manchen Fällen das Einschreiten des Amtes verhindern. Jedenfalls sollten wir solche Tragödien ernst nehmen, da sie zur Traumatisierung aller Beteiligten führen können.
Prof. h. c. Manfred Krames
Praxis für seelische Gesundheit in Trier
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