Pädagogische und therapeutische Sicht auf dissoziale Persönlichkeiten
Der klinische Psychologe und Psychoanalytiker Prof. Udo Rauchfleisch aus der Schweiz summiert seine Erfahrungen in einer zentralen Aussage: „Erleben Kinder defizitäre Lebensumstände, kann dies dazu führen, dass sie ihr Ich nicht richtig entwickeln können.“
Dies kann bei Jugendlichen oder jungen Erwachsenen Narzissmus, aber auch Einschränkungen des Über-Ich nach sich ziehen. Zusätzlich ist das Einfühlen in Menschen eingeschränkt oder kaum vorhanden. Das kann zu gewalttätigem, aggressivem oder dissozialem Verhalten und Störungen in der Persönlichkeit führen.
URSACHEN DISSOZIALER PERSÖNLICHKEITEN
Aus psychologischer Sicht betrachtet Rauchfleisch die möglichen Ursachen für Dissozialität bei Jugendlichen und kommt zu dem Schluss: In frühester Kindheit oder auch zu späteren Zeitpunkten haben Täter schwerwiegende Verlust- und Mangelerfahrungen erlitten. Diese Aussagen belegt Rauchfleisch mit Daten von dissozialen Persönlichkeiten aus verschiedenen Institutionen. Ihre Psyche erleidet
Verletzungen, welche für Störungen des Ich sorgen. Eine dissoziale Persönlichkeitsstörung geht einher mit fehlendem Schuldgefühl, kaum vorhandener Empathie, die Impulskontrolle weist Störungen auf, zudem werden fast alle sozialen Regeln ignoriert und damit nicht eingehalten, was aus dem nicht ausgeprägten Über-Ich heraus resultiert1). Infolge der Verlust- und Mangelerfahrungen in den ersten Lebensmonaten und Jahren wird kein Urvertrauen aufgebaut, was ein starkes Misstrauen entstehen lässt. Dies wiederum hat einen oral-aggressiven Kernkonflikt und ein Sehnsuchts-Angst-Dilemma zur Folge.
Bei der Einordnung der Persönlichkeits- oder Verhaltensstörungen sollte nicht nur auf die Desintegrationserfahrungen eingegangen, sondern auch die zeitliche Lebensphase, in der sich das Kind, der Jugendliche oder junge Erwachsene befindet, berücksichtigt werden (siehe Phasen der Triebentwicklung und Ausbildung des Ich nach Freud und Erikson). Auch die Beziehungen zu Bezugspersonen sollten in die Einordnung der Verhaltens- oder Persönlichkeitsstörung und Diagnosen einfließen. Vielen Menschen ist es bekannt und für sie auch nachvollziehbar, dass bei einer fehlenden Vaterrolle im Leben eines Kindes, dies zu psychischen Entwicklungsstörungen in der ödipalen und der Werksinn-Phase führen kann – nach Erikson, aber auch bei Freud thematisiert1).
Verantwortung wird häufig abgelehnt.
Narzissten können mit Zurück- weisungen, Enttäuschungen oder Verletzungen schlecht umgehen.
WAS KENNZEICHNET DISSOZIALE PERSÖNLICHKEITEN
Jugendliche mit dissozialen Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen weisen eine verzerrte Wahrnehmung auf. Sie können ihre Gefühle nicht richtig empfinden, einordnen oder regulieren. Da sie aus schwierigen Familienverhältnissen stammen, haben sie nicht gelernt, sich mit Personen situationsangemessen auseinanderzusetzen, dadurch kann es zu gewalttätigem Verhalten schon bei kleinen Problemen kommen. Wenn freundliche Menschen auch mal mit ihnen schimpfen, wirft sie dies direkt aus der Bahn und sie kommen mit der Situation und der Verhaltensänderung der Bezugspersonen nicht klar. Ein weiteres Problem ist die Idealisierung oder die Entwertung von Menschen. Oft fehlt den Jugendlichen eine realistische Einschätzung von einer anderen Person und der Beziehung, in der sie zueinanderstehen. Dies führt dazu, dass sie Erwartungen an die Menschen oder die Beziehung stellen, die diese Personen nicht erfüllen können.
Was ihre eigene Persönlichkeit angeht, so haben sie auch hier ein verzerrtes Selbstbild und schätzen dadurch ihre Möglichkeiten falsch ein. Sie weisen eine narzisstische Störung auf. Sie sind auf der einen Seite sehr von sich überzeugt, auf der anderen Seite findet eine Selbstentwertung statt. Alles, was diese Persönlichkeiten an sich nicht ertragen können, projizieren sie auf andere und bekämpfen dies.
Rauchfleisch spricht dissozialen Persönlichkeiten keine Gewissensinstanz ab, aber er geht davon aus, dass diese von entwertenden bis hin zu grausamen Einstellungen beeinflusst ist. Die innere Leere kompensieren diese Menschen oft durch Drogen, Alkohol oder Spielsucht, da ihnen richtige Beziehungen und Liebe im Leben fehlen1).
THERAPEUTISCHE METHODEN FÜR DISSOZIALE PERSÖNLICHKEITEN
Bifokales Behandlungsmodell: Der Vorteil dieser Methode ist, dass die Behandlung sowohl auf die psychische Störung als auch auf die sozialen Probleme abzielt. Dadurch erhalten die Täter eine psychotherapeutische, soziale und sozialpädagogische Behandlung. Wichtig hierbei ist, dass die einzelnen Institutionen und die Kollegen in einer Einrichtung kommunizieren und sich abstimmen. Ansonsten kann es passieren, dass unterschiedlich behandelt wird, die Klienten verwirrt sind und dadurch die Behandlung nicht funktioniert. Rauchfleisch bevorzugt ein Salutogenese-Konzept und nicht das der Pathogenese. Dabei soll nach intakten Persönlichkeitsmerkmalen gesucht werden, um diese zu fördern sowie innere Stärke und Ressourcen aufzubauen und zu entwickeln.
Die familiären und sozialen Probleme stellen oft die Ursache der Persönlichkeits- und Verhaltensstörung dar. Aus diesem Grund ist es sehr bedeutsam, dass diese zuerst benannt und angegangen werden. Zuerst nur Psychotherapie anzuwenden, wäre nicht sinnvoll. Verglichen wird dies mit einem Arzt, der bei seinem Unfallopfer nicht zuerst die körperlichen Verletzungen versorgt, sondern sich nach psychischen Hintergründen des Unfalls erkundigt.
Anstatt den Täter zu bestrafen, stehen bei diesem therapeutischen Ansatz das Grenzen-Setzen im Vordergrund. Die Klienten werden langsam an die Wirklichkeit herangeführt. Dies ist für viele dissoziale Persönlichkeiten nicht einfach, da sie sich mit sich selbst, ihrem Umfeld und ihrer Umwelt auseinandersetzen müssen. Hierbei gilt es zu beachten, dass narzisstische Persönlichkeiten mit Zurückweisungen, Enttäuschungen oder Verletzungen nicht gut umgehen können. Dies gilt es aufzufangen, deeskalierende Methoden der Gesprächsführung zu nutzen und die Klienten sich sportlich verausgaben zu lassen, z. B. durch Laufen oder Boxen am Sandsack1). Diese Regulierungsmechanismen sollten für den Patienten festgehalten werden, ihnen schriftlich ausgehändigt und regelmäßig gefestigt und geübt werden – bis die Klienten diese eigenständig bei Zurückweisung abrufen können und sich so selbst in der jeweiligen Situation regulieren können.
Auch Vertrauensübungen bieten sich an, um dieses zu wecken und zu stärken. Gerade in Kleingruppen gibt es mehrere Methoden im sportlichen Bereich, wie den „Vertrauensfall“ oder den „Gordischen Knoten“.
Aus den Erkenntnissen von Rauchfleisch ergibt sich die Überlegung, die auch im Unterricht praktisch und erfolgreich umgesetzt wurde, dass den Kindern und Jugendlichen ein Verhaltensrahmen hilft, wenn sie durch die elterliche Erziehung kein ausgebildetes Über-Ich aufweisen. Wenn Lehrkräfte oder andere Bezugspersonen ihnen erklären und aufzeigen, welches Verhalten von ihnen erwartet wird, können sie es ganz leicht umsetzen, lernen und eigenständig anwenden. Dadurch gibt es kaum noch Verhaltensauffälligkeiten und Konflikte zwischen Schülern und Lehrkräften. Die Entwicklung und die Lernleistungen der Schüler werden gesteigert und das Klassenklima verbessert sich. Wichtig hierbei ist, den Schülern zu helfen, ihre eigene Persönlichkeit zu stabilisieren, eine Gewissensinstanz aufzubauen, das situationsangemessene Verhalten zu lernen, den Umgang mit erwachsenem Personal und Mitschülern zu schulen. Auch Konfliktaustragungen sollten ihnen näher gebracht werden und langsam ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden, was von gegenseitigem Respekt und Wertschätzung geprägt ist.

Sina Guettaf
Pädagogin, Sportwissenschaftlerin, Buchautorin
Sina Guettaf: Die Stärke in mir. united p.c. Verlag
Literatur
1) Udo Rauchfleisch: Begleitung und Therapie straffälliger Menschen. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag