Paradigmenwechsel in der Psychotherapie
ENTWICKLUNGEN DER PSYCHOTHERAPIE IN DEN LETZTEN 80 JAHREN
Ein Paradigma ist eine grundsätzliche Denkweise. In den letzten Jahrzehnten hat in der Psychotherapie ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Das war der Wechsel vom Erkunden der lebensgeschichtlich orientierten Suche nach den Ursachen einer Störung hin zum Verständnis, was ein Mensch tut, um seine Störung erst zu erzeugen und dann aufrechtzuerhalten.
KI schafft nichts Neues, sie trägt nur Terrabyte von exis- tierenden Informationen zusammen.
So ein Wechsel geht los mit einem kurzen
Einblick in die Geschichte von Begriffen, die die Welt und alles, was darin enthalten ist, beschreiben, all inclusive. Und unter allem, was in dieser Geschichte enthalten ist, kommen auch wir Menschen mit unseren Stärken und Schwächen vor. Die zu verstehen ist notwendig, damit wir uns selbst verstehen. Damit wir die gleiche Sprache sprechen, das Gleiche meinen. Es folgen Beispiele über mögliche Paradigmen. Sehr interessant für den, der an den Hintergründen unseres Fachs und auch an den historischen Entwicklungen interessiert ist. Ich bin es.
SCHAMANISTISCHE SICHTWEISE: DIE WELT IST EIN BESEELTES WESEN
Diese Sichtweise auf die Welt und die darin enthaltenen Menschen hat uns niemals wirklich verlassen: die gekreuzten Finger; Spiegelbilder der Magie; Bilder, welche die Welt, in der wir leben, als beseelt betrachten. Die Ansicht, die Welt hat einen Untergrund, der für unsere 39 Sinnesorgane unzugänglich ist und auf der Annahme beruht, dass wir einer Vielzahl von Kräften ausgesetzt sind, die nur wortreich zu erklären sind – wie Reinkarnation; Trancezustände, die wir zu therapeutischen, also heilenden Zwecken nutzen; Nahtoderlebnisse; unerklärliche Wirkkräfte, die das stillschweigende Einverständnis des Kommunikationspartners voraussetzen, und wenn es der Ball zum Freischuss ist; eine Welt, die uns mit natürlichen Ressourcen versorgt hat und sich mehr oder weniger um uns kümmert, Mutter Erde etc. Die linke Hemisphäre unseres Gehirns widerspricht dieser Sichtweise, und die gesamte Erfahrung deutet darauf hin, dass wir uns in diesem Widerspruch verlaufen haben. Erfahrungen widersprechen dieser Sichtweise, und so haben wir uns verirrt in uns selbst. Was „richtig“ ist, weiß heute keiner mehr, und selbst die Physiker können uns keinen Aufschluss mehr geben: Lebt Schrödingers Katze oder ist sie tot?
SOMATOGENETISCHE SICHTWEISE: DIE WELT BESTEHT AUS ATOMEN
De rerum naturae, eine Welt aus Atomen (Lukrez) und der griechische Arzt Hippokrates (460-370 v. Chr.) lehren eine ganz andere Sichtweise. Sie sagen, alles ist irgendwie beschreibbar, wir wissen nur noch nicht alles, es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. „Wenn das, was du tust, nicht funktioniert, tue irgendetwas anderes.“ Mikroorganismen wurden erst vermutet und dann nachgewiesen. Die Anamnese, die körperliche Untersuchung, immer feiner werdende Methoden, das Blutlabor, das aus den Körpersäften resultierte, und die bildgebenden Verfahren bestätigen diesen Blick auf den Menschen bis zu dem Moment, wo sich ein heimliches „irgendwie doch noch nicht“ über die Hintertür einschleicht.
Ein Problem bis heute ist, dass sich diese beiden Sichtweisen gegenseitig auszuschließen scheinen und die leidvolle Frage aufkam: Wer hat denn nun Recht?
PSYCHODYNAMISCHE SICHTWEISE: DER MENSCH IST ZUR SELBSTREFLEXION FÄHIG
Platon (424-347 v. Chr.) sagte in diesen Streit hinein, dass der Mensch zur Selbstreflexion fähig und diese rein materielle Blickweise unzureichend sei. Hunger, Durst und Sex sind alltägliche Erfahrungen, aber das Streben nach materiellem Reichtum habe die Aufgabe, die Versorgung damit sicherzustellen. Eine immaterielle Instanz hielt Einzug: die Vernunft, die uns lehrt, wir können zwar Mutter Erde die Haare vom Kopf fressen, aber dann stehen wir bald ungeschützt auf der Welt. Wettstreit und Kampf sind die Folge, bei denen es auf lange Sicht nur Verlierer gibt. An dieser weltgeschichtlichen Stelle hat sich Sigmund Freud (1856-1939) in den Streit der Ideen eingemischt: Bis zum Schluss war für ihn die zentrale Treibkraft die Sexualität, die uns umtreibt. „Es“ ist die primäre Triebkraft, „Über-Ich“ hält uns per Erziehung im Zaum, und das „Ich“ vermittelt mehr oder weniger funktional zwischen diesen beiden Kampffronten: einerseits Rammstein, andererseits die christliche Ethik.
Wenn das, was du tust, nicht funktioniert, tue etwas anderes.
LERNTHEORETISCHE SICHTWEISE: DER MENSCH ALS DIE SUMME SEINER ERFAHRUNGEN, ERLERNTER REAK- TIONSMUSTER UND ERBANLAGEN
Nachdem Hermann von Helmholtz (1821-1897) sich mit einem so anspruchsvollen Begriff wie „Reizleitungsgeschwindigkeit“ in diese Diskussion eingemischt hatte, war der nächste Schritt der Entwicklung nicht mehr aufzuhalten. Ein neuer Begriff, der hinzugegeben wurde, war der Begriff des Bewusstseins. Die Elektroenzephalographie wurde den Menschen auf den Kopf gesetzt, und gegen ihre Ergebnisse war nichts zu sagen, man konnte es ja sehen. Die Innenwelt wurde zu einer nachweisbaren Außenwelt. Die Nachweisbarkeit bekam eine hohe Wertschätzung, der bis heute eigentlich nur noch die Philosophie widersteht. Die Psychologie selbst kam in den Verruf, esoterisch zu sein. Ihren Platz sollten die Physik und die Chemie einnehmen. Als sich dann auch noch die Genetik eingemischt hatte, ein anfangs schmaler Nebenzweig, waren alle bisherigen Erklärungsansätze für den Menschen hinfällig geworden. Wer es so nicht einsehen wollte, war von mangelhafter Introspektion geschlagen. Die Einflussfaktoren: Lernen aus Reiz-Reaktions-Mustern und Genetik. Das wars. Alles Weitere ist vorhersagbar. Die Behavioristen hatten die Arena betreten: Verhalten, so sagen sie, ist vorhersagbar und kontrollierbar, die Reiz-Reaktions-Muster des Iwan Pawlow sind beschreibbar. Die Blackbox bleibt dabei verschlossen und den Spinnern zugänglich. Der Chauvinismus, der bis heute noch sagen darf, „ich bin besser als du“, betrat eine Kampfbahn, deren Ereignisse wir heute in den sozialen Medien beobachten können. Belohnung und Bestrafung wurden kindisch: Aufmerksamkeit, die nicht zu befriedigen ist.
KOMMUNIKATIONSTHEORIE: DIE WECHSELWIRKUNGEN DER INDIVIDUEN INNERHALB VON SYSTEMEN
Das war zunächst noch und ist bis heute ökonomisch orientiert: Wer kriegt das meiste Geld und damit die meisten potenziellen Geschlechtspartner. Karl Marx stellte sich nebenbei als Humanpsychologe heraus, der Reiz-Reaktions-Muster auf den Fluss von Geld übertrug. Computergenerierte Bewegungsmuster konnten sich selbst organisieren, fragen Sie Ihren PC-Fachmann. So wurde es möglich, Atombomben zu entwickeln, die uns Menschen an den Rand der Selbstvernichtung tragen. Vor deren Toren stehen wir, oder? Der Begriff „Künstliche Intelligenz“ führte alle bisherigen Definitionen von Intelligenz ins Absurde, bis Noam Chomsky fragte, ob wir das noch
Ein Paradigma ist eine grundsätzliche Denkweise.
intelligente Software, KI, nennen sollten und nicht eher Plagiatssoftware. Sie schafft ja nichts Neues mehr, sondern trägt nur noch Terabyte von bereits existierenden Informationen zusammen, mischt sie ordentlich durch und sagt: Hier! Was Neues! Was es aber nicht ist. Inspiration findet da nicht mehr statt, der Musiker Frank Zappa spielt da nicht mehr mit auf seiner E-Gitarre. Der Blick auf psychische Erkrankungen veränderte sich erneut, und der Raum dafür wurde weit: auf ein überkomplexes Netzwerk von Beziehungen.
VERÄNDERUNGSWIRKSAME THERA-PEUTISCHE KOMMUNIKATION
Die Kriege und gewaltsamen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in den späten 1960er- und 1970er-Jahren machten eine Veränderung der Kommunikation wie der therapeutischen Ansätze notwendig. Bis heute bekannte Namen tauchten auf: Carl Rogers, Richard Bandler, Milton H. Erickson, Virginia Satir, Gregory Bateson, Fritz Perls, Margret Mead, Noam Chomsky … Neue therapeutische Richtungen entwickelten sich und wurden weiterentwickelt: Encounter-Gruppen, Körperarbeit, Familien- und Gestalttherapie, Arbeit mit und in Trance, Bioenergetik … Alte Dogmen zerbröselten, alte Glaubensrichtungen verloren an Relevanz und neue entstanden. Welthistorisch betrachtet: In Vietnam körperlich und seelisch traumatisierte Kriegsheimkehrer lösten viele überkommene und als wirkungslos erkannte Strukturen auf.
Die Orte dieser Veränderungen waren Universitäten, in denen neue Institute und Institutionen gegründet wurden, in Palo Alto das Mental Research Institute, die interdisziplinären Begegnungsstätten in Esalen, neue Ideen und Arbeitsweisen wurden entwickelt, und was sich als besonders verblüffend herausstellte: Neue Sprachmuster führten zu neuen Ergebnissen. Die Ideen und neuen Konzepte vermehrten sich drastisch. Ihre Spuren erkennen wir im Alltag. „Wenn das, was du tust, nicht funktioniert, tue irgendetwas anderes“: Dieser Satz war noch nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Wieder historisch betrachtet war das erklärbar, unter anderem durch die Größe, die der Vater der Psychoanalyse erlangt hatte. Um diese Persönlichkeiten soll es in den nächsten Teilen dieser Serie über wichtige Veränderungen in der Psychotherapie gehen, denn bis heute gibt es die Fraktion, die den Planeten Erde als einen lebenden Organismus betrachtet, uns Menschen einen neuen Platz zuweist und gute Argumente anbietet.
All dies ist lehrreich: Wir sind noch lange nicht am Ende. Werden es moderne Psychopharmaka sein oder brauchen wir doch einen neuen Umgang mit der Welt, in der wir leben?

Literatur Wolfgang Walker: Abenteuer Kommunikation. Klett-Cotta Verlag

Thomas Schnura
Psychologe M.A., Heilpraktiker, Dozent der Paracelsus Gesundheitsakademien