Tabuthemen in der Psychologischen Beratung Grenzen erkennen, Beziehung erhalten
Psychologische Beratung und psychotherapeutische Begleitung führen uns häufig an die Ränder dessen, was für unsere Klienten, aber auch für uns als Therapeuten und Berater noch sagbar, fühlbar und innerlich haltbar ist. In der Tiefe vieler Anliegen begegnen wir Themen, über die oft selbst im engsten privaten Umfeld nicht gesprochen wird.
Gerade Inhalte wie sexualisierte Gewalt, Suizidgedanken oder ungewöhnliche sexuelle Vorlieben bringen nicht nur Scham, Schuld oder Angst mit sich. Sie berühren auch uns auf einer emotionalen Ebene, die unsere professionelle Haltung auf die Probe stellt.
Tabuthemen konfrontieren uns mit existenziellen Fragen und bringen häufig persönliche und fachliche Grenzen ins Bewusstsein. Sie erfordern von uns nicht nur ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, sondern auch die Fähigkeit, mit der eigenen inneren Reaktion reflektiert und verantwortungsvoll umzugehen. Dieser Beitrag beleuchtet den achtsamen Umgang mit Tabuthemen in der beraterischen Praxis und warum insbesondere Selbstreflexion, ein klarer innerer und äußerer Rahmen sowie professionell gesetzte Grenzen essenzielle Voraussetzungen für tragfähige, heilende Beziehungen sind.
WAS MACHT EIN THEMA ZUM TABU?
Es wird dann zum Tabu, wenn es mit intensiven Gefühlen besetzt ist, die gesellschaftlich, kulturell oder persönlich als „nicht erlaubt“ oder „unangemessen“ empfunden werden. In der Beratung begegnen wir häufig Tabuinhalten, die sowohl bei Klienten als auch bei uns selbst starke emotionale Reaktionen hervorrufen können. Dazu zählen: - Erfahrungen sexualisierter Gewalt
- Suizidgedanken ohne Veränderungsabsicht
- Gewalt- oder Tötungsfantasien
- extreme sexuelle Praktiken (z. B. BDSM, Würgen, Erniedrigung) - Pädophilie oder der Wunsch nach Macht über andere - menschenverachtende oder politisch extreme Aussagen
Diese Themen rühren oft an eigene biografische Erfahrungen oder kulturell tief verankerte Werte. Sie können Gefühle von Unsicherheit, Ekel, Wut, Irritation oder Rückzugstendenzen in uns auslösen. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, zu glauben, professionelle Helfende müssten „alles aushalten“. Vielmehr ist es
eine wichtige Kompetenz, die eigenen Grenzen zu erkennen und die damit verbundenen Emotionen ernst zu nehmen, ohne sie unreflektiert in die Beziehung einwirken zu lassen.
Professionelles Handeln beginnt genau dort, wo wir bereit sind, innezuhalten, unsere Reaktionen wahrzunehmen, zu reflektieren und in einen achtsamen, begleiteten Prozess zu überführen.
ZWISCHEN TRAUMA UND SEXUALITÄT – EINE FALLSTUDIE
Eine Klientin berichtete im Gespräch, dass sie nur sexuelle Erregung empfinde, wenn sie beim Geschlechtsverkehr gewürgt werde. Diese Vorliebe verband sie mit einem Missbrauchserlebnis in ihrer frühen Kindheit. Während sie sprach, war sie sehr offen, doch zwischen den Zeilen war eine tiefe Scham spürbar, die ihre Worte durchzog.
Als Psychologischer Berater bemerkte ich eine innere Spannung in mir: Irritation, ein Gefühl der Überforderung, vielleicht auch eine unterschwellige Angst, „etwas falsch zu machen“. Ich habe diese Reaktion nicht verdrängt, sondern bewusst mitgenommen in die Supervision, in die persönliche Reflexion. Denn nur, wenn ich meine eigene Reaktion wirklich verstehe und regulieren kann, bleibe ich der Klientin gegenüber präsent, wertschätzend und innerlich aufgeräumt.
Etwas wird zum Tabu, wenn es als verboten empfunden wird.
Dieses Beispiel zeigt exemplarisch, wie wichtig es ist, bei Tabuthemen nicht vorschnell mit Deutung, Distanz oder moralischer Bewertung zu reagieren. Erst das bewusste Halten der eigenen Grenzen ermöglicht eine offene, sichere und tragfähige Beziehung.
GRENZEN SCHÜTZEN BEZIEHUNG UND QUALITÄT
Viele Psychologische Berater und Heilpraktiker für Psychotherapie bewegen sich in einem beruflichen Selbstverständnis, das von hoher Empathie, Offenheit und Hilfsbereitschaft geprägt ist. Diese Qualitäten sind wertvoll, doch sie bergen auch Risiken. Wer glaubt, alles aushalten zu müssen, überschreitet oft die eigene seelische Belastungsgrenze mit subtilen, aber spürbaren Folgen für die Beratungsbeziehung.
Nicht selten entstehen aus dieser Überforderung heraus - emotionale Distanziertheit
- ein vorschneller Themenwechsel
- unbewusste Abwertung des Gegenübers
- das Gefühl, „nicht mehr richtig da“ zu sein Grenzen zu setzen bedeutet nicht, sich einem Thema zu verschließen oder es zu verurteilen. Es bedeutet, einen bewussten Rahmen zu schaffen, in dem sowohl die Klienten als auch wir selbst psychisch sicher bleiben können. Eine ehrlich kommunizierte Grenze z. B. durch das Ansprechen eigener Unsicherheit oder die bewusste Entscheidung zur Supervision wirkt beziehungsstabilisierend. Sie signalisiert: Ich nehme das ernst, was Sie sagen – und ich übernehme Verantwortung für mein professionelles Handeln.
FETISCHE ALS AUSDRUCK TRAUMATISIERTER SEXUALITÄT
Ein besonders sensibles Feld innerhalb der Tabuthematik ist die Sexualität, insbesondere dann, wenn sie durch traumatische Erfahrungen geprägt wurde. Klienten, die in ihrer Kindheit oder Jugend sexualisierte Gewalt erlebt haben, berichten nicht selten von sexuellen Vorlieben oder Fantasien, die sie selbst als „abweichend“, „verstörend“ oder sogar „krank“ empfinden. Oft geht es dabei um bestimmte Fetische, etwa solche, die mit Schmerz, Macht oder Unterwerfung verbunden sind.
Diese Ausdrucksformen sind jedoch nicht einfach „unnormal“ oder pathologisch, sondern können eine wichtige psychodynamische Funktion erfüllen: - Kontrolle zurückgewinnen des sexuellen Erleben
- Wiederholung eines traumatischen Geschehens in einem kontrollierten Rahmen - Dissoziation vom eigenen Körper oder Empfinden
- Regulation innerer Spannungszustände Gerade in solchen Fällen ist es essenziell, einen urteilsfreien Raum anzubieten, in dem auch die ambivalenten, schambesetzten Seiten von Sexualität ihren Platz haben dürfen. Die Gefahr besteht andernfalls darin, dass Klienten sich erneut ausgegrenzt, beschämt oder pathologisiert fühlen, was die bestehende innere Zerrissenheit noch verstärken kann.
PROFESSIONELLE HALTUNG STATT VORSCHNELLE REAKTION
In der Arbeit mit Tabuthemen ist innere Stabilität wichtiger als emotionale Abgrenzung. Es geht nicht darum, keine Gefühle zu haben, sondern darum, mit diesen bewusst umgehen zu können. Eine professionelle Haltung bedeutet:
- Präsenz zu zeigen, selbst wenn es emotional eng wird
- Mitgefühl zu leben, ohne sich im Erleben des Gegenübers zu verlieren
- Grenzen zu achten, ohne in Abwehr oder Ablehnung zu verfallen
- Verantwortung zu übernehmen, wenn das eigene Fachwissen oder die emotionale Kapazität nicht ausreichen
Nicht alles müssen oder können wir alleine auffangen. Es ist ein Zeichen von Professionalität, eine Supervision in Anspruch zu nehmen, sich mit Kollegen auszutauschen oder wenn notwendig die Klienten an spezialisierte Stellen weiterzuleiten.
FAZIT
Tabuthemen stellen uns als Psychologische Berater und Heilpraktiker für Psychotherapie vor besondere Herausforderungen. Sie fordern unsere fachliche Kompetenz, unsere emotionale Belastbarkeit und die Fähigkeit, uns selbst ehrlich zu begegnen. Sie sind Prüfsteine für das, was wir als innere Haltung mitbringen: Achtsamkeit, Authentizität, Klarheit und Mitmenschlichkeit.
Gerade dort, wo Schweigen, Scham und Unsicherheit den Raum dominieren, können wir einen Unterschied machen, nicht durch absolute Souveränität, sondern durch unsere Bereitschaft, zuzuhören, zu halten und in Beziehung zu bleiben. Denn echte Veränderung beginnt oft genau dort, wo wir gemeinsam den Mut finden, Tabus zu benennen, ohne sie zu brechen, aber mit dem Willen, sie zu verstehen.
Ich nehme alles ernst, was Sie sagen.
Ralf Prickartz
Psychologischer Berater mit Praxis in Köln, Dozent der Paracelsus Gesundheitsakademien