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Irgendwann fängt es in der Tiefkühltruhe an zu tauen

fotolia©Tim URUnverarbeitete Traumata holen jeden Menschen ein – es ist nur die Frage, wann?

Die Zahl älterer Menschen, die sich hilfesuchend an Therapeuten wendet, wächst. Das liegt vor allem an der veränderten gesellschaftlichen Einstellung zu psychischen Einschränkungen, die es auch Senioren erlaubt, sich Unterstützung zu holen.

Dr. Werner Weishaupt, Präsident des VFP, begrüßt die Bereitschaft älterer Menschen, sich ihren seelischen Verletzungen zu stellen und sie zu bearbeiten: „Dazu ist es buchstäblich fast nie zu spät. Bleiben Traumata unverarbeitet, kommen sie irgendwann wieder an die Oberfläche, und wenn es am Lebensende ist.“

Es ist das natürliche Bestreben der menschlichen Psyche, Erlebnisse zu verarbeiten, sie sozusagen „rund“ zu bekommen, um mit ihnen abschließen zu können.

Werner Weishaupt: „Wenn das gelingt – etwa nach einer Trennung – verschwindet das Thema nach und nach aus dem bewussten Denken und den Träumen. Es spielt dann keine Rolle mehr und ist verarbeitet.“

Ist es der Seele aber nicht möglich, ein Erleben zu verarbeiten, weil es zu tief greifend oder zu schrecklich war, wird das Thema in die, wie es Werner Weishaupt nennt, „psychische Tiefkühltruhe“ im Keller gepackt – vorerst: „Das Geschehen ist weder verarbeitet noch verschwunden. Aber es nervt nicht mehr.“

Und das darf es auch nicht, denn in den ersten 10 bis 15 Jahren des Erwachsenseins ist das Leben auf das Erreichen grundlegender Ziele (berufliche Sicherung, Partnerwahl und Familiengründung, Schaffen wirtschaftlicher Grundlagen) ausgerichtet. Ist diese Phase abgeschlossen, kommt es bei vielen Menschen scheinbar aus dem Nichts zu psychischen Auffälligkeiten:

„Depressionen und Angststörungen entstehen auffallend häufig bei Menschen zwischen 30 und 35 Jahren“, sagt Dr. Weishaupt aus Erfahrung aus der eigenen Berufspraxis. „Job, Familie, Leben haben sich stabilisiert, alles läuft mehr oder weniger solide, die Seele hat wieder Kapazitäten und versucht, böse alte Geschichten zu verarbeiten.“

Eine zweite Häufung im Auftreten psychischer Störungen liegt in den mittleren 50er-Jahren des Menschen. Parallel zur Midlife-Crisis, die, kurz gesagt, aus einer Irgendwann fängt es in der Tiefkühltruhe an zu tauen Unverarbeitete Traumata holen jeden Menschen ein – es ist nur die Frage, wann? kritischen Zwischenbilanz heraus entsteht, herrscht eher Ruhe im Leben – die Kinder sind aus dem Gröbsten raus, die Scheidung ist bewältigt, der eigene Karriereplan sieht keine großen Sprünge mehr vor. Das gibt der Psyche aufs Neue die Gelegenheit, die symbolische Tiefkühltruhe im Seelenkeller zu öffnen und mit den Teilen darin zu hantieren.

Die Psyche spürt längst: Immer mehr Energie wurde verbraucht, um die erforderlichen Minusgrade aufrechtzuerhalten. Energie, die der aktuellen Lebensbewältigung nicht zu Verfügung steht. Und deshalb möchte sie aufräumen und ausmisten.

„Egal in welchem Alter – jeder Mensch, in dessen Seelenleben etwas nicht rundläuft, ist gut beraten, sich Hilfe zu holen“, mahnt Werner Weishaupt. „Einerseits gibt die Seele keine Ruhe. Kann sie auch nicht, so ist sie nicht ausgelegt. Und zum anderen ist die Überzeugung, bei einem älteren Menschen würde eine Psychotherapie ohnehin nichts mehr bringen – auch wissenschaftlich längst überholt.“

Denn ganz sicher funktioniert die Tiefkühltruhe irgendwann nicht mehr richtig – spätestens am Lebensende, und das ist wohl der ungünstigste Zeitpunkt dafür.

„Dann“, so Werner Weishaupt, „ist dem Menschen bewusst, dass seine Zeit abläuft. Egal, welche Fragen sich stellen: Was wäre wenn, was hätte ich besser machen können – nun ist es zu spät. Und: Parallel zur Lebenskraft schwindet auch die psychische Kraft.

Um im Bild zu bleiben: Die Tiefkühltruhe hält nicht mehr dicht. Sie fängt an zu tauen und der Inhalt fängt an zu stinken.“ Was sich drastisch liest, kann sich im Leben der Betroffenen so furchtbar auswirken, dass sie völlig überfordert werden – mit allen negativen Konsequenzen der schieren Verzweiflung.

„Die Folgen waren bei Menschen, die den Zweiten Weltkrieg bewusst erlebt haben, besonders häufig zu beobachten“, weiß Werner Weishaupt. „In dieser Generation gab und gibt es besonders viele Fälle von schweren Abhängigkeiten im Alter und auffällig viele Alterssuizide.“ Auch gebe es Hinweise, dass Demenz von einem seelischen Vermeidungsverhalten zwar nicht ausgelöst, aber doch begünstigt werden kann: Demenz quasi als Flucht vor dem Trauma ins buchstäblich Unbewusste.

Nicht umsonst hat die Bundeswehr die psychologische Betreuung der im Ausland dienenden Soldaten massiv verbessert: „Untersuchungen – sowohl an Teilnehmern des Zweiten Weltkriegs wie auch z. B. an Vietnam-Veteranen – haben gezeigt, dass Menschen mit nicht verarbeiteten Traumata deutlich häufiger schwer erkranken und deutlich früher sterben. Vom menschlichen Leid ganz abgesehen ist der Staat also gut beraten, seine Soldaten bei der Rückkehr genau zu untersuchen und beizeiten zu unterstützen – sonst wird’s später richtig teuer.“

Traumata entstehen aber nicht nur im Krieg, so Dr. Werner Weishaupt, sondern auch durch die ganz privaten Dramen und Schicksalsschläge. Nur ist hier der Einzelne aufgefordert, diese Erlebnisse nicht zu verdrängen, sondern aktiv zu verarbeiten – mit Unterstützung geeigneter psychologischer Fachkräfte.

Jens HeckmannJens Heckmann

Fachmann für Öffentlichkeitsarbeit/ Unternehmenskommunikation
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Foto: fotolia©Tim UR