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„Heldenreise“

2017 02 Helden1Unerfüllte Träume, mangelnde Lebensqualität, Dauerfrust im Job, abgenutzte Liebe. Es gibt gute Gründe, um sich neu zu orientieren. „Du musst dein Leben ändern.“ Diese Sentenz stammt aus Rainer Maria Rilkes Sonett „Archaïscher Torso Apollos“ (1908). Sie ist nicht bloß ein schaler Silvestervorsatz. Sie ist eine Aufforderung an uns selbst, jederzeit zu prüfen, ob wir das Leben leben, nach dem wir uns in der Tiefe unseres Herzens sehnen.

Laut einer Studie der Macromedia Hochschule in Köln wollen 60 % der Frauen und 40 % der Männer in Deutschland in den Mittvierzigern etwas Neues machen und sehnen sich nach Veränderung. Unser Leben füllt uns nicht mehr aus. Wir haben das Gefühl, dass das, was wir tun, oder wie wir leben, uns auf Dauer nicht reicht. Weil es nicht sinnerfüllt genug ist. Wir spüren, dass wir gegen unsere Natur leben und verspüren zugleich eine unstillbare Sehnsucht nach einem Neuanfang.

„Der Ruf des Abenteuers bedeutet,
dass sich das Schicksal
bei dem Helden meldet …“
Joseph Campbell

Wir spüren instinktiv, dass jetzt der Zeitpunkt für unsere eigene „Heldenreise“ gekommen ist, um unsere Lebensaufgabe, unsere ureigene Mission zu realisieren – und zwar jenseits aller Grenzen, die uns antrainiert oder vorgeschrieben worden sind. Die „Heldenreise“ fordert uns dazu auf, uns neu in eine Richtung zu entwerfen, aus dem bisherigen Leben auszubrechen und dorthin zu gehen, wohin der Wind uns führt.

Wenn wir tief in uns hineinspüren und unser Herz befragen, führt uns unsere innere Stimme an unsere tiefsten Wünsche und Sehnsüchte heran. In uns selbst sind alle Geheimnisse verborgen. Der eigenen Bestimmung zu folgen, erfordert zunächst die schonungslose Offenheit für das, was bislang zu kurz gekommen ist. Wir konfrontieren uns mit uns selbst: „Ich wollte schon immer ...“, „Als Kind habe ich davon geträumt ...“. Auf diesen inneren Impuls zu vertrauen und das zu tun, wobei wir uns am lebendigsten fühlen – das ist der Auftakt zum Neubeginn.

„Heldenreise“ bedeutet also, sich zu fragen: „Wozu bin ich auf der Welt? Wo liegen meine größten Leidenschaften und Talente? Wie schenke ich sie der Welt? Wie, wann und wo fühle ich mich mir selbst nahe?“ Die richtigen Antworten sind es, die uns die Tür zur Freude öffnen. Wir erhalten eine Ahnung von einer neuen Bewegung, die mehr Lebensfülle verspricht – und damit den Weg zum Aufbruch ebnet.

Nach diesem Moment der inneren Einkehr stehen wir am Scheideweg. Wir sind dazu aufgefordert, uns festzulegen, was wir genau verändern wollen und welchen Preis wir dafür zu zahlen bereit sind. Denn neben dem festen Willen, dem Mut, der Sehnsucht, Ausdauer und Kraft beinhaltet der Neuanfang auch ein konkretes Bild unseres Veränderungswunsches. Von hier aus scheint es kaum mehr möglich, den Ruf zu missachten und wieder in der eigenen Komfortzone zu versumpfen ...

Doch so verheißungsvoll die Aussicht auf den Neustart erscheinen mag, bereitet kaum etwas zugleich so viel Unbehagen wie dieser Sprung ins Ungewisse. Das Neue macht Angst. Ein Umbruch ist ungemütlich. Befreiungsbewegungen schlagen Wellen. Sie haben Konsequenzen. Bin ich wirklich dazu bereit, mein Leben umzukrempeln? Was kommt da auf mich zu? Was passiert, wenn ich scheitere?

Aus dem tiefen Dickicht des Grenzgebiets zwischen dem Alten und dem Neuen tauchen die Dämonen aus dem Unbewussten auf. Schneller als wir ernsthaft den ersten Schritt planen, entwickeln wir energische Abwehrstrategien, um uns das Neue vom Leib zu halten. Die Beharrungskräfte sind mächtig. Die Angst vor dem Scheitern schwebt wie ein Damoklesschwert über uns. Abertausend Gründe fallen uns ein, warum ausgerechnet hier und jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist – und erschöpfen uns in typischen Alibisprüchen.

Dämon Sicherheit: jetzt kündigen und eine eigene Firma gründen? Wenn das schiefgeht? Dann kann ich mich wieder hinten anstellen.

Dämon Selbstzweifel: mit 40 noch mal zur Uni gehen und Psychologie studieren? Ist es nicht zu spät dafür?

Dämon Schuldgefühle: ein Sabbatjahr nehmen, um endlich für die ersehnte Indienreise aufzubrechen? Ich kann doch meine Kollegen nicht im Stich lassen!

Dämon Verlustangst: sich von dem vertrauten Partner trennen, weil von der großen Liebe nicht mehr als ein festgefahrenes Ritual geblieben ist? Was passiert mit meinen lieb gewonnenen Gewohnheiten? Wie werden die Freunde darauf reagieren?

Wir schwelgen in Gegenargumenten und betrachten uns als Opfer der Umstände. Damit legitimieren wir uns unsere Untätigkeit immer wieder selbst. Wissenschaftler nennen diese Strategie „Attentismus“, von lat. attendere, abwarten. Aufschieben bedeutet ausweichen – dem Abschied, dem Risiko, der Trauer. Ein Zurückweichen vor unseren Lebensaufgaben. Der Teufelskreis der „Stabilität“: Statt konkret etwas zu verändern, halten wir an dem scheinbar Bewährten fest und beschränken unser Begehren auf das Durchkommen im Alltag. Hier fühlt sich alles so sicher an, dass selbst die Unzufriedenheiten etwas Anheimelndes haben.

„Der Neurotiker“, so lautet ein altes Therapeuten-Bonmot, „zieht sein bekanntes Unglück dem unbekannten Glück vor“. Was wir dabei völlig ausblenden: Leben bedeutet ständige Veränderung. Die größte Angst macht uns dabei die Ungewissheit. Mut bedeutet, eine Entscheidung zu treffen, ohne dass uns ihre letzten Konsequenzen bekannt sind. Wenn wir unsere Angst zu versagen und vor dem, was wir alles erreichen könnten, überwinden, dann kann sich alles erdenklich Mögliche für uns auftun. Herausfinden können wir es jedoch nur, wenn wir es ausprobieren. „Heldenreise“ ist ein innerer Prozess, bei dem es darum geht, unsere bisherigen inneren Begrenzungen zu überwinden.

„Wenn Du immer wieder das tust,
was Du schon immer getan hast,
dann wirst Du immer
wieder das bekommen,
was Du schon immer bekommen hast.
Wenn Du etwas anderes haben willst,
musst Du etwas anderes tun!“
Paul Watzlawick

„Wahres Leben bewegt sich stets nach vorn in unbekannte Bereiche“, brachte es der Psychoanalytiker Wilhelm Reich auf den Punkt. In der Forschung wird unser innerer Antrieb nach neuen Anfängen als „Ruf des Lebens“ bezeichnet. Der innere Impuls, aus dem heraus wir uns in eine neue Zukunft führen, ist das uns innewohnende Streben nach „Selbstentfaltung“ und „Selbsterweiterung“. Wir folgen diesem Lockruf, da wir den „wilden Geschmack der Freiheit auf der Zunge schmecken“ (Mathias Jung).

Psychologen sprechen vom „Wendepunkt“, an dem man – gewollt oder aufgrund äußerer Umstände – sein Leben in eine andere Richtung lenkt. Um die vermeintlichen Grenzen unserer Wirklichkeit und unserer Möglichkeiten zu überschreiten, bewahrt sich unser Herz ein Leben lang diesen Pioniergeist.

Was spornt uns Menschen dazu an, uns nach vorn in unbekannte Bereiche zu bewegen?

Es sind genau zwei Impulse: Liebe und Leid. Die Liebe zu einem bestimmten Ziel, also ein inniger Wunsch, ein Traum, eine tiefe Sehnsucht, die uns treibt. Und andererseits das Leiden an der Situation, wie sie aktuell ist.

Die Sehnsucht nach dem Leben drängt, wenn sich zu viel Ungelebtes angestaut hat. Wenn die eigene Entfaltung auf dem Spiel steht. Sie bildet die Brücke, die die Schwelle zwischen dem Nichtgelebten und dem Möglichen überwindet. Träume sind dabei ein wunderbarer Motor, über sich hinauszuwachsen. Im Bewusstsein der Kostbarkeit und der Begrenztheit des Lebens wird uns irgendwann klar, dass das Leben kürzer ist als die Angst. Das ist der Moment, in dem die Angst vor den Konsequenzen kleiner wird als die, dass es irgendwann zu spät sein könnte.

Wir Menschen wachen meist dann auf und werden zu Helden unseres eigenen Lebens, wenn die Liebe und das Leid stärker sind als die Angst. An diesem Wendepunkt können wir über das, was wir bislang für die Grenzen unserer Möglichkeiten hielten, hinauswachsen.

Den Aufmerksamen unter uns genügt ein sanftes Federkitzeln. Oft erreicht uns der Weckruf aber auch als Hammerschlag in tiefster Verzweiflung: Wir verlieren unsere Arbeit, werden von unserem Partner verlassen oder eine Krankheit zwingt uns in die Knie. Krisen können zur Kraftquelle werden und in der Folge der entscheidende Auslöser für Veränderungen sein. Etwas, das wir unter keinen Umständen erleben wollen, ist – so paradox es anmutet – oft der „Befreiungsschlag“ und nötige Katalysator, um uns in unser Heldenabenteuer zu stürzen. Gegebenheiten, die uns innehalten lassen und uns zwingen, das eigene Leben ernsthaft zu überdenken. Die sogenannten „Jetztoder-nie-Momente“, die uns zeigen, dass nun die Chance gekommen ist, das Leben anders anzugehen.

Instinktiv wissen wir: Wenn wir uns jetzt nicht auf den Weg machen, werden wir niemals ankommen. Das Leben hat uns aus der Bahn geworfen. Nun nehmen wir unser Leben selbst in die Hand, übernehmen Verantwortung und springen auf den Zug auf, der schon lange auf uns gewartet hat.

Wie groß die Bedeutung von Neuanfängen für uns Menschen ist, zeigt ein Blick in unsere Kulturgeschichte. Die großen Legenden und Mythen aller Zivilisationen, unsere Sagen und Märchen, die Klassiker der Weltliteratur – all diese Geschichten erzählen von Aufbrüchen in eine neue Welt, vom „Zauber des Anfangs“ (Hermann Hesse). Und wir lieben sie dafür! Weil sie uns zeigen, dass alles möglich ist und das Abenteuer genau jetzt, nicht erst am Ende der Straße, beginnen kann.

Zum Beispiel Bastian Balthasar Bux, die Titelfigur aus Michael Endes „Die unendliche Geschichte“: Er erhält zu Beginn seiner Heldenreise ein magisches Medaillon mit der Aufschrift: „Tu, was du willst“. In den unendlichen Chancen, seine wahre Bestimmung zu finden, verliert er sich zunächst selbst. Doch am Ende seiner Heldenreise begreift er, dass das Amulett eine Aufforderung an ihn ist, zu erkennen, was er tief in seinem Herzen wirklich will. Endlich kommt er bei sich selbst an.

Oder das „Gilgamesch-Epos“, eine der ältesten überlieferten literarischen Dichtungen der Menschheit: Gilgamesch zieht aus, um die Pflanze der Unsterblichkeit zu suchen. Er muss allerlei Bewährungsproben bestehen: gegen das Weibliche, gegen das Ungeheuer usw. Schließlich schwimmt er zum Meeresgrund, findet die Pflanze und bringt sie an Land. Doch eine Schlange stiehlt sie ihm. Nichtsdestotrotz kehrt er in seine Heimat zurück. Er hat diese wunderbare Geschichte von seinem Abenteuer zu erzählen. Gilgamesch kann zwar der Gesellschaft keinen konkreten Gegenstand mitbringen, keinen Schatz. Aber die Geschichte, wie er den Schatz holt, ist das eigentliche Gut. Die Geschichte seiner Reise zu erzählen, ist nämlich eine Einladung an andere, sich ebenfalls auf ihre persönliche Reise zu begeben. Auf diese Weise entsteht ein ewiger Kreislauf. Das ist – neben seiner persönlichen Entwicklungsgeschichte – ein Wesenskern der Heldenreise.

Wer sich auf die „Heldenreise“ begibt, muss durch schwere Krisen hindurch und sinnbildlich einen (manchmal auch mehrere) Drachen erledigen. Vor allem aber müssen wir das allergrößte Ungeheuer besiegen: die Angst in uns selbst. Wir werden Prüfungen und langwierigen Umwegen ausgesetzt. Wenn wir dazu bereit sind, die Herausforderungen des neu erwachten Lebens anzunehmen, verspüren wir plötzlich eine Kraft, die alles übertrifft. Denn unsere verborgensten Kräfte entdecken wir erst dann, wenn uns das Leben vor die größten Herausforderungen stellt.

An einem gewissen Punkt unserer Heldenreise geschieht etwas Magisches: Wir akzeptieren uns so, wie wir sind. Das ist ein großer Moment, weil er uns mit der Welt in Einklang bringt. Der Konflikt in unserem Inneren ist beendet. Unsere Aufgabe ist gelöst.

Der Traum, der nie beginnt, schmerzt am tiefsten.

Kaum etwas fühlt sich bedrückender an als die ewige Trauer über verpasste Chancen. Auf unserem Sterbebett bereuen wir nicht die Risiken, die wir im Leben eingegangen sind, sondern wir bereuen jene, die wir nicht gewagt haben. Chancen, die wir nicht ergriffen haben. Das „ungelebte Leben“ ist das, was Sterbende kurz vor ihrem Tod am meisten bedauern.

Solange wir leben, schenkt uns das Leben solche Gelegenheiten zum Aufbruch immer wieder. Die Kunst besteht darin, uns offen zu halten für dieses lebendige Pulsieren, das unseren Blick für größere Zusammenhänge weitet. Das bedeutet: empfänglich sein, hinschauen, hellhörig sein für das, was ansteht und uns in die Kraft bringen kann. Folgen wir also unserem inneren Ruf. Lassen Sie uns zum Helden unseres eigenen Abenteuers werden – mit dunklen Mächten, gegen die wir antreten, Neuland, das wir entdecken, und unserem neuen Ich, das wir erst einmal befreien müssen.

Im Anfang steckt wahrer Zauber!

Conny ThalerConny Thaler
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Yogatherapeutin, Kommunikationswissenschaftlerin, Psychologin (M. A.), Autorin

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Foto: fotolia©bluedesign