Die Rückeroberung meines Lebens
Es war der 31. Dezember 2014 und ich hatte die 5,5 km des Silvesterlaufs um den Salzgittersee mit zwei Begleitern an meiner Seite in 40:37 Minuten bewältigt. Ein unbeschreibliches Gefühl, die Runde aus eigener Kraft, sogar meist laufend zurückgelegt zu haben, nachdem ich nur zwei Jahre zuvor vollständig gelähmt im Koma gelegen und um mein Leben gekämpft hatte. Ein Traum, vielleicht sogar ein kleines Wunder auch durch große Leidenschaft und Hilfe von Medizinern, Schwestern, Pflegern und Therapeuten war in Erfüllung gegangen, ich konnte – welch ein Geschenk, hart erarbeitet – wieder laufen.
Schon in meiner Kindheit war der Sport ein Teil meines Lebens, das Laufen und Springen eine große Leidenschaft und ich habe oft gedacht, die Liebe zu meiner Familie und der Sport machen mich fast unverwundbar, zumal ich mich auch gesund ernährt habe. Ich war im Beruf erfolgreich und hatte es auch im Sport – der Leichtathletik – zu Landesmeisterehren und sogar zu Endkampfplatzierungen bei deutschen Meisterschaften gebracht.
Im Hochsprung habe ich als erster Salzgitteraner die Zwei-Meter-Marke bewältigt. Ich habe in der Leichtathletik vom 100-MeterLauf bis zum Zehnkampf alles gemacht und geliebt, sogar einen 25-km-Lauf habe ich durchlebt. Irgendwann in den1990er-Jahren wurde ich dann immer mehr vom Job vereinnahmt. „Entweder die Job-Karriere – die ich eigentlich gar nicht wollte – oder du bist raus“, waren die unmissverständlichen Worte meines damaligen „Bosses“. Ich wählte den Jobstress, hatte ich doch Verantwortung für geliebte Menschen.
Zuerst war ich in einem mittelständischen Unternehmen und später in einem weltweit agierenden Konzern erfolgreich im Regionalmanagement tätig. Nach etlichen Jahren, die Arbeitswochen zählten selten weniger als 60 Stunden, merkte ich kaum noch, wie die Arbeit mich mehr und mehr auffraß. Irgendwie habe ich zum Schluss (2012), ich war mittlerweile 57, nur noch funktioniert.
Neben der Familie waren gelegentliche Dauerläufe die einzige Energiequelle, um fit und „gesund“ zu bleiben. Wenn nicht zu Hause, bin ich oft morgens um sechs vor Meetings irgendwo im Inland oder Ausland meine 5–7 km gelaufen. Bis, ja bis zum Mai 2012, da kam es zum ersten Zusammenbruch. Schwindelanfälle, Kreislaufprobleme, Stürze, Angstzustände, Schweißausbrüche und mehr. Ein extremer körperlicher und geistiger Erschöpfungszustand hat mich förmlich von den Beinen geholt.
Ich konnte kaum noch laufen, ja sogar gehen war durch die Schwindelattacken kaum noch möglich. Bewegung, Sport, Laufen, ich liebte es doch so sehr, sollte ich dies nicht mehr können? Todesangst ... werde ich und wie werde ich weiterleben. Was wird aus meiner Familie? Ich liebe sie doch so sehr.
Es folgten Arztbesuche und Untersuchungen ohne tief greifende Ergebnisse, nur der Hinweis, ich sollte doch kürzertreten. Ich hatte die typischen Symptome eines Burnout, es war ein Burnout. Ich konnte nicht mehr. Trotz Angstzuständen und weiteren Schwindelattacken und völliger Leere, eine blockierende Kraft hatte sich um mich gelegt und hielt mich mit ihren Klauen in ihrem Griff. Ich wollte leben, wieder arbeiten, meiner Verantwortung für die Familie und meine Mitarbeiter nachkommen.
Doch am 6. Juli 2012 kam es noch schlimmer, ich brach zu Hause mit großen Schmerzen zusammen. Meine Frau handelte schnell, ließ mich ins Klinikum nach Braunschweig bringen. Eine junge Ärztin, die es anhand meines äußeren Erscheinungsbildes kaum fassen konnte, diagnostizierte: „Sie haben einen Kleinhirninfarkt, einen Schlaganfall“. Ich, einen Schlaganfall? Das kann nicht sein, dachte ich voller Angst und Verwirrung, doch es stimmte. Die Schmerzen waren das eine, aber es brach eine Welt zusammen, ich hatte Angst zu sterben.
Nach Tagen der Behandlung im Krankenhaus, ich konnte anfangs ohne fremde Hilfe nicht einmal stehen, kam ich in die Reha nach Bad Harzburg. Ich wollte leben, mich nicht unterkriegen lassen. Aus ersten vorsichtigen Gehversuchen wurden nach einigen Wochen „flotte“ Gehschritte mit Gehhilfen. Immer wieder schöpfte ich neue Kraft, wenn meine Familie mich aufmunterte. Meine Tochter brachte mir sogar Suggestionsübungen aus der Kinesiologie bei, die das Vertrauen in den eigenen Körper stärkten.
Ich schmiedete schon wieder Pläne, erzählte einem der Ärzte, der selbst Läufer war, meinen verrückten Traum, einen Halbmarathon, zumindest einen Stundenlauf zu bewältigen. Er holte mich behutsam auf den Boden der Tatsachen zurück. „Versuchen Sie erst mal, mit ihrer Familie zu wandern und später zu walken, aber langsam, ganz langsam steigern“, sein realistischer Rat, während wir langsam die motorischen Fähigkeiten durch Koordinationstraining verbesserten.
Am 22. August 2012 holte mich meine Frau aus der Reha nach Hause. Ich empfand Glücksgefühle, wieder bei meiner Familie zu sein, und gleichzeitig Angst vor der Zukunft, Angst, den Job zu verlieren, ich hatte doch Verantwortung für die Mitarbeiter, aber besonders für meine Familie.
Irgendwie verrückt, schon nach einiger Zeit habe ich auf Walkingstöcke gestützt vorsichtige Laufversuche gemacht und nach einigen Tagen auf wackeligen Beinen das Kugelstoßen, die letzte Disziplin zu meinem 40. Sportabzeichen geschafft. Das Laufen, die 3 000 Meter, hatte ich im Frühjahr vor dem Zusammenbruch geschafft.
Langsam kam ich mehr zu Kräften, nicht zuletzt durch die Hilfe von Therapeuten der ambulanten Reha, und es schien aufwärtszugehen, bis, ja bis zum 22. September 2012. Schweißgebadet erwachte ich aus dem Schlaf, konnte nur mit Mühe das Bett verlassen, hatte Todesangst, quälte mich mit panischer Angst zum Frühstück. Ich hatte kaum Kraft, die Kaffeekanne zu heben. Und wieder sorgte meine Frau schnell und geistesgegenwärtig dafür, dass ich ins Klinikum nach Braunschweig kam. Dort vermutete erst und später diagnostizierte dann ein junger Arzt das Guillain-Barré- Syndrom, eine schwere Autoimmunstörung. Eine seltene Erkrankung, bei der es zu einer Umkehr des Immunsystems kommt. Das Immunsystem greift gesunde Nervenzellen des peripheren Nervensystems an. Es kommt zu einer fortschreitenden Lähmung, in extremen Fällen kommt es zur vollständigen Lähmung inklusive Atemlähmung. Im schlimmsten Fall (bei 5–7 % der Patienten) führt die Krankheit sogar zum Tode. Die Ursache ist weitgehend unbekannt. Es wird vermutet, dass Infektionen, Impfungen, aber auch extremer Stress ursächlich sein könnten.
Rasend schnell, begleitet von Schmerzen, Missempfindungen und Angst eroberte die Lähmung meinen Körper und nach einer Rückenmarkspunktion und sicherer Diagnose wurde ich mit Immunglobulinen durch Infusionen behandelt, die eine Umkehr der Lähmungsfortschreitung bewirken können. Nach leichter Besserung kam ich kurzzeitig in eine Früh-Reha nach Seesen, doch die Lähmung eroberte meinen Körper immer weiter.
Am 8. Oktober 2012 kam ich zurück ins Klinikum nach Braunschweig. Immer wieder wurde meine Lungenfunktion geprüft, um auch den möglichen Lähmungsbefall der Lunge früh erkennen zu können. Da sich trotz der Infusionen mein Zustand weiter verschlechterte und ich bereits vollständig gelähmt war, bekam ich als zweiten Therapieansatz Serien von Plasmapherese.
Hier wird Blutplasma durch eine Art der Dialyse ausgetauscht. Keine Besserung! Das Atmen fiel mir immer schwerer. Immer weiter geschwächt, spürte ich bei den Ärzten Ratlosigkeit, obwohl mir aufopferungsvolle Pflege zuteil wurde. Angst! Angst! Angst! Besonders als mich sogar ein Krankenhausseelsorger besuchen sollte. Ich konnte mich kaum noch artikulieren, schaffte es aber mitzuteilen, dass ich ihn nicht sehen wollte, ich wollte nicht sterben.
Trotz des schlechten Zustands kam ich etwas später in eine zweite Früh-Reha, dieses Mal nach Flechtingen. Als es aber dort zu einer weiteren dramatischen Verschlechterung kam, wurde ich eilends ins Klinikum nach Braunschweig zurückverlegt. Ich kämpfte gegen das Ersticken und nach unglaublichen Qualen, ich hatte durch den Lähmungsbefall Atemstillstand, verlor ich das Bewusstsein. Ärzte, Schwestern und Pfleger haben um mein Leben gekämpft, mussten mich reanimieren. Ich vermute, ein Teil meiner damaligen Wahrnehmungen, die ich aber immer schnell verdränge, stammen aus der Zeit „zwischen den Welten“.
Nachdem man mich ins Leben zurückgeholt hatte, haben die Ärzte einen Luftröhrenschnitt gemacht und mich dann am 6. November 2012 ins künstliche Koma versetzt, um mich, an Maschinen angeschlossen, am Leben zu halten.
Viele dramatische Träume begleiteten mich während meiner Zeit im Koma. Nach fast zwei Wochen Hoffen und Bangen für meine Familie wurde ich aus dem Koma geholt. Ich konnte nur wenig wahrnehmen, war vollständig gelähmt und wurde weiter beatmet. Immer noch war ich voller dramatischer Träume, Wahrnehmungen, konnte mich aber in den Wachphasen an die geliebten Gesichter meiner Familie erinnern.
Irgendwann hörte ich den Ausspruch eines Arztes: „Er fängt an, selbstständig zu atmen“. Es folgte eine Zeit, in der sich Hoffnung und Resignation fast stündlich abwechselten, aber ich war schon recht häufig wach und atmete selbstständig.
Eines Tages, ich habe darum gekämpft, meine Hände zu bewegen, rief meine Tochter: „Papa, du bewegst einen Finger“. Ich wollte es nicht glauben, doch es stimmte. Immer ein wenig mehr kam dazu und als ich Anfang Dezember wieder in die Reha nach Flechtingen verlegt wurde, konnte ich den Schwestern und dem Arzt der Braunschweiger Klinik mit leichten Finger- und Handbewegungen Tschüss und Danke sagen, für Leistungen, die viel zu wenig gewürdigt werden.
In der Reha in Flechtingen, zuerst in der Intensivstation, noch gut verkabelt und künstlich ernährt, wurden langsam aber stetig etwas mehr Bewegungen möglich. Mitte Dezember konnte ich schon mit zwei Händen und ein wenig Hilfe einen Becher halten und am Heiligen Abend, beim Besuch meiner Familie, hat man mich für eine halbe Stunde angeschnallt in einen Rollstuhl gesetzt. Ich war froh, als ich wieder liegen durfte, denn es schmerzte unglaublich. Ich bin fast 1,90 m groß und wog damals kaum mehr als 50 kg.
Am 31. Dezember 2012 wurde ich erstmals mit dem Rollstuhl in den Speisesaal gefahren. Ich konnte im Rollstuhl angeschnallt sitzend mit einem Glas Saft eigenständig so gegen 18 Uhr aufs bevorstehende neue Jahr anstoßen. Glücklich machte mich die Nachricht meiner Tochter, dass sie für mich den Silvesterlauf (5,5 km) in 30:53 Minuten gelaufen war. Ich habe diesen Traditionslauf mehr als 30 Mal bewältigt. „Bald laufen wir wieder zusammen zum Jahresabschluss“, ihr Mut machender Kommentar am Telefon.
Der Lebenswille wurde stärker, kleine Pläne reiften. Es klingt fast albern, aber ich wollte irgendwann eine 400-m-Sportplatzrunde auf den eigenen Beinen zurücklegen, egal wie lange es dauern würde. Noch etwas verrückter war mein schon einige Zeit vorher (noch vollständig gelähmt) geäußerter Wunsch, einmal einen Halbmarathon zu laufen. Träume helfen manchmal, Berge zu versetzen. Aber es gab auch immer wieder Rückschläge. Ein Keim oder nicht enden wollende Brechanfälle ließen in meiner Fantasie den Katastrophen wieder viel Raum, doch mein Lebenswille und klare Worte meiner Frau halfen.
Mitte/Ende Januar 2013 konnte ich Arme und Hände schon recht gut bewegen, auch konnte ich mit dem Rollstuhl kurze Strecken eigenständig zurücklegen, obwohl ich nur wenig Kraft in den Armen hatte. Da fragte mich eine Schwester mit ansteckend trockenem Humor, sie hatte von meiner sportlichen Leidenschaft etwas mitbekommen: „Wenn Sie wieder schreiben können, könnten Sie mir doch einen Lauf-Gymnastik-Plan erstellen, ich hab ein paar Pfunde zu viel und möchte wieder etwas sportlicher werden“. Ich habe es gemacht, es hat vielleicht zwei Wochen gedauert, aber es hat meinen Selbstwert gesteigert und mich davon träumen lassen, selbst wieder laufen zu können.
Bis Mitte Februar hatte ich weitere Erfahrungen mit dem Rollstuhl sammeln können. Ich habe den 100 Meter langen Stationsgang heimlich mit der Stoppuhr zurückgelegt. Noch im Februar 2013 dann sogar die ersten Stehversuche am Tower, einem Hoch-Rollator, zuerst trotz Hilfe nicht erfolgreich, doch bald die ersten eigenen Schritte mit fremder Hilfe.
Ich glaube, ich hatte die Krankheit akzeptiert und ihr ein zeitlich begrenztes Aufenthaltsrecht in meinem Körper gewährt. Ich erinnere mich an den Ausspruch der Therapeutin, die mich bisher nur liegend kannte: „Mein Gott, wie groß sind Sie denn?“ Meine Antwort 1,87 m.
Und immer wieder war es meine Familie, die mir diesen ungeheuren Glauben und diese Kraft gaben, zu kämpfen. Meine Frau und meine Tochter haben mir etwas vermittelt, was mir oft nicht gegeben war, Geduld und Vertrauen in meinen Körper.
Langsam, ganz langsam, immer ein paar Schritte mehr gehend, aus dem Rollstuhl steigend, erkämpfte ich mir den „aufrechten Gang“ zurück. Ich hatte zum dritten Mal in meinem Leben Laufen gelernt.
Die Zeit verging, es war März und ich konnte schon, den Rollstuhl vor mir herschiebend, so etwa 300–400 Meter (mit Zwischenstopp) zurücklegen. Anfang April, ich hatte den Wechsel auf den Rollator erfolgreich vollzogen und einen 400-Meter-„Marathon“ auf dem Klinikgelände geschafft, kam der Abschied aus der Rehaklinik.
Ich hatte Angst, das behütete Umfeld zu verlassen, schließlich waren Schwindel, Schmerzen, Albträume, Panikanfälle und Unsicherheit weiterhin meine treuesten Begleiter. Aber da war auch die Freude, nach Hause zu kommen. Und vielleicht wird der Traum, den meine Tochter mir vermittelt hat, ja Wirklichkeit. Ein großer Wunsch wurde beim Gang aus der Klinik dann schon zur Realität. Ich habe es auf den eigenen Beinen geschafft, zwar mit Rollator, aber das war egal. Dann ging es tatsächlich in Richtung Heimat, ein Gefühl des Glücks durchfloss mich, hatte ich doch oft gedacht, ich sehe mein Zuhause nie wieder. Mir ging so viel durch den Kopf, besonders jedoch, was meine Familie alles durchgemacht hatte.
Nach vielen physischen und psychischen Auf und Ab erweiterte ich meinen Bewegungsradius immer mehr. Mein erster „Trainingspartner“ war meine 86-jährige Schwiegermutter, so denke ich manchmal scherzhaft. Sie war durch Alter und Krankheit auch auf den Rollator angewiesen. Anfangs habe ich das Rollator-Rennen verloren, doch ich wurde mobiler.
Meine ersten Laufschritte waren wohl so etwa 20 Meter am Rollator. Und im Juli oder August, nach dem Wechsel auf die Walkingstöcke, die ersten echten Laufschritte. Ein 500-Meter-Gehen hatte ich mir schon erkämpft. Schon im Herbst 2013 habe ich mit Walkingstöcken mehr als einen Kilometer gehend zurückgelegt und bestimmt 100 Meter davon im Tippellauf. Im Spätherbst waren es schon fast 250 Meter im „Walkingstockstützlauf“. Doch oft waren da auch Schmerzen der geschädigten Nerven an Armen, Beinen und im Gesicht, einhergehend mit Empfindungsstörungen besonders an Füßen und Händen sowie Gleichgewichtsstörungen, die mir noch heute physisch und psychisch zusetzen.
Ich kämpfe in der ambulanten Reha mit Unterstützung hervorragender Therapeuten wie ein Löwe, um noch mehr Normalität zurückzugewinnen. Mir ist seit Langem bekannt, dass Bewegung Glückshormone freisetzt und den Heilungsprozess weiter gedeihen lässt. Parallel unterstützt mich ein Psychologe und Heilpraktiker für Psychotherapie, das Erlebte zu verarbeiten.
Am 31. Dezember 2013 habe ich beim Silvesterlauf am Salzgittersee zugeschaut und mir vorgenommen, im nächsten Jahr laufe ich mit. Im März 2014 schaffte ich in einer Mischung aus Laufen und Gehen, gut einen Kilometer zurückzulegen, war aber noch sehr auf die Walkingstöcke, insbesondere wegen der gravierenden Gleichgewichtsstörungen, angewiesen. Gleichzeitig wirkte aber das leichte Ausdauertraining wie Balsam auf meine Seele, da sich während der Belastung Schmerzen und Empfindungsstörungen reduzierten.
Im Juni konnte ich, vielleicht etwas übermütig und überehrgeizig, mit Stöcken drei Kilometer zurücklegen und dabei kleine Teilstrecken laufen. Nach der Euphorie über das Geschaffte folgten zwei Tage Flachliegen und Ängste, dass mich die Krankheit wieder heimsuchen könnte. Eine Angst, die mich bis heute begleitet.
Doch schon bald war ich wieder auf den Beinen und die nächsten Ziele wurden angepeilt. Nach viel Training, Reha, Psychologie und einer Menge Gymnastik versuchte ich im heimischen Forst, einer traumhaften Landschaft im Harzvorland, mit Walkingstöcken und Freunden an meiner Seite meinen Bewegungshorizont zu erweitern und immer ein Stück mehr Normalität zurückzugewinnen.
Dann kam der 31. Dezember 2014. Ich hatte Angst und Vorfreude, ein unbeschreiblicher Gefühlsmix durchfloss mich in der Stunde vor dem Start. Meine Tochter und ein Freund hatten sich an meiner Seite postiert. Krankheitsbedingt hasste ich Menschenmengen und befand mich nun doch inmitten von rund 700 gut gelaunten Menschen, die dem Jahr „Tschüss“ sagen wollten. Dann der Startschuss und ich brauchte wohl fast eine Minute, bis ich mit meinen „Gehhilfen“ die Startlinie überlief, doch dann konnte ich jeden Meter der Strecke in meinem neuen Leben genießen, obwohl es wahnsinnig anstrengend war und auch schmerzte. Gut behütet von meinem Freund und meiner Tochter erreichte ich meist laufend nach 40:37 Minuten das Ziel. Ich hätte nicht gedacht, dass das Laufen derartige Glücksgefühle hervorrufen könnte.
Laufen war fortan fester Bestandteil meiner Therapie, obwohl es sich meist so um drei Kilometer und noch mit Walkingstöcken abspielte.
Gleichgewichtsstörungen und Restdefizite, wie Teillähmungen der Vorderfüße, beeinträchtigen das Laufen – je nach Verfassung – noch heute teils erheblich. Die Bewegungen müssen von mir aufgrund neurologischer Einschränkungen erheblich bewusster ausgeführt werden. Sie sind noch nicht wieder so automatisiert wie bei gesunden Menschen, deshalb erschöpfen sie mich auch geistig stärker. Viele GBS-Patienten leiden wie ich an Missempfindungen und Schmerzen. Dosierte dynamische Bewegung, spezielle Atemtechniken, Entspannungsübungen und Fasziendehnungen lindern, zumindest bei mir, die Symptome und Schmerzen erheblich.
Die ausgeprägten Gleichgewichtsstörungen waren (sind) eine gewaltige psychische Belastung. Durch geduldige Therapeuten (und eigene Erfahrungen) habe ich viel Hilfe und Anregung bekommen, damit umzugehen. Wichtige Bestandteile bei der Rückeroberung meines Lebens, des psychischen und physischen Gleichgewichts, waren und sind die kinesiologische Therapie, auch die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit einem Heilpraktiker für Psychotherapie, aber auch die Krankengymnastik in ihrer ungeheuren Vielfältigkeit. Mittlerweile komme ich durch eine Vielzahl in den Alltag und den Sport eingebettete Übungen dem „normalen“ Leben immer ein Stück näher.
Fortan habe ich auch das rhythmische Laufen (mit Rhythmusübungen hatte ich auch das Gehen in der Reha wiedererlernt) sowie Yogaübungen noch intensiver in mein eigenständiges Rehatraining integriert. Besonders die Atmung, die ich in stressigen 60- bis 70-stündigen Arbeitswochen im Berufsleben „verlernt“ hatte, habe ich zu einer Art Lebensphilosophie mit speziellen Übungen erhoben und das war nicht zuletzt Resultat der Zusammenarbeit mit meinem Heilpraktiker für Psychotherapie. Auch auf die geistige Erschöpfung, die nach Anstrengung sehr schnell einsetzt, scheint der Sport und die verbesserte Atmung positiven Einfluss nehmen zu können.
Vor einigen Monaten fragte mich mein Physiotherapeut – selbst Hobbyläufer, wir haben oft über den Sport, das Laufen gesprochen: „Hätten Sie nicht Lust, für das 20-jährige Jubiläum des Fitnessbereichs unseres Thermalbads einen Laufworkshop zu organisieren?“ Natürlich hatte ich, denn das konnte wieder ein Schritt in Richtung Normalität für mich sein. Ich habe ein Konzept aus alten und neuen Erfahrungen erarbeitet. Es hat einfach Spaß gemacht und ich habe die Veranstaltung am 20. Mai 2017 durchgeführt. Es war ein Erfolg, obwohl ich wahrlich nicht alle Übungen selbst vormachen konnte und ich zum Schluss psychisch und physisch völlig erschöpft war. Einlauf, Koordination, Laufschule, ein Vierkilometerlauf, Yoga- und Atemübungen (auch in der Therapie erlernt) haben scheinbar begeistert und mich ein wenig stolz gemacht.
Einige Zeit später ist ein besonderer Traum für mich in Erfüllung gegangen. Am 9. April 2019 habe ich nach guter Vorbereitung den Halbmarathon im Rahmen des Hannover-Marathons bewältigt. Etwas Besonderes für mich, da ich diesen Wunsch schon nach dem Koma und fast vollständig gelähmt auf der Intensivstation der Klinik ausgesprochen hatte. Der Chefarzt hat mich damals für sympathisch, aber etwas verrückt erklärt.
Ich habe es trotzdem geschafft, nach 2:22:59 Stunden habe ich mithilfe meines Freundes Klaus-Peter Hertel die gut 21 Kilometer bewältigt und wir hatten auch Gelegenheit, ein wenig auf diese seltene Erkrankung aufmerksam zu machen. Nicht zuletzt durch einen Beitrag des NDR-Fernsehens.
Ich durchlebe heute noch viele Phasen der Angst und der Schmerzen, Missempfindungen, die oft nicht zu unterscheiden sind. Belastungen dieser Art kennt wohl jeder, wohl aber nicht in dieser Form. In diesen Fällen hilft mir meist die NIMS-Technik aus der Kinesiologie, autogenes Training, spezielle Gymnastiktechniken und das bereits erwähnte rhythmische Laufen sowie spezielle Atemtechniken.
Ich sehe das Leben nun mit noch mehr Demut, als unglaubliches Geschenk, und bin dankbar dafür, dass mir meine Familie, Ärzte, Pflegepersonal, Krankenkasse, Therapeuten und Freunde zur Seite standen und stehen. Ein Arzt, der mich in allen Phasen von Glück und Leid erlebt hat, sagte mir vor Kurzem: „Wenn ich dich heute so sehe, muss es neben der medizinischen Kunst und dem Willen noch so etwas wie Wunder geben“.
Ich möchte Menschen mit einem ähnlichen Schicksal etwas Mut machen. Das Leben mit seiner geistigen und körperlichen Kraft ist ein Geschenk, das es zu bewahren gilt und für das es sich zu kämpfen lohnt.
Manfred Spittler