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Hysterie – ein Begriff mit vielen Tabus und Vorurteilen

„Heute jedoch erscheint es günstiger, den Terminus „Hysterie“ wegen seiner vielen unterschiedlichen Bedeutungen so weit wie möglich zu vermeiden.“ Zitat aus den klinisch-diagnostischen Leitlinien des ICD-10, F 44 Dissoziative Störungen („Konversionsstörungen“).

Kaum ein Wort in der Psychologie ist so mit unterschiedlichen Assoziationen überfrachtet wie „Hysterie“. Von der Antike über Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, bis hin zu den modernen Emanzipationsbewegungen wird das Wort sehr unterschiedlich attribuiert. Daher erscheint es nur verständlich, dass auch in einem so angesehenen wissenschaftlichen Standardwerk wie dem ICD-10 die Bezeichnung „Hysterie“ mit größter Zurückhaltung behandelt wird.

Wer jedoch mit den etwas sperrigen Begriffen „Dissoziative Störung“ (Entkopplung von seelischen und körperlichen Funktionen) und „Konversionsstörung“ (Konversion eines innerseelischen Konflikts auf körperliche Funktionen) nichts anfangen kann, wird wohl noch länger das Wort „Hysterie“ benutzen, auch wenn es im üblichen Sprachgebrauch eher negativ konnotiert ist.

Um von den Klischees rund um das Wort Hysterie wegzukommen, hilft möglicherweise die in sachliche Worte gefasste Beschreibung des Kapitels F 44 im ICD-10. Noch etwas nachvollziehbarer wird das Thema m. E. durch folgenden konkreten Fall aus meiner Praxis für Psychotherapie.

Praxisbeispiel

Eine Klientin um die 50 Jahre, nennen wir sie Frau Müller, erzählt in der Anamnese, dass sie das erste Kind ihrer Eltern war. Ersehnt wurde von den Eltern, v. a. vom leiblichen Vater, jedoch ein männlicher Nachkomme. Diese Ablehnung durch den damals zutiefst enttäuschten Vater hält bis heute an. Sie beschreibt es als diffuses Gefühl, denn der Vater sei „vordergründig“ immer freundlich und korrekt zu ihr gewesen und ist es bis heute.

Das Perfide daran ist, dass er zwar „vordergründig“ freundlich zu ihr war und ist, aber dass Frau Müller immer schon das Gefühl hatte, „dass da etwas nicht stimmt“ in der Beziehung zu ihrem Vater.

Die häufige Abwesenheit des Vaters durch Schichtarbeit und die fehlende Aufmerksamkeit und Wertschätzung des Vaters gegenüber seiner Tochter, wenn er dann mal zu Hause war, prägten die Kindheit von Frau Müller. Der Vater war also ab und zu immerhin körperlich anwesend, aber wohl nie mit seinen Gedanken, seinen Gefühlen zu 100 % bei seiner Tochter; ein anwesender Abwesender.

Als nach etwa zwei Jahren das zweite Kind geboren wurde, war es – endlich – der vom Vater ersehnte Sohn. Frau Müller fühlte sich ab diesem Zeitpunkt noch weniger beachtet und gewertschätzt als ohnehin schon seit ihrer Geburt. In dem Maße, wie das Interesse des Vaters gegenüber seiner Tochter von ihr schmerzlich vermisst wurde, wurde nun die Aufmerksamkeit voll und ganz dem Sohn zugewandt.

Auch als der mit so viel Aufmerksamkeit bedachte Sohn später auf die „schiefe Bahn“ mit Alkohol und Drogen geriet, hielt der Vater nach wie vor zu ihm, verharmloste die Suchtproblematik und idealisierte ihn sogar noch.

Die Tochter hingegen war beruflich erfolgreich, gründete eine Familie, schenkte den Eltern Enkel und hatte einen tadellosen Lebenslauf.

Doch dies beeindruckte den Vater überhaupt nicht. Auch wenn er verbal zwar das Gegenteil ausdrückte, so war er emotional immer seinem Sohn äußerst zugewandt und seiner Tochter gegenüber gefühlsmäßig distanziert. Offensichtlich war die von Frau Müller zu Recht gefühlte Zurückweisung für Außenstehende nicht erkennbar, denn er ging in Gesellschaft immer „freundlich“ mit seiner Tochter um.

Diese Art der Ablehnung seiner Tochter aufgrund ihres Geschlechts begründete bei Frau Müller die generelle und tiefsitzende Angst vor Zurückweisung.

Die fehlende Beachtung durch den Vater über viele Jahre bis heute ließ in ihr einen unbewussten Hass auf das Männliche entstehen. Sie hatte durchaus Sex und gebar auch Kinder. Doch sie konnte keinen Orgasmus erleben, so sehr sie das durchaus wollte. Körperlich zeigte sie alle Erregungszeichen einer Frau, doch unabhängig vom jeweiligen Partner kam sie niemals zum Höhepunkt.

Vielmehr versagte sie auch ihren Partnern den Höhepunkt, indem sie während des Liebesspiels schlagartig ihre Stimmung wechselte und ihrem wenn auch noch so einfühlsamen Liebhaber besonders abwertende und entwürdigende Dinge sagte, wie „... dann mach doch dein Ding, wenn du das unbedingt brauchst“.

Damit entwürdigte sie nicht nur den teilweise stattgefundenen Geschlechtsakt, sondern drückte damit ihre Rache am Männlichen und indirekt an den Zurückweisungen ihres Vaters aus. Mit anderen Worten: Die Wut auf den Vater und auf das männliche Geschlecht zeigte sich gerade im intimsten Zusammensein der Geschlechter. Dass dies vor allem in Partnerschaften zu Problemen, wenn nicht gar zur Unmöglichkeit einer längeren Beziehung führt, liegt nahe.

Einen ähnlichen Effekt beobachtet man auch bei Prostituierten, die ihre Emotionen „abschalten“ und bestimmte Körperregionen „gefühllos“ machen können, um z. B. den Geschlechtsakt über sich „ergehen lassen“ zu können (F 44.4-F 44.7 Dissoziative Störungen der Bewegung und der Sinnesempfindungen).

Frau Müller war übrigens auch im Verteilen von Kritik sehr großzügig und konnte damit zutiefst verletzen. Wenn jedoch an ihr selbst Kritik geübt wurde, konnte sie damit überhaupt nicht umgehen und schlug verbal verletzend und mit beachtlicher Energie sofort zurück.

Sie war leicht kränkbar und trug eine tiefe Unzufriedenheit in sich, die schnell in Rachegedanken umschlug. Selbstbezogenheit und egoistisches Verhalten prägten ihren Alltag genauso wie die Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen.

Hinzu kam eine für Außenstehende auffallende Suggestibilität, also die leichte Beeinflussbarkeit durch andere oder durch Ereignisse bzw. Umstände, die sie immerhin zumindest im Ansatz manchmal bei sich vermutete oder zumindest erahnte. Meist haben die von Hysterie Betroffenen leider keine Krankheitseinsicht und kommen daher nur selten in eine Psychotherapie.

Frau Müller wurde von ihren Partnern als anstrengend und unberechenbar bezeichnet, da ihre Stimmung von einer Sekunde auf die andere kippen konnte und ihre oft selbstgerechten Aussagen und ihr vermeintlich „wahrhaftiges“ Verhalten das noch so tolerante und einfühlsame Gegen- über regelmäßig an die Grenzen brachte.

Der permanente Versuch im Mittelpunkt zu stehen, egal um welchen Preis, war ein Symptom, das die von Beginn ihres Lebens bis heute andauernde fehlende Beachtung durch den Vater kompensieren sollte. Dass dieses Unterfangen niemals zur Lösung des Urproblems der Angst vor Zurückweisung beitragen würde, sondern vielmehr eine Wiederholung des Verlassenwerdens über kurz oder lang bei ihren Partnern auslöste, war ihr nicht bewusst.

Vielleicht hat diese kurze Beschreibung eines Fallbeispiels dazu beigetragen, dass es ein wenig verständlicher wird, warum „Hysterie“ als so extrem mit Vorurteilen überfrachtet gilt:

Es geht um tiefe Emotionen (allein dies macht dem einen oder anderen schon Angst), den äußerst schnellen Wechsel von Emotionen und Stimmungen, es geht um das so sensible Thema Sexualität als ein möglicher Ausdruck der Gesamtproblematik, es geht um das zentrale Thema Mann und Frau, im Praxisbeispiel um die Beziehung zwischen Vater und Tochter, intimste und engste Beziehungen, die in der Kindheit sich nicht „kindgerecht“ entwickeln konnten.

Abschließend sei erwähnt

„Hysterie“ kann auch Männer betreffen; allerdings wird diese „alte“ Diagnose bis zu neunmal öfter bei Frauen diagnostiziert (Faktor variiert je nach Studie).

Günter Kaindl
Heilpraktiker für Psychotherapie mit Praxis in Eichenau
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