Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen
„Ich schäme mich so! Ich habe es schon wieder getan!“ „Ich wollte meinen seelischen Schmerz durch einen körperlichen ersetzen. Keiner verstand, wie es mir ging, jeder verachtete mich, weil er beim Sport meine Narben sah. Ich war so verletzt, weil sie mich hassten. Ich ritze jetzt schon seit knapp 11/2 Jahren. Ich bin aber im Moment auf einem guten Weg, damit aufzuhören. Ich verstehe die Menschen, die sich so etwas zufügen. Es ist ein erleichterndes Gefühl.“
Selbstverletzungen haben sich in den vergangenen Jahren zu einem echten Problem unter Jugendlichen entwickelt. In Deutschland sind etwa 25 % der Jugendlichen in der Pubertät einmalig davon betroffen. Damit steht Deutschland bei den europäischen Ländern an der Spitze. Die Wiederholungsrate nach einem Jahr liegt bei etwa 14 %. Etwa zwei Drittel der betroffenen Jugendlichen sind weiblich. Unter nichtsuizidalem selbstverletzenden Verhalten (NSVV) versteht man allgemein alle Handlungen, bei denen es zu einer bewussten Schädigung des eigenen Körpers kommt.
Hierzu fügen sich die Betroffenen häufig Schnittverletzungen mit scharfen oder spitzen Gegenständen wie Messern, Rasierklingen, Scherben oder Nadeln zu. Dieses „Ritzen“ findet vorwiegend an Armen und Beinen sowie im Brust- und Bauchbereich statt. Aber auch Verbrennungen (z. B. durch Zigaretten) oder Verätzungen kommen bei selbstverletzendem Verhalten gelegentlich vor. Was weniger spektakulär ist, aber auch in weitestem Sinne den selbstverletzenden Verhaltensweisen zugeordnet werden kann, sind Auffälligkeiten wie Fingernägelkauen (Onychophagie), „Haare ausreißen“ (Trichotillomanie) oder einfach „An-der-Haut-Zupfen“ oder „An-der-Haut-Kratzen“ (Dermatillomanie/Exkoriation).
Diese Verhaltensweisen werden in der medizinischen Fachliteratur als körperbezogene repetitive Verhaltensstörungen bezeichnet. Sie sind relativ weitverbreitet. Das Einstiegsalter liegt häufig um die 14 Jahre und erreicht einen Höhepunkt zwischen 18 und 25 Jahren. Generell kann man auch konstatieren, je früher der Einstieg ist, desto schlechter sind die Heilungsprognosen. In der Gesamtbevölkerung liegt der Anteil bei den 15- bis 40-Jährigen bei ca. 2 %.
Was sind die psychologischen Funktionen dieser destruktiven Verhaltensweisen?
Prinzipiell kann man zwei psychologische Funktionen benennen, warum Personen solche Verhaltensweisen praktizieren. Eine große Gruppe dabei bilden die intrapersonellen Gründe, sprich Ursachen, die im Inneren des Betroffenen liegen. Die bekannteste Funktion ist der Ausdruck, die Kontrolle sowie die Regulation von Gefühlen (Gefühlsregulation), da die Betroffenen häufig ihre Gefühle nicht wahrnehmen, benennen und richtig einschätzen können. Zudem können diese Handlungen zu einer Erleichterung, Beruhigung und Entspannung führen (Beruhigungsfunktion), da durch die Betrachtung des eigenen Blutes oder der Wunden eine Umlenkung der Aufmerksamkeit von seelischen auf körperliche Schmerzen stattfindet. Aber auch die Abnahme von innerem Druck (Druckabnahme) wird häufig von Betroffenen genannt, da diffuse negative Affekte oder auch Verzweiflung (innere Leere) durch Selbstverletzung in eine sichtbare Form gebracht werden.
Zudem werden seitens der Betroffenen die Aspekte wie die Freisetzung von Glücksgefühlen (Ausschüttung körpereigener Opiate – Endorphine), die Möglichkeit der Selbstfürsorge (Wundversorgung als Möglichkeit, sich etwas Gutes zu tun) bis hin zur Selbstbestrafung (Bewältigung von Schuldgefühlen oder Buße für die eigene Unzulänglichkeit) genannt. Spezielle chronische Erkrankungen wie Trigeminusneuralgie oder starke Migräneanfälle können in akuten Schmerzanfällen ebenfalls zu selbstverletzendem Verhalten führen, z. B. das Selbstverletzen mit einem heißen Glätteisen, um eine Schmerzumlenkung zu bewirken. Häufig geschehen solche Handlungsweisen aber in einer Form der Dissoziation.
Den zweiten Bereich der psychologischen Funktionen bilden die sozialen Gründe. Hier ist das Ziel, die Zuwendung von wichtigen Bezugspersonen zu erhalten, indem die Betroffenen mit der Schädigung des eigenen Körpers Aufmerksamkeit und auch (emotionale) Zuwendung zu erhalten. Auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe kann hier durchaus eine Rolle spielen. Bei manchen Jugendgruppen gehört es zu einem Aufnahmeritus, sich selbst Verletzungen zuzufügen. Das Lernen am Modell (Nachahmung) der anderen Jugendlichen in der Peergroup, die diese Verhaltensweisen zur Regulation verwenden, ist ebenfalls nicht zu unterschätzen. Sehr häufig wird das selbstverletzende Verhalten auch zur Manipulation eingesetzt, weil damit Interessen durchgesetzt werden können, z. B. dass der Partner einen nicht verlässt oder einfach nur, um ungewollte Konflikte relativ schnell zu beenden bzw. eine Versöhnung zu erzwingen.
Ursachen, Risikofaktoren und Folgen von NSSV
Selbstverletzungen sind kein eigenständiges Krankheitsbild, sondern treten häufig als Symptom einer psychischen Störung oder Erkrankung auf und haben in der Regel keine suizidale Absicht. Besonders die hormonellen Veränderungen in der Pubertät und die neu zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben, wie Eingehen und Aufrechterhalten von Beziehungen zum anderen Geschlecht, sind mit einem gewissen Stress verbunden. Da kann die erste Selbstverletzung, die dann vielleicht als spannungslindernd wahrgenommen wird, als Strategie der Emotionsregulation und der Problembewältigung entdeckt und dauerhaft in das Repertoire aufgenommen werden. Das selbstverletzende Verhalten kann bei Betroffenen ebenso auf eine starke seelische Belastungssituation hindeuten, die mit massiven Gefühlszuständen wie Angst oder Unsicherheit einhergeht.
Solche Belastungssituationen können sein:
- eine frühe Traumatisierung (sexueller, körperlicher oder emotionaler Missbrauch)
- der Verlust von Bezugspersonen
- die Entwertung (Invalidisierung) kindlicher Bedürfnisse gepaart mit Abwertungen (durch die Eltern: „Du bist nichts wert!“) und Zurückweisung (Mobbing).
Dabei besitzt der Betroffene selbst keine adäquaten Handlungsstrategien, dieses emotionale Erleben bzw. diese stressreiche Situation zu meistern. Neben den psychosozialen Einflüssen haben auch biologische Risikofaktoren wie Temperament oder psychiatrische Erkrankungen wie die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung einen großen Einfluss auf die Entstehung und den Verlauf. Die Folgen, die sich daraus ergeben, sind stellenweise verheerend, da sich die Betroffenen in eine Spirale der Selbstabwertung begeben, aus der sie nur schwer ohne Hilfe wieder herauskommen. Die Gefühle Scham und Schuld steigen bei jeder weiteren selbstverletzenden Handlung an und behindern damit die angemessene Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Grundproblem. Ein Teufelskreis entsteht.
Manche Betroffene lenken diese Art der Konfliktlösung in sozial erwünschtes Verhalten um. So können sozial akzeptierte „Umwandlungen des Körpers“, wie Tattoos und Piercings, über die eigentlichen Krankheitssymptome hinwegtäuschen. Der Körper dient somit auch in späteren Jahren als Instrument der Konfliktlösung, um damit einen Gefühlsstand und Emotionen auszudrücken. Der Körper wird zur Leinwand des emotionalen Ausdrucks.
Abgrenzung zwischen selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität
Besondere Bedeutung muss den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen dem selbstverletzenden Verhalten und Suizidalität gewidmet werden. Der Hauptunterschied liegt in der Absicht des Verhaltens: Liegt die Absicht, zu sterben, den Selbstverletzungen zugrunde, spricht man von suizidalen Handlungen. Werden diese Verletzungen ohne suizidalen Gedanken durchgeführt, ist dennoch immer zu bedenken, dass wiederholtes selbstverletzendes Verhalten einen großen Risikofaktor für Suizide bzw. Suizidversuche darstellt.
Was sind nun Frühwarnzeichen für einen möglichen Suizid: Die Betroffenen ziehen sich komplett von den Freunden und der Familie zurück, äußern Gefühle der Hoffnungslosigkeit und der Wertlosigkeit, zeigen starke Persönlichkeitsveränderungen, beschäftigen sich intensiv mit den Themen Tod und Sterben, verschenken persönliche Gegenstände und äußern häufiger Suizidabsichten oder haben bereits einen Versuch unternommen. Sollte der Verdacht einer akuten Suizidgefährdung bestehen, muss unbedingt eine professionelle Abklärung (bei dem Betroffenen) durch einen Psychiater oder psychologischen Psychotherapeuten erfolgen.
Suizidale Handlungen und Medien
Es wird immer wieder diskutiert, inwieweit sich Filme, Serien oder Online-Games auf die Verbreitung oder die Zunahme von selbstverletzendem Verhalten und suizidalen Handlungen auswirken. Zuletzt kulminierte diese Debatte nach der Ausstrahlung der Verfilmung des englischsprachigen Buches „13 Reasons Why“ (dt. Titel „Tote Mädchen lügen nicht“) auf dem Streamingportal Netflix. Die Serie zeigt in mehreren Folgen mögliche Gründe (z. B. Mobbing durch verschiedene Mitschüler) für den Selbstmord der Hauptfigur, der schlussendlich in der 13. Episode sehr detailliert dargestellt wird. Nach Protesten im deutschsprachigen Raum wurden die entsprechenden Szenen des Selbstmordes in der 13. Folge herausgeschnitten. Paradoxerweise führte diese mediale Aufmerksamkeit zu einem höheren Bekanntheitsgrad der Serie und zu einer signifikanten Zunahme der Online-Anfragen zum Thema „Suizid“ und „selbstverletzendem Verhalten“.
Eine Erhöhung von versuchten Suiziden konnte in Deutschland nicht registriert werden. Das eine Zensierung der Originalserie notwendig und sinnvoll war, sieht man an den Auswirkungen in den USA. So stieg dort (April 2017), also einen Monat nach der Veröffentlichung der Serie, die Suizidrate um 28,9 Prozent auf den höchsten Stand in fünf Jahren. Betroffen war vor allem die Gruppe der 10- bis 17-Jährigen, also Teenager wie die Protagonisten der Serie, Ältere waren nicht betroffen (vgl. auch „Werther-Effekt“). Laut Wissenschaftlern lässt sich ein kausaler Zusammenhang nicht beweisen, aber die Wahrscheinlichkeit sei dennoch sehr hoch.
Diagnostisches Vorgehen
Da die Ursachen und auch die dahinterstehenden psychischen Funktionen so mannigfach sind, muss eine ausführliche und umfangreiche diagnostische Abklärung erfolgen. Hierbei sollten folgende Schritte beachtet werden:
1.) Erstgespräch. So sollten beim Erstgespräch mit den Eltern oder dem Klienten selbst eine Anamneseerhebung (Erkundung der medizinischen Vorgeschichte) sowie eine Explorationsbefragung (Erkundung des Klientenumfeldes) durchgeführt werden. Hier steht die Gewinnung von wichtigen Informationen über die Familiengeschichte, Vorerkrankungen oder die aktuellen Problemsituationen zu Hause oder im Beruf, die bei der Entstehung bzw. Aufrechterhaltung der Problematik maßgeblich sein können.
2.) Dokumentenanalyse. Bereits vor, aber spätestens nach dem Erstkontakt sollte – besonders bei Kindern und Jugendlichen – eine Dokumentenanalyse stattfinden. Sie liefert neben dem Gespräch wichtige Anhaltspunkte für das Problemverhalten, etwaige Ursachen sowie weitere ungünstige bzw. günstige Einflussfaktoren. Bei Schulkindern und Jugendlichen bietet sich zudem der Blick in die Schulzeugnisse an, die neben einem Überblick über die aktuellen schulischen Leistungen auch Eindrücke über das Sozial- und Lernverhalten des Schülers im Kontext Schule vermitteln.
3.) Verhaltensbeobachtung. Diese kann im Einzelsetting (z. B. in der Testsituation oder beim Gespräch) bzw. in einer Gruppe (Kindergartengruppe, Schulklasse) erfolgen. Man muss sich dabei im Vorfeld überlegen, ob diese Beobachtung verdeckt oder offen durchgeführt wird (der Klient weiß/ weiß nicht, dass er beobachtet wird). Bei der Verhaltensbeobachtung sollte vor allem darauf geachtet werden, wie der Klient mit seinem Gegenüber (Therapeut, Kollege, Partner, Freund) in Interaktion tritt.
4.) Standardisierte Diagnostik. Neben der Abklärung der klassischen psychischen Leistungsbereiche, wie intellektuelles Niveau, Konzentrationsfähigkeit und der schulischen Fertigkeiten, wie Lese- und Rechtschreibkompetenzen bei Schülern, können auch spezielle Diagnostika angewendet werden, die z. B. die Stressbewältigungsstrategien des Betroffenen erfassen. Ein sehr bewährtes Verfahren ist der „Fragebogen zur Erhebung der Emotionsregulation bei Kindern und Jugendlichen“ (FEEL-KJ; Grob & Smolenski, 2005). Dieser erfasst anhand von 30 Items die Bewältigung des Erlebens negativer Emotionen (Angst, Ärger und Trauer).
Hier werden neben den adaptiven Bewältigungsstrategien, wie problemorientiertes Handeln (Beispielitem: „Versuche ich selber, das Beste aus der Situation zu machen“), Stimmung anheben (Beispielitem: „Denke ich über Dinge nach, die mich glücklich machen“) oder Akzeptieren (Beispielitem: „Mache ich das Beste daraus“), auch die maladaptiven Strategien, wie Aufgeben (Beispielitem: „Mag ich nichts mehr tun“), aggressives Verhalten (Beispielitem: „Fang ich mit anderen Streit an“) oder Rückzug (Beispielitem: „Will ich niemanden sehen“), erfasst.
Das gleiche Verfahren gibt es auch in einer Version für Erwachsene (FEEL-E; Grob & Horowitz, 2014). Ein Verfahren, was speziell für Menschen mit NSSV und intellektueller Beeinträchtigung angewendet werden kann, ist das „Inventar zur funktionellen Erfassung selbstverletzenden Verhaltens bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung“ (IfES; Beinstein & Nußbeck, 2010). Dieses Verfahren besteht aus 24 Items, mit denen die Funktionen des selbstverletzenden Verhaltens auf einer vierstufigen Antwortskala erfasst werden können. Die Items verteilen sich auf fünf Subskalen (– Situative Überforderung – Erhalt eines beliebten Objektes – Vermeidung von Anforderungen – körperliches Unwohlsein – Stimulation) und ermöglichen die Erstellung eines funktionellen Verhaltensprofils.
5.) Projektive Verfahren. Abgesehen von den Testverfahren, die als standardisiert gelten, gibt es weitere Verfahren, die zur Diagnostik herangezogen werden können. So können Methoden aus der Psychoanalyse bzw. Tiefenpsychologie durchaus so sinnvoll sein wie die klassischen projektiven Verfahren. Diese zählen zu den ältesten Erhebungsverfahren überhaupt, wenn es um die Diagnose von aggressivem Verhalten geht. Der Klassiker unter diesen Verfahren ist der Rorschachtest, bei dem Tintenkleckse gedeutet werden sollen.
Frühwarnsymptome erkennen
Betroffene Jugendliche und Erwachsene leiden häufig unter Ein- und Durchschlafstörungen, ziehen sich von geschäftlichen/ sozialen/privaten Pflichten zurück und vernachlässigen sehr häufig Freundschaften und Interessen. Zudem tragen die Betroffenen sehr häufig, selbst im Sommer und beim Sport, langärmelige Kleidung und verweigern in der Regel beim Sportunterricht Aktivitäten wie Schwimmen. Zudem schließen sich die Betroffenen ohne ersichtlichen Grund sehr lange ins eigene Zimmer oder Bad ein. Neben diesen Anzeichen führen die SVV-Betroffenen häufig Rasierklingen, Messer, Scheren, Scherben, Nadeln oder Chemikalien sowie stellenweise Utensilien zur Wundversorgung (Desinfektions- und Verbandmaterial) mit sich.
Bei den Wunden kann man feststellen, dass es in der Regel verschiedenste Verletzungen sein können (z. B. Schnittwunden, Kratzer, Brandwunden), die unterschiedliche Stadien der Wundheilung aufzeigen und nicht plausibel erklärt werden können. Außerdem wird die Genese der Verletzungen häufig bagatellisiert.
Interventionen
Wie können Eltern ihren Kindern helfen?
Das Wichtigste in einer Situation, bei der selbstverletzendes Verhalten gezeigt wird, ist, als Eltern ruhig zu bleiben und die Fassung zu bewahren. Häufig sind die ElternKind-Beziehungen bei einer derartigen Symptomatik ohnehin (vor-)belastet und aus diesem Grund ist es umso wichtiger, diese Handlungen als dysfunktionale Regulationsstrategie zu sehen und nicht als bizarre Angewohnheit, die es sofort abzustellen bzw. autoritär zu verbieten gilt. Dementsprechend sollten Eltern keinen Druck auf ihr Kind ausüben, wenn es nicht darüber sprechen will. Selbstverletzendes Verhalten ist ein sehr emotionales Thema und dieses Verhalten ist häufig selbst ein Hinweis darauf, dass der Jugendliche Probleme hat, Gefühle und Affekte verbal auszudrücken.
Wenn der Betroffene den Kontakt sucht, sollte man beim Gespräch auf dessen Gefühlslage eingehen, Verständnis zeigen und keinesfalls gegen ihn arbeiten oder ihn gar mit Vorwürfen konfrontieren. Machtkämpfe wie das Wegnehmen der Rasierklingen oder das regelmäßige Absuchen des Körpers des Jugendlichen sind kontraproduktiv, weil damit die Ursache des Verhaltens nicht gelöst wird. Es wird mit solchen Handlungen lediglich versucht, die Symptome zu reduzieren, und der Jugendliche wird mit seinen Handlungen in die Heimlichtuerei gedrängt.
Zudem sollten sich Eltern oder auch der Jugendliche selbst auf jeden Fall Rat und Hilfe bei einem Experten holen. Im Schulsystem sind die ersten Ansprechpartner die Schulpsychologen. Diese werden mit dem diagnostischen Prozess beginnen und die ersten (therapeutischen) Schritte einleiten oder in schweren Fällen gleich an den Facharzt bzw. an einen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten verweisen. Natürlich können die Eltern oder der Jugendliche auch selbst einen Spezialisten aufsuchen.
Was können die Betroffenen (vor allem Jugendliche) selbst tun?
Generell sollte der Betroffene mit dem Therapeuten gemeinsam verschiedenste Skills (Handlungsstrategien) probieren, um herauszufinden, welche Methode dem Jugendlichen/Erwachsenen zusagt und mit welcher das NSSV überwunden werden kann. Bei Gesprächen mit Patienten geben diese diverse Methoden an, die ihnen geholfen haben. Darunter fallen sportliche Betätigung (v. a. Jogging oder Boxen), Eiswürfel in der Hand halten, auf ein Bett oder Kissen einschlagen, Gefühle kreativ umsetzten (z. B. malen), nach draußen gehen und schreien, Freunde, den Therapeuten oder eine Seelsorge anrufen, vermeiden, alleine zu sein, einen Freund besuchen, einkaufen gehen, ein warmes/ kaltes Bad nehmen, warm/kalt duschen, Entspannungstechniken anwenden oder ein Tagebuch schreiben. Hier sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt.
Was können Therapeuten tun?
Die Behandlungsmethoden, ob medizinisch oder psychologisch, müssen sich immer an den Ursachen orientieren und nicht frei nach dem „Gießkannenprinzip“ – viel hilft viel – eingesetzt werden. Generell sollte bei größeren Verletzungen eine medizinische Intervention erfolgen: zur Erstversorgung und eventuell auch für eine Verordnung von Psychopharmaka zur Unterdrückung des Impulses. Auf der psychologischen Seite ist es stark von der Genese des selbstverletzenden Verhaltens abhängig. Die Behandlung muss sich nach den Auslösern des Verhaltens richten.
1.) Systemische Familientherapie. Maßnahmen aus dieser therapeutischen Richtung werden dann angewendet, wenn das NSSV als ein Ausdruck eines ungünstigen familiären Systems gesehen wird. Das familiäre System wird hier als Ressource betrachtet, auf dem aufbauend das einzelne Mitglied sowohl Fähigkeiten und Stärken als auch Verhaltensstörungen entwickeln kann. Zeigt ein Familienmitglied psychische Auffälligkeiten, so wird der Betroffene als Symptomträger für das Gesamtsystem betrachtet.
2.) (Kognitive) Verhaltenstherapie. Diese findet dann Anwendung, wenn die Probleme speziell im Bereich der Affektkontrolle und -regulation liegen. Ziel ist es, den Betroffenen alternative Problemlösestrategien beizubringen. Diese Anwendung fußt auf empirisch-experimentell gewonnenen Daten aus dem Bereich der Lernpsychologie (z. B. Klassische Konditionierung). Dabei wird davon ausgegangen, dass jedes menschliche Verhalten erlernt wird und über neue Lernprozesse auch wieder verändert werden kann. Bei der kognitiven Verhaltenstherapie kommt den kognitiven und den affektiven Prozessen eine größere Bedeutung zu als in der ursprünglichen Form. Ziel ist es, den Betroffenen die psychischen Zusammenhänge des Problemverhaltens zu erläutern und neue, adaptive Handlungsstrategien an die Hand zu geben, die durch regelmäßiges „Üben“ außerhalb der Therapiesitzungen verfestigt werden sollen.
3.) Tiefenpsychologisch-fundierte Therapie. Dieses Vorgehen ist dann indiziert, wenn davon ausgegangen wird, dass das NSSV aufgrund von konflikthaften Motiven und/oder kindlichen psychischen Entwicklungsdefiziten entstanden ist. Diese inneren Konflikte sind teilweise oder ganz dem bewussten Zugriff entzogen. Theoretische Grundlage hierbei bildet das Instanzenmodell nach Freud. Neben den Strukturen spielen in diesem Zusammenhang auch der Einsatz der Triebabwehrmechanismen (z. B. Verdrängung, Verschiebung und Affektisolierung) eine große Bedeutung.
Die kontinuierliche Verletzung von psychischen Grundbedürfnissen durch ständige Abwertung und Entwertung in der Kindheit, der Jugend oder in der aktuellen Beziehung (s. „Auctoritas-Modell“; Prölß, 2020, 2021) fällt ebenso in den Bereich der Psychodynamik. Ziel der tiefenpsychologisch-fundierten Psychotherapie ist es, über den Prozess der Deutung (Aufzeigen der intrapersonellen Zusammenhänge) die intrapersonellen Konflikte des Betroffenen aufzudecken (ihm bewusst zu machen).
4.) Traumatherapie. Diese Therapie sollte dann angewendet werden, wenn das NSSV aufgrund eines katastrophalen Erlebnisses im Leben ausgelöst wurde. Ein Trauma kann durch einen Unfall, durch Misshandlungen in der Kindheit oder auch durch Naturkatastrophen etc. entstehen. Die Traumatherapie kann im Rahmen einer Verhaltenstherapie, aber auch in tiefenpsychologischen Verfahren stattfinden. Es gibt sowohl ambulante Praxen als auch Kliniken, die auf die Therapie von Traumata spezialisiert sind.
Bei ganz schweren Krankheitssymptomen und -verläufen mit ausgeprägten komorbiden Störungen muss in der Regel eine stationäre Behandlung erfolgen.
Man sollte sich bei allen psychologischen Maßnahmen bewusst machen, dass die Therapie eines NSSV ein Marathon und kein Sprint ist, denn kaputte Seelen heilen nun mal nicht so schnell wie gebrochene Knochen.
Hilfsangebote für Betroffene
www.rotelinien.de – Kontakt- und Informationsforum für Angehörige. Die Seite hat den Zweck, Familienmitgliedern, Partnern und Freunden von Menschen mit selbstverletzendem Verhalten eine Austauschplattform zur gegenseitigen Hilfe anzubieten.
www.jugendnotmail.de – eine anonyme und kostenlose Onlineberatung. Via E-Mail oder Telefon werden Kinder und Jugendliche bis 21 Jahre durch ehrenamtliche Psychologen und Sozialarbeiter beraten.
www.nummergegenkummer.de – ein Verein, der das Ziel verfolgt, für alle Kinder und Jugendlichen, ihre Eltern und andere Erziehungspersonen ein schnell erreichbares, unkompliziertes und anonymes Gesprächs- und Beratungsangebot anzubieten (Kinder- und Jugendtelefon: 116 111; Elterntelefon: 0800/111 0 550).
www.projekt-4s.de - Das Projekt „Schulen stark machen gegen Suizidalität und selbstverletzendes Verhalten (4S)“ richtet sich an alle Lehrerinnen und Lehrer sowie Beratungsfachkräfte, die im schulischen Rahmen tätig sind, um diese mit Handlungskompetenzen auszustatten und sie als Ansprechpersonen für Jugendliche zu stärken.
Literatur
Eine umfangreiche Literaturliste kann beim Autor des Artikels angefordert werden.
Dr. phil. Alexander Prölß
Beratungsrektor für Schulpsychologie, Heilpraktiker für Psychotherapie, Autor, Lehrbeauftragter an Hochschulen und pädagogischen Einrichtungen, Arbeitsschwerpunkte: Diagnostik und Behandlung von aggressiven Verhaltensweisen und Angststörungen, Förderung der Stress- und Emotionsregulation
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