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Was heißt schon normal? Mögliche Störungen des Ego

Wer kennt sie nicht, die Werbung der Sparkassen aus den 1990ern „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“? Und haben wir nicht alle damals gedacht, was für schreckliche Angebertypen da sinnbildlich ihren Namen in den Schnee pinkeln? Höher, größer, weiter. Narzissmus war noch nicht in der guten Stube angekommen, sondern hielt sich in den Hinterzimmern der psychischen Erkrankungen. Landläufig sprach man von Hochmut, Angeberei und Egoismus. Die Zeiten änderten sich, Bescheidenheit war bald keine Zier mehr, man sprach von „gesundem Egoismus“ und erkannte im Gegenzug den – in der Regel männlichen - Narzissten in der Partnerschaft. Ein gestörter Mensch machte das Gegenstück zu sich, das in der Regel weibliche Opfer, buchstäblich fertig.

Zahlreiche Spielfilme behandelten das Thema und warfen dabei schon mal Egoismus und Egozentrik, Narzissmus, Psychopathie und psychotisches Verhalten durcheinander. Aber das ist eigentlich auch kein Wunder; denn die Trennlinien sind unscharf und auch ein Blick in die ICD-10 ist nicht immer hilfreich, zumal man dort nicht alles findet, was man sucht. Heute schon gar nicht mehr. Sie ist aus einer anderen Zeit. Unsere (Er-)lebenswelt hat sich verändert.

Hinzu kommen die verschiedenen soziokulturellen Konditionierungen, denen jeder Mensch mehr oder weniger unterworfen ist, ob er will oder nicht. Und um den Warenkorb der Möglichkeiten zu füllen, dürfen die Gene nicht vergessen und muss an den Einfluss der Epigenetik gedacht werden. Dieses vergleichsweise sehr junge Fachgebiet der Biologie untersucht den Einfluss verschiedener Faktoren auf die Aktivität von Genen und somit die Entwicklung von Zellen. Sie geht davon aus, dass es andere Faktoren als Veränderungen der Sequenz der Desoxyribonukleinsäure, also der DNA, durch Mutationen oder Rekombinationen gibt, die dennoch maßgeblichen Einfluss auf Tochterzellen haben. Hierzu zählen traumatische Ereignisse.

Seit eine Patientin es vor Jahren geschafft hat, sich aus einer Beziehung zu befreien, die absolut den falschen Weg gegangen war, die sie einen Mann erleben ließ, über Jahre, der Muster zeigte, die man heute landläufig als narzisstisch oder egomanisch bezeichnen würde, weiß sie, dass es stets einen Topf gibt und einen Deckel, der darauf passt. Oft nur vermeintlich, manchmal nur kurz, aber immer schmerzlich im Ergebnis.

Schmerzhaft war für sie selbst auch die Erkenntnis, dass es nicht um Schuld ging und nicht darum, wer Recht hatte oder der bessere oder gesündere Mensch war. Zu sagen: Der andere ist krank, ich bin gesund, wäre erleichternd gewesen, nur nicht unbedingt zielführend. Erleichternd war die daraufhin schwer erarbeitete Befreiung aus Mustern, die es überhaupt möglich gemacht hatten, in einer solchen Beziehung zu landen – angezogen von ihr wie die Motte vom Licht.

Heute, viele Jahre später, weiß sie, dass ihr damaliger Mann eine Persönlichkeitsstruktur aufwies, die für eine gesunde Beziehung nicht taugte. Litt er aber auch unter einer Persönlichkeitsstörung? Und wenn ja, unter welcher? Oder besaß er manische Züge, die auf eine ganz andere Erkrankung hindeuten könnten?

Egoismus – (lat. ego „ich“ mit griech. Suffix „-ismus“) bedeutet „Eigeninteresse“, „Eigennützigkeit“ (Wikipedia).

Sie, so sagte mir Doris*, leide unter einem Helfersyndrom. Sie müsse immer jedem Menschen helfen. Und in der Tat zeigen ihre Schilderungen einen zugewandten Menschen, der immer ein offenes Ohr hat, immer Aufgaben an sich nimmt – andere werfen ihr vor: förmlich an sich reißt.

Aber das stimme doch nicht, sie sehe eben nur, worauf es ankommt, das bringe ihr Beruf als Pflegerin in einem Hospiz mit sich. In unserem Gespräch deutete sie weiterhin an, dass die Situation im Pflegebereich grauenvoll sei. Was solle sie denn tun?

Einmal Nein sagen!

Auf diesen Hinweis reagierte sie empört. „Und die kranken Menschen? Wer kümmert sich dann? Sollen die in ihrem Elend hilflos dahinvegetieren?“

Doris war zu mir gekommen, weil sie seit einem halben Jahr wegen eines Burnout-Syndroms krankgeschrieben war. Sie könne nicht mehr, schließlich sei sie keine Maschine. Es sei das System – und die Kollegen (immer m/w/d) würden sie nicht genügend unterstützen und sie vor allem nicht verstehen. Eigentlich wollte sie bei mir nach psychotherapeutischer Behandlung in einer Klinik an einem Kurs zum Thema „Stress im Beruf“ teilnehmen. Nach diesem Gespräch hörte ich jedoch lange nichts von ihr.

Als ich sie das nächste Mal sah, erklärte sie mir, dass sie zur Reha gewesen sei, die aber auch nichts genützt hätte, sie erzählte von ihrer Einsamkeit und dass sich niemand um sie kümmere.

Egozentrik – (lat. ego „ich“ und „centrum“ „Mittelpunkt“) bezeichnet die Eigenschaft des menschlichen Charakters, sich selbst im Mittelpunkt zu sehen und, damit meist einhergehend, eine übertriebene Selbstbezogenheit (nicht zu verwechseln mit Egoismus) und die Neigung, andere Menschen und Dinge beständig an sich selbst und der eigenen Perspektive zu messen (Wikipedia).

Auch Sven* ist ein guter Mensch. Er ist ein Freund. Wenn man ihn trifft und mit ihm redet, dann wünscht man sich im Stillen, man könne auch so sein wie er. Hilfsbereit, entgegenkommend, fürsorglich. Aber wehe, man gerät in sein Revier, man tut etwas, das nicht von ihm initiiert ist, geregelt, für gut befunden. Dann wünscht man sich nicht mehr, wie Sven zu sein. Dann weiß man nicht mehr, woran man ist. Schuldig auf jeden Fall.

Hinter der Fassade von Liebenswürdigkeit verbirgt sich etwas anderes. Sven ist immer auf der Hut. Jedes Wort, jeder Satz, jede Handlung könnten an seinem Heiligenschein kratzen. Er steht im Zentrum seines Lebens. In einem Gespräch unter Freunden fanden wir heraus, dass er manipuliert und Menschen gegeneinander ausspielt.

Egomanie – der Duden definiert Egomanie als eine „krankhafte Selbstbezogenheit“. Der Egomane habe das Bedürfnis, stets im Mittelpunkt allen Handelns und Geschehens zu stehen, oder interpretiert Abläufe nur mit Bezug auf sich selbst.

Ganz anders Paul*. Er ist, so sagen seine Freunde, ein großer Egoist und oft genug verhalte er sich wie ein A … loch. Er könne sehr liebenswürdig sein, aber wenn es um ihn ginge, um die Wurst sozusagen, dann ginge er „über Leichen“, nicht buchstäblich natürlich, obwohl: Zutrauen würde man es ihm. Er hat Erfolg im Beruf und irritierenderweise auch bei den Frauen. Wir, die wir ihn beobachten, sind hin- und hergerissen zwischen neidvollem Abscheu und heimlicher Bewunderung. Jemand sagte mal: Sei schlau, mach´s wie Paul.

Narzissmus – Aus Sicht der wissenschaftlichen Psychologie bezeichnet Narzissmus Menschen, die

  • den Hang zu Großartigkeit (im Verhalten oder in der Fantasie)
  • ein oft übersteigertes Bedürfnis nach Bewunderung
  • einen ausgeprägten Mangel an Empathie in ihrer Persönlichkeitsstruktur aufweisen.

Narzissten neigen zu Dominanzstreben, Selbstüberschätzung und Überempfindlichkeit gegen jede Art von Kritik.

Aishe* hat große Probleme. Sie lebt nun seit 30 Jahren in Deutschland und spricht immer noch schlecht Deutsch. Das liege daran, erklärt sie, dass sie in der Familie immer so viel zu tun gehabt habe. Und außerdem hätten erst ihr Mann und später ihre Kinder alles für sie erledigt.

Unlängst war sie wegen ihrer Rückenschmerzen beim Arzt. Dieser hat ihr empfohlen, einen Gymnastikkurs zu besuchen. Er habe ihr zudem geraten, etwas für sich selber zu tun, einmal nicht an die Familie zu denken. Wie soll das gehen? Der Arzt sei ein großer Egoist.

Persönlichkeitsstörungen liegen vor, wenn die Persönlichkeitsstruktur der von ihr betroffenen Menschen so auffällig, starr und unflexibel wird, dass die Betroffenen Probleme im alltäglichen Leben, im Umgang mit anderen Menschen entwickeln.

Silke* ist mit Sicherheit keine Egoistin. Sie tut, was sie kann, auch für andere. Sie ist das, was man landläufig als hilfsbereit bezeichnet. Und dennoch. Wenn man sich mit ihr unterhält, dreht sich alles irgendwie und sehr schnell um sie selbst. Sie hört einem zwar zu, sie antwortet, nur um sogleich zu sich und ihren Problemen zu wechseln. Man bekommt das Gefühl, sie hat zwar die Worte gehört, aber keinen Bezug zu ihnen gewonnen, zumindest nicht zu der Person hinter den Worten. Sie bezieht diese auf sich und in Kürze dreht es sich nur noch um sie selbst.

In der Regel subsumiert man heute die verschiedenen Formen von Persönlichkeitsstörungen unter zwei Stichworten. Da gibt es die allgemein „sonderbar, exzentrisch“ genannten Menschen, die paranoide und schizoide Persönlichkeitsstörungen entwickeln können. Die Hauptgruppe jedoch fasst unter den Stichworten „dramatisch, emotional, launisch“ die histrionische, narzisstische, dissoziale und die Borderline-Persönlichkeitsstörung zusammen.
Entlehnt aus https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/psychiatrie-psychosomatikpsychotherapie/stoerungen-erkrankungen/persoenlichkeitsstoerungen/krankheitsbilder/ 

Anne* erzählte mir von ihrer psychiatrischen Therapie und dass diese doch auch nicht helfen würde. Ihr Partner sei ein extremer Narzisst, ein echter „Psych“. Sie könne es ihm nie recht machen, niemals. So sehr sie sich auch bemühe, es würde niemals reichen. Dabei tue sie alles, wirklich alles, um ihm zu gefallen. Er müsse doch auch sehen, wie sie leidet. Er sage aber nur, wenn sie sich einmal beschwere, dass sie einfach zu sensibel sei und sich alles nur einbilde. Erst letztens wieder hätte sie tagelang im Bett gelegen, fast bewegungslos. Da habe er sich aufopfernd um sie gekümmert. Doch im Beruf sei sie erfolgreich, obwohl sie schon oft darunter leide, dass die Kolleginnen nicht erkennen würden, was sie alles an Verantwortung übernimmt. Darüber wolle sie auch mit mir reden.

Altruismus – (lat. alter „der andere“ bedeutet in der Alltagssprache „Uneigennützigkeit, Selbstlosigkeit, durch Rücksicht auf andere gekennzeichnete Denk- und Handlungsweise“ – kann bis heute jedoch nicht allgemeingültig definiert werden). Der Begriff ist nach seinem „Schöpfer“ Auguste Comte ein Gegenbegriff zu Egoismus und umfasse demnach eine absichtliche Verhaltensweise, die einem Individuum zugunsten eines anderen Individuums mehr Kosten als Nutzen einbringe (Wikipedia).

Wir werden durch unsere Erziehung geprägt. In unserem Erlebenszeitraum des 20. Jahrhunderts in Deutschland lag – und ist noch nicht verschwunden – ein Schwerpunkt der Erziehung auf der Maxime: Geben ist seliger denn nehmen. Ein Mensch, der zuerst an sich denkt, gilt als zumindest egoistisch. Ein „guter“ Mensch denkt zuerst an andere.

Besonders Frauen lernen früh, dass sie sich „kümmern“, sich zurücknehmen und sich nicht in den Vordergrund drängen. Immer noch. Ein erfolgreicher Mann mag als durchsetzungsfähig gelten, eine ebensolche Frau gilt schnell als herzlos, eigennützig, ja sogar grausam. Denken wir an die stets bösen Stiefmütter in den Märchen. Schauen wir sie uns einmal genauer an. Waren sie wirklich immer böse? Der Blickwinkel, aus dem heraus das Weibliche gut oder böse war, das Männliche erfolgreich und gleichzeitig gut, hat sich seither gewandelt, zumindest in der Lebenswirklichkeit des 21. Jahrhunderts. Aber manche Annahmen sitzen tief – und fest.

Unsere heutige Gesellschaft nehmen daher viele Menschen als zunehmend egoistisch wahr, in gewisser Weise sehen sie nur noch Egozentrik um sich herum. Zumindest deuten sie ihre Wahrnehmung so – und werten diese Deutung entsprechend alter hergebrachter Standards, die kulturell so gar nicht mehr uneingeschränkt gelten und gelebt werden. Nun gibt es aber auch Berichte darüber, die besagen, dass die deutsche Gesellschaft noch nie so hilfsbereit war wie heute. Gesellschaftliche Solidarität war eines der meistgenutzten Stichwörter in Zeiten der Pandemie. Wie passt das zusammen?

Es gibt in der Wissenschaft durchaus die Annahme, dass man zunächst egoistisch sein müsse, um altruistisch sein zu können. Nehmen wir das Beispiel vom Helfen in der Notsituation: Flugzeug, Sauerstoff fällt aus, die Masken fallen herab. Wem helfen Sie zuerst? Sich oder dem eventuell hilflosen Sitznachbarn? Ich denke, die Antwort ist eindeutig. Als weiterer Beleg dafür, dass Altruismus ein Stück weit egoistisch ist, wird von Soziologen und Psychologen das eigene Wohlgefühl angeführt, das sich unter anderem davon nährt, dass wir uns gut fühlen, wenn wir anderen Menschen etwas Gutes tun.

Als ich vor zehn Jahren an einem UN-Krisenmanagement teilnahm, war ich die kleinste und ziemlich älteste Teilnehmerin. So war es nicht erstaunlich, dass ich bei einer Nachtwanderung durch „feindliches“ Gebiet langsamer als alle anderen war. Ich bat daher den Hauptmann, der uns führte, darum, vorzugehen, ich würde nur alle aufhalten. Das lehnte er ab und sagte: „In einer Truppe bestimmt immer das schwächste Glied das Tempo. Keiner bleibt zurück.“

Das war mir sehr peinlich und ich bemühte mich in der Folge, schneller und aufmerksamer zu sein, was mir sogar gelang. Später fragte ich mich, ob ein solches Vorgehen auch im Ernstfall Bestand haben könnte? Und ich sah mich abends auf meiner Pritsche als Heldin, die tapfer die anderen weiterschickte, die Waffe in der Hand, um den Feind aufzuhalten und denen, die stark genug waren, einen Vorsprung zu verschaffen. Dann übertrug ich beide Gedankenspiele auf unsere Gesellschaft als Ganzes und sah, dass beide Vorgehensweisen ihre ganz eigenen Konsequenzen hatten – Ausgang in jedem Fall ungewiss.

Egomanie – eine krankhafte Selbstbezogenheit. Ein Egomane hat das Bedürfnis, stets im Mittelpunkt allen Handelns und Geschehens zu stehen. Er interpretiert Abläufe ichbezogen. In der Psychopathologie gilt Egomanie als eines von mehreren Symptomen im Zusammenhang mit einer bipolaren Störung. Megalomanie („Größenwahn“) begleitet sie in der Regel. Häufig wird der Begriff jedoch auch salopp in der Alltagssprache verwendet.

Wenn Sie den Begriff Egoismus im Internet eingeben, erhalten Sie viele Informationen – nicht unbedingt sachliche und fachliche. Meist dreht sich die Auseinandersetzung mit Egoismus darum, ob es „gesunden Egoismus“ gibt, gefolgt von der Frage: Wie viel Egoismus ist – noch – gesund? Dabei ist mit „gesund“ meist nicht der Aspekt „gesund vs. krank“ gemeint. Es geht vielmehr um moralische und ethische Aspekte und darum, ob überhaupt und wenn ja, wie viel Egoismus in der Annahme durch die Umwelt positiv oder negativ gesehen wird.

Und der Ratgeber zum Thema sind viele. Besonders auffällig sind dabei die Ratschläge an Frauen: Denk doch einmal auch an dich! Achte auf deine Bedürfnisse. Setze Grenzen. Sag einmal Nein! Ganz so, als würden Frauen dies grundsätzlich nicht tun. Und selbst wenn sie vordergründig nicht an sich denken, wie ist die oft auftretende Opferhaltung: „Sieh, was ich alles für dich/sie/euch getan habe“ einzuordnen?

Egoismus ist in unserer Gesellschaft angekommen und wird in einem gewissen Rahmen nicht nur toleriert, sondern als förderlich für Wohlbefinden und Gemüt betrachtet. In einer Gesellschaft, die das ICH als etwas grundsätzlich Wichtiges und Richtiges akzeptiert, war die Entwicklung der heutigen Gesellschaft hin zu einer noch stärkeren Ichbezogenheit kein großer Schritt.

Für Menschen aus anderen Kulturkreisen, und das ist der überwiegende Teil der Menschheit, deren Leben stets in und von der Gruppe/der Sippe/dem Clan/religiösen Gesetzen und Tabus geprägt ist, ist es anders. Dort ist die Gruppenharmonie wichtiger, als es eigene Bedürfnisse sind, so sie von der Gruppenstruktur abweichen. Innerhalb der jeweiligen Gruppenstruktur gibt es natürlich erlaubte Handlungsweisen und Verhaltensmuster, die, wenn sie in einer Gesellschaft gelebt werden, die diese Strukturen nicht kennt, als höchst egoistisch und als nicht normal angesehen werden. Tatsächlich auftretende Störungen und psychische Auffälligkeiten sind deshalb gegebenenfalls auch unter diesen soziokulturellen Aspekten zu sehen und einzuordnen.

Die Fragen, die sich uns als Behandelnde oder Beratende stellen sollte: Ist diese zunehmende Ichbezogenheit nun noch gesund, eine Störung, eine Manie im Rahmen einer anderen Erkrankung? Und überhaupt: Wie viel Normal ist noch normal?

Ab wann ist ein Mensch nicht nur gegebenenfalls egoistisch und ein klein wenig egozentrisch? Wann ist jemand ein „komischer Vogel“, ein Exzentriker, obwohl er „eigentlich ein guter Mensch“ ist? Wo verläuft die Grenze zwischen Persönlichkeitsstruktur und Persönlichkeitsstörung und anderen Erkrankungen?

Um hier einer Antwort näherzukommen, muss man sich mit dem Begriff Krankheit auseinandersetzen. Ganz grob gesagt: Als Krankheit oder eine Erkrankung wird eine Störung der normalen physischen oder psychischen Funktionen bezeichnet, die einen Grad erreicht, der die Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden eines Lebewesens subjektiv oder objektiv wahrnehmbar negativ beeinflusst.

Die Grenze zwischen Krankheit und Befindlichkeitsstörung ist dabei oft fließend. Und kann man unter Umständen sagen: Dieses oder jenes Organ ist objektiv betrachtet krank – was in der Regel auch zu einem objektiven Leidensgeschehen beim Menschen führt, wobei natürlich die subjektive Wahrnehmung auch hier sehr unterschiedlich ausfallen kann – fällt diese Betrachtungsweise bei kognitiven, psychischen und/oder emotionalen Auffälligkeiten sehr viel schwerer. Und somit auch die Diagnose. Hinzu kommt, dass Menschen mit einer sogenannten Persönlichkeitsstörung diese oft nicht als Störung empfinden.

Das neue Diagnosehandbuch ICD-11 tritt hier in Kraft: „Es ist eine gewisse Sensation, weil in der Medizin, in der Psychiatrie, wird einfach viel in einem Krankheitsmodell gedacht, das heißt ab hier ist krank, ab da ist gesund. Und das ist eben die Revolution, wenn man so will. So ist es nicht mehr, jedenfalls nicht mehr in diesen vielen verschiedenen Persönlichkeitsstörungsdiagnosen“, sagt Babette Renneberg, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der FU Berlin.
https://www.deutschlandfunk.de/psychiatriediagnosen-icd-100.html

Die ICD-11 hat zum 1. Januar 2022 die bisherigen spezifischen Persönlichkeitsstörungen aus dem Katalog der Krankheiten gestrichen. Es gibt nur noch die allgemeine Diagnose „Persönlichkeitsstörung“. Kriterien, die umschreiben sollen, wie viel Hilfe jemand braucht, sollen Diagnose und mögliche therapeutische Ansätze erleichtern. Das ist eine radikale Abkehr vom bisherigen Weg der Schulpsychiatrie.

Diese hatte die unterschiedlichen Beschreibungen der unterschiedlichen Subtypen eingeführt, um diese irgendwie unter einen Hut zu bringen. Das gelang selten und sorgte in der Folge für viel Verwirrung. Hinzu kamen gerade im Bereich der narzisstischen Störungen noch Subtypen, wie der vulnerable Narzissmus einer ist, der als solcher in der ICD überhaupt nicht zu finden war.

Ebenso wie viele andere mögliche Beeinträchtigungen der Gesundheit, die erst in neuerer Zeit überhaupt als Krankheitsbild bezeichnet wurden, bislang in der ICD nicht auftauchten. Leider wird die tatsächliche Einführung der neuen ICD jedoch noch Jahre dauern.

Ist mein Gegenüber in der Praxis, der Pflege, der Betreuung oder in der Familie nun ein Egoist oder ein Egozentriker, ist er einfach nur sonderbar oder hat er eine Macke wie schließlich irgendwie jeder von uns? Oder ist hier gar manisches Verhalten zu entdecken oder stoßen wir aufgrund einer Persönlichkeitsstörung, die der Betroffene nicht wahrhaben will, auf Granit?

Weswegen kommen Menschen zu uns – und was hat ihre Persönlichkeitsstruktur mit ihren Problemen zu tun? Ist es eine Struktur, eine Charaktereigenschaft, die uns auffällt, die wir einbauen sollten in unsere Arbeit? Oder ist diese Struktur in Wirklichkeit eine Störung? Liegt der vielleicht dann nur vorgeschobene Grund für das Gespräch eingebettet in eine krankhafte Persönlichkeit? Und wäre das Wissen darum hilfreich? Und was bedeutet kulturelle und soziale Konditionierung in diesem Kontext?

Als ich ein Kind war, in den 1960ern, galt es eine Tugend für Kinder, besonders für Mädchen, bescheiden zu sein – und sittsam. Ich war erst das eine nicht und später das andere. Ich war deshalb die schwierige Tochter, Nichte, Enkelin. Noch im Erwachsenenalter hielten mir Anverwandte vor, und daran konnte auch das Augenzwinkern nichts ändern, wie schwierig ich gewesen sei. Immer hätte ich meinen Kopf durchsetzen wollen und geschrien, wenn mir das nicht gelang. Ich sei aufsässig gewesen, hätte alles diskutieren wollen. Und dann die ganzen Jungsgeschichten und später die Reisen nach Nepal und Indien – mit Kind. Wie rücksichtslos!

War ich das? Egoistisch? Gar egozentrisch? War mein Verhalten normal? War ich normal? Würde sich heute überhaupt jemand Gedanken über mein Verhalten machen? Ist das schreiende Kind im Supermarkt heute noch eine Sensation? Wird das eindeutige Nein eines Kindes heute noch infrage gestellt?

Ich höre die Stimme eines älteren Mannes, der mir unlängst seine Meinung kundtat: „Alles kleine Egomanen. Sie starren schon mit fünf Jahren nur mehr auf ihr Handy, laufen blind über die Straße. Kein Wunder, dass immer mehr junge Menschen durch die Führerscheinprüfung fallen. Sie missachten Regeln nicht; sie kennen sie einfach nicht mehr.“

Wenn ich mit Menschen arbeite, in Seminaren, im persönlichen Coaching oder in der – auch interkulturellen – Beratung, versuche ich verstärkt, das Persönlichkeitsprofil einer Person zu erkennen oder auch das Profil der Person, mit der mein Klient, mein Patient eventuell ein Problem hat.

Die von mir aufgeführten kleinen Fallbeispiele sind zusammengestellt aus den verschiedensten Mustern, denen ich im Laufe meines Lebens begegnet bin, im privaten wie auch im beruflichen Kontext. Und immer, wenn ich die ICD-10 heranzog, war ich unzufrieden mit dem, was an Zuordnungen und Lösungen zur Verfügung stand. Diese passten für mich nur mehr bedingt in unsere Zeit.

Die ICD-11 versucht, diesem Umstand Rechnung zu tragen. Inwieweit das gelungen ist, wird sich in der Praxis erweisen müssen. Sie sich einmal genauer anzusehen, und sich darüber hinaus mit mehr Trennschärfe auf die von mir aufgeführte Begrifflichkeit zu konzentrieren, unter Berücksichtigung unserer Lebenswelten des 21. Jahrhunderts, könnte für die berufliche Arbeit mit Problemfällen jeder Art sehr wichtig werden. Gleichgültig, ob wir in unserem Beruf psychische Erkrankungen/Störungen überhaupt diagnostizieren dürfen oder wollen: Neue Blickwinkel und neue Maßstäbe können bei unserer Arbeit in jedem Fall sehr wichtig sein.

Die neue ICD jedenfalls hat Neuerungen geschaffen. Bislang sind rund 80 % der ICD-11 ins Deutsche übersetzt. Einen genauen Zeitpunkt, ab wann sie verbindlich gelten soll, gibt es bislang – so habe ich es gelesen – nur in Bezug auf Todesfälle für das Jahr 2027. Dennoch macht es m. E. Sinn, sich mit den neuen Zuordnungen und Codierungen zu befassen, zumal zeitgemäß neue Krankheitsbilder aufgenommen wurden.

Zitat: „Folgende inhaltliche Änderungen sind speziell zu erwähnen:

  • Eine bedeutsame inhaltliche Änderung ist der Lebensspannenansatz der ICD-11. So sind in der ICD-11 die Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend nicht mehr in einem separaten Kapitel untergebracht, sondern in den jeweiligen ‚Erwachsenenkapiteln‘ verschlüsselt. Beispielsweise ist die ‚Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters‘ neu im Kapitel ‚Spezifisch belastungsbezogene psychische Störungen‘.

  • Burnout wird als Berufsphänomen (QD85) und nicht als ein medizinischer Zustand verschlüsselt (WHO, 2018).'

  • Die ‚Störungen der Geschlechtsidentität‘ und die ‚Schlafstörungen‘ sind nicht mehr bei den psychischen Störungen angesiedelt, sondern in den separaten neuen Kapiteln 17 ‚Bedingungen im Zusammenhang mit der sexuellen Gesundheit‘ und sieben ‚Schlaf-Wach-Störungen‘.

  • Bei den Persönlichkeitsstörungen (PS) ist es zu einer grundlegenden Änderung gekommen: Hier wird auf die Unterteilung in zehn PS verzichtet. Man kann neu eine generelle PS diagnostizieren (6D10) und angeben, wie ausgeprägt deren Schweregrad ist (leicht, mittelgradig, schwer). Mit dieser Änderung wollte man sich einer dimensionalen Klassifizierung annähern. Zusätzlich kann durch eine Postkoordination spezifiziert werden, wie sich die Persönlichkeitszüge oder -muster manifestieren (z. B. negativistisch, zwanghaft).

  • Zusätzlich haben es einige neue Diagnosen in die ICD-11 geschafft, z. B. die Körperdysmorphe Störung, die Hoarding Störung oder die Binge Eating Störung (Gaebel, Stricker und Kerst, 2020).“
    Aus https://www.zuepp.ch/aktuelles/berufspraxis/nl23-icd-11/ 

Lara* erzählt: „Manchmal fühle ich mich krank – und völlig unnormal. Ich erinnere mich an den Rat eines Freundes in meiner Jugend. Der hatte mir gesagt, ich möge doch einfach einmal drei Schritte zurückbleiben hinter den anderen, wenn ich wieder einmal denken würde, ich käme zu kurz oder würde nicht beachtet oder könne mich nicht durchsetzen. Und tief durchatmen. Sich zurücknehmen, das wurde mir beigebracht und lag doch nicht in meiner Natur. Ich wollte immer jemand sein, niemand Besonderes, nicht an der Spitze stehen, aber doch gesehen werden. War ich deshalb eine Egoistin oder gar eine Egozentrikerin? Litt ich – denn oft litt ich tatsächlich – nun unter einer Störung?

Als ich unlängst Avatar 2 gesehen habe, habe ich es begriffen, für mich: Ich sehe dich – sagen die Eywaner, wenn sie jemanden wahrnehmen und ihn annehmen. Das war es, was ich eigentlich immer gewollt habe und auch heute noch will. Ja „will“, nicht „möchte“: gesehen werden, angenommen, anerkannt. Was versuche ich also, für mich zu tun? Ich nehme mich und mein Leben wichtig – und versuche, mich und auch meine Ängste und Zweifel nicht zu ernst zu nehmen. Manchmal gelingt es.“

Zeiten wandeln sich, kulturelle Gegebenheiten und gesellschaftliche Regeln unterliegen ständiger Veränderung. Die Annahme von Gesundheit und ihrer Abwesenheit, der Krankheit, und vor allem der Umgang damit, ist dabei durchaus mit diesen Bedingungen verknüpft. Früher hieß es: Geben ist seliger denn Nehmen. Heute heißt es – auch: Wer geben kann, muss auch nehmen können.

Die Anforderungen, die an den Menschen von heute in unserem Land gestellt werden, sind andere als noch vor einigen Jahrzehnten. Gleiches gilt für die Möglichkeiten, die wir haben, die Angebote an Lebensweisen, aus denen wir wählen können oder sollen.

Was heißt schon normal? Wie auch immer wir mit Menschen arbeiten, wir sollten versuchen, so objektiv wie möglich die Lebenswelten und die Menschen unserer Zeit im Fokus zu haben. Es liegt bei uns, den Anschluss nicht zu verlieren.

Anmerkung:
*Die aufgeführten Fallbeispiele und Personen sind frei gestaltet. Die Namen haben keinen Bezug zu tatsächlichen Personen.

Carola Seeler
Heilpraktikerin für Psychotherapie, zertifizierte Psychologische Beraterin (VFP), Trainerin, Coach, Buchautorin
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