Dornröschen wird wach geküsst ... ein modernes Märchen
Ich bin so ein Dornröschen ... Zu sehen bisher eher das Röschen als der Dorn.
... warum und an welcher Stelle genau ich einschlief, kann von mir nicht mehr genau nachempfunden werden. Tatsache ist, ich hielt mich zu jeder Zeit, an jeder Weggabelung meines Seins für hellwach.
Wahrscheinlich haben Chöre gesellschaftlicher und familiärer Hypnotiseure dafür Sorge getragen, dass ich das Summen der einheitlichen Stimmen schon für das pralle Leben hielt.
Summ, summ ... wie ich zu sein habe, damit ich artig und richtig bin.
Summ, summ ... mit gestutzten Flügeln.
Habe vergessen, wie es sich anfühlt, hoch über die Felder, an fetten Blüten vorbei, himmelwärts zu fliegen …
Über 40 Jahre hatte ich dank ausgiebigen Trainings fest angenommen, ich müsse meinen Wert und meine Bedeutung verdienen durch ganz bestimmte Taten und Errungenschaften.
Ich hatte vergessen, wer diese Regeln aufgestellt hatte. Sie waren einfach da. Ich kannte keine andere Welt. Oder hatte sie vergessen.
Sehr lange ging es mir wie dem mächtigen Elefanten in Bucays Geschichten, der Zeit seines Lebens an einen winzigen Pflock gekettet war ... ohne den Versuch zu unternehmen, zu fliehen.
Die Frage, warum dieses kraftvolle, große Tier keinen Ausbruchsversuch unternimmt, haben weise Menschen bereits beantwortet. Der Elefant flieht nicht, weil er seit frühester Kindheit an einen solchen Pflock gekettet ist.
Der wehrlose neugeborene Elefant hatte sicher noch Anstrengungen unternommen, sich zu befreien, musste aber feststellen, dass der Pflock zu tief in der Erde steckte. Er hat es wieder und wieder versucht, bis er eines verhängnisvollen Tages für seine Zukunft sich in sein Schicksal fügte und ohnmächtig akzeptierte, dass er nicht fliehen kann.
Dieser riesige, mächtige Elefant flieht also nicht, weil der Ärmste glaubt, er kann es nicht. Allzu tief hat sich die Erinnerung daran, wie ohnmächtig er sich kurz nach seiner Geburt fühlte, in sein Gedächtnis eingebrannt.
Und das Schlimme dabei ist, dass er diese Erinnerung nie wieder ernsthaft hinterfragt hat. Nie wieder hat er seine Kraft auf die Probe gestellt.
Bei mir ist es anders ...
Ich sage nicht Gott sei Dank, obwohl ich annehmen möchte, dass Gottes Liebe im Spiel ist. Meine Kraft wird nämlich gerade auf die Probe gestellt.
Scheinbar hab ich den bewussten Zugang zur Sprache meiner Seele auf der 53-jährigen Strecke meines Lebens in Teilen verloren. Und jetzt bekomme ich einen Schlüssel in die Hand gedrückt, der mir zunächst überhaupt nicht passt.
Der nirgendwo passt …
... und dennoch halte ich ihn in der Hand: Ich habe eine lebensbedrohliche, chronische Erkrankung entwickelt. Krebszellen gären in mir.
Jetzt ist es höchste Zeit, alles zu leben!
Jetzt ist es Zeit, auch den piksenden Dorn mitaufzunehmen ins Repertoire meiner Ausdrucksmöglichkeiten.
Jetzt ist es Zeit für meine Seele zu gären, zu wachsen, mich dem Pflock zu entreißen, hoch zu fliegen.
Diese Somatisierung scheint der Versuch einer Lösung und verdeutlicht, wo Defizite herrschen, wo ich Teile von mir zurückhalte, wo ich herumkrebse.
Das Symptom hält mir sozusagen einen Spiegel vor, in dem ich direkt lesen kann, wenn ich möchte.
In ihm kann eine heilsame Information liegen: Ich habe eine furchteinflößende Wachstumsproblematik. So viel ist sicher.
Meinem Entsetzen, meiner Entrüstung, meiner Angst folgt ein Innehalten. Ja, ich werde sterben. Aber sicher nicht sofort.
Vielleicht werde ich ... bevor ich sterbe ... alles leben.
Werde und stirb.
So ist es doch ... Und so ist das Leiden am Ende womöglich ein Selbstheilungsversuch ...
„Durch die Krankheit kann der Prozess der Selbstfindung in Gang gesetzt werden“, so der Basler Psychosomatiker Dieter Beck. Und das ist bei allem Schmerz, der inneren Not und Angst auch mein Empfinden.
Der Schlag ins Gebälk meines Lebensgebäudes ist ein Zurückwerfen auf die Grundfragen des Seins und lädt mich ein, aus eigener Anschauung zu lernen. Nachdem ich mir zunächst einbildete, alles sei verloren, spüre ich jetzt, dass etwas Neues beginnen kann. Ich spüre den Kuss des Erwachens.
Silke Schmalfuß-Soth schreibt:
„Das Märchen von Dornröschen, hinter dem uralte Erfahrungen und ein tiefes Verständnis menschlicher Verstrickung stehen, zeigt in einprägsamer Weise modellhaft Konflikt und Erlösung des Problems.
Im Sinne der Psychologie sind alle vorkommenden Personen als Facetten oder Anteile ein und derselben Person zu verstehen: Jeder von uns ist sowohl das Königskind mit vielen guten Begabungen und Ressourcen, hat aber gleichermaßen auch dunkle Seiten in sich wohnen.
Das frühkindliche Trauma (Verletzung durch die Spindel) führt zur Selbstentfremdung (Hundertjähriger Schlaf ist ungelebtes Leben): Die Liebe zu sich selbst ist das erlö- sende Zauberwort.
Wachküssen müssen wir uns selbst und ein Versprechen für die Zukunft (Heirat) geben, das gesunde Lebensmuster auch wirklich zu leben.“
Die Krankheit ist der Weckruf ...
Ich habe auf meinem Weg seit der Diagnose vieles von mir gesehen, ausgesprochen und gelebt, was ich ohne die Diagnose nicht ans Tageslicht befördert hätte. In diesem Sinne ist sie für mich wirklich eine Gesamtschau.
Ich habe mich besser kennengelernt und mich anderen zugemutet in allen Farben und Schattierungen.
Diesen Weg des ehrlichen, achtsamen Austauschs will ich vertiefen. Ich werde mich mir ganzheitlich zuwenden. Das ist umso notwendiger, weil die Schulmedizin mein betroffenes Körperteil ausschließ- lich mit Stahl, Strahl und Chemie begleitet. Beate mit Seele, Herz und Hirn kommt darin nicht vor.
Teilen von mir wird der Krieg erklärt. Ja, der Kriegszustand wird ausgerufen. Der Kampf soll beginnen.
Ich beginne mit Religion.
Ich verbinde mich neu.
Mit all meine Anteilen.
Mit meiner göttlichen Kraft im gegenwärtigen Moment.
Jetzt.
Ehe mein Tag endet und ehe er beginnt, lege ich ihn in Gottes Hände und übergebe mein Bewusstsein dem Himmel. Segen ist im Überfluss vorhanden und das Leiden findet ein Ende.
Liebe nährt meine Seele und transzendiert das Triviale in die vollkommene Zuversicht eines seelenvollen Lebens in jeder Situation, weil eine höhere Macht am Werk ist. Die Kunst des Himmels ist immer ein Meisterwerk der Zärtlichkeit, der Liebe, der Heilung. Möge sie die Leinwand unseres Lebens mit schönsten Farbspritzern übersäen.
Amen!
An dieses Gebet will ich mich erinnern, wenn Angst und Ahnungslosigkeit nach mir schnappen ...
Wie gehst du mit Krankheit um?
Welche Modelle von Krankheit und Gesundheit sind dir hilfreich?
Wo suchst und findest du Antworten der Erleichterung?
Über eure Impulse und Inspirationen freue ich mich!
Von Herzen, Beate!
Beate Kohlmeyer
Heilpraktikerin für Psychotherapie, zertifizierte Psychologische Beraterin, Hannover
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