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„Deutschland wird immer depressiver!“

fotolia©photoschmidt94, 95 … 96 Mails! Das ist ein neuer Rekord! Zumindest kann ich mich in meiner Laufbahn, die mittlerweile fast 15 Jahre Selbsthilfearbeit umfasst, nicht daran erinnern, dass innerhalb eines Monats so viele Zuschrif ten zu ein und demselben Thema auf meinem heimischen PC eingegangen sind. Zuletzt waren es tatsächlich 96 Nachrichten, die sich ausschließlich um Depressionen drehten. Menschen aus nahezu dem gesamten Bundesgebiet schreiben in großer Hilflosigkeit – und ich hatte zwischenzeitlich Mühe, mit einer einigermaßen ausführlichen Beantwortung hinterherzukommen. Doch woran liegt das, dass nicht nur bei mir der Eindruck entsteht: „Deutschland wird depressiver!“?

Natürlich, das Wetter spielt eine Rolle. Ich weiß nicht, ob ich wirklich an diese Zusammenhänge glauben will, aber auch der Frühling macht vielen Menschen Probleme. In Gang kommen, die Natur genießen und wieder neue Lebendigkeit spüren. Nicht je der schafft das auf Knopfdruck. Und sicher: Heute werden wir viel früher auf solch ein Krankheitsbild aufmerksam, weil wir sensi bilisiert sind. Auch wenn ich an den täglichen Mails deutlich ablesen kann, wie weit es um die Akzeptanz der Depression in den Familien des Landes tatsächlich bestellt ist, sind wir informierter über eine mittlerweile nicht grundlos als „Volkskrankheit“ titulierte Symptomatik, die noch immer viele Außenstehende müde belächeln.

Dabei ist Depression weit mehr als eine vorübergehende Niedergeschlagenheit. Wer selbst schon einmal betroffen war, der weiß, wie sich das anfühlt: energielos, mutlos, wie gelähmt. Der Sinn für das Morgen fehlt, nichts kann wirklich ablenken, die Gedankenspirale dreht sich um Sorgen und Nöte der Zukunft. Da hilft kein bloßer Anwurf „Raff dich auf!“, das ist ein Zustand wie zementiert. Stimmung, Gedächtnis und Motorik können beeinflusst sein, Hoffnungslosigkeit und die Frage nach dem Wert des Lebens tun sich auf. Schwere Depressionen führen nicht selten zu psychotischen Episoden, in denen der Wahn das Heft des Handelns übernimmt. Und zwischen alledem bleibt dann höchstens Zeit für das Allernötigste: Essen, Trinken, Toilette.

Man kann ausreichend diskutieren über die biochemischen Mechanismen der Depression, den Anteil von genetischen Faktoren. Man kann zurückblicken in die Kindheit oder man sucht Persönlichkeitsstrukturen, die das Auftreten einer Depression befördern können. Wenn wir danach fragen, warum Depressionen heute gefühlt „mehr“ geworden sind als früher, dann tauchen in den vielen Mails der Betroffenen spannende Hinweise auf die tatsächlichen Ursachen manch einer Depression auf. Ich bin fest davon überzeugt: Bereinigen wir die Zahlen um die verbesserte Edukation über die Krankheit, über das frühere Aufmerksamwerden auf die Depression und die Bereitschaft, sich schneller Hilfe zu suchen, so bleibt am Schluss doch noch eine deutliche Zunahme der Krankheitsfälle in den letzten Jahrzehnten.

Und ein Stichwort begegnet uns dabei immer wieder: Überforderung. Wir sind mit der Familie überfordert, mit dem Job, mit dem Partner, mit unserem gesamten Leben. Immer häufiger taucht die Arbeitswelt als Faktor auf, der depressiv macht. In kürzerer Zeit sollen wir immer mehr leisten, teils in befristeten und prekären Beschäftigungsverhältnissen, daneben möglichst ganztägig präsent sein und die Arbeit vom Büro, von unterwegs und zu Hause aus erledigen.

Wir fühlen uns häufig degradiert zum Hamster in seinem Rad, dem es an Perspektive fehlt. Nicht wenige schreiben ehrlich, dass sie durch die neuen Medien einsam geworden sind – eine Einstiegsfalle für Depressionen. Und andere wiederum machen die Gefühlsarmut selbst unter Angehörigen dafür verantwortlich, dass es an zwischenmenschlichen Beziehungen hakt, die aber eigentlich so wichtig sind für den Blick in die Weite.

96 Mails mit individuellen Geschichten, die oftmals aber auch gezeichnet sind von einer ewigen Suche nach Hilfe: drei, vier, fünf und sechs Monate Wartezeit auf einen Termin beim Psychotherapeuten. Einige von ihnen führen nicht einmal mehr Wartelisten, haben einen Stopp bei der Patientenaufnahme verhängt.

Bekommen wir Verhältnisse wie in den USA, dort, wo das „Consulting“ zum guten Ton dazugehört? Ich will mir eine solche Gesellschaft nicht ausmalen, in der wir auch ein Stück unserer Freiheit aufgeben. Denn nicht selten begeben sich Patienten in ihrer Ohnmacht in eine Abhängigkeit von Therapie und Therapeut – und vergessen dabei, wie es eigentlich ist, selbstständig zu leben und auf eigenen Beinen zu stehen.

Daher kann mein Rat nur sein, dass wir versuchen müssen, an den wesentlichen Stellschrauben unseres gesellschaftlichen Miteinanders zu drehen. An denen, die mitverantwortlich dafür sein dürften, dass Depressionen sprießen. Das ist auch eine politische Aufgabe. Denn wir müssen fragen: Welche Lebenswirklichkeit wollen wir tatsächlich?

Gerade in Zeiten, in denen viel über den Umbruch der Arbeitswelt gesprochen wird, in denen Familie wieder stärker in den Mittelpunkt des Daseins gerückt werden soll, flexible Modelle eine Neustrukturierung des Alltags und damit einen Mehrwert für alles außerhalb der täglichen Zwänge und Verpflichtungen ermöglichen sollen, da wird es nötig, auch mit klaren Worten aufzutreten: Wir riskieren in einem Land des Wohlstands nicht nur eine Spaltung in Arm und Reich, sondern auch in zunehmend verbittert einerseits – und glückselig andererseits. Denn dass gerade die soziale Stellung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, welche Erfolgsaussichten wir für unser Leben haben, dieser Zusammenhang ist ja nicht erst seit gestern bekannt.

96 Mails erzählen deshalb auch vom Gang zur „Tafel“, vom Flaschensammeln und Betteln – gleichzeitig aber auch von finanzieller Zufriedenheit bei innerem Ausgebranntsein. Ermutigende, annehmende und durchtragende Worte sind dann vonnöten, zum Gespräch einladen und letztlich versuchen, durch das Teilen der Situation etwas Linderung im Leid zu schaffen – mehr kann ich auch nicht tun. Denn therapeutische Arbeit, die müssen andere leisten.

Was wir alle bewerkstelligen können, das ist die Erinnerung an unsere Empathie: Verunglimpfen wir nicht die, die psychisch und physisch am Boden liegen, als solche, die zu faul und zu feige für unsere Gesellschaft sind.

Denn auch derartige Mails lese ich: Da werden Depressionskranke zum Spielball von Vorurteilen, Diskriminierung und Gefühllosigkeit. Dabei ist Fingerspitzengefühl gerade dann nötig, wenn manch einer noch drauftreten würde. „Unten sein“, das ist wahrlich keine Schande. Kaum jemand will wahrhaben, dass es jeden treffen kann.

96 Nachrichten mit Schicksalen, die dich wie mich jederzeit einholen können. Machen wir uns bewusst, dass es etwas mehr braucht als Respekt, dass wir Depressionen nicht nur „tolerieren“ müssen. Sie sind inmitten der Wahrheit, rechts und links neben uns.

Ernst genommen zu werden, das wünsche ich den 96 Absendern der Mails, aber auch all denen, die selbst dazu nicht die Kraft besitzen.

Dennis RiehleDennis Riehle
Psychologischer Berater (VFP), Personal Coach, Selbsthilfeinitiative im Kreis Konstanz für Zwangserkrankungen, Phobien, psychosomatische Störungen und Depressionen
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Foto: fotolia©photoschmidt