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Mehr Selbstvertrauen durch Ressourcenstärkung

2011-04-Selbstvertrauen1

Herr S., ein junger, recht attraktiver Mann, leidet seit vielen Jahren unter extremer Schüchternheit. Sein gegenwärtiger Zustand erscheint ihm zunehmend als hoffnungslos und er hat schon lange aufgegeben, an sich und seine eigenen Bewältigungsstrategien zu glauben. Sein, durch die übermäßige Schüchternheit bedingter, sozialer Rückzug hat mittlerweile zum Verlust nahezu seines gesamten Freundeskreises geführt. Er ist verzweifelt, fühlt sich isoliert und wird von seinen negativen inneren Überzeugungen und Grübelschleifen förmlich verschlungen. Mittlerweile haben diese komplexen Probleme im Leben von Herrn S. solche Bedeutsamkeit erlangt, dass es ihm nicht mehr gelingt, die Dinge zu tun, die ihm Freude bereiten. Er ist der verzweifelte Gefangene seines eigenen negativen Gedankenkäfigs …

fotolia©corepicsSolche oder ähnlich gelagerte Fälle erleben wir in unserer beruflichen Praxis als psychologische Berater oder Therapeuten sehr häufig. Die Klienten, die sich hilfesuchend an uns wenden, befinden sich in ausgeprägten persönlichen Krisensituationen und haben den Glauben an die eigenen individuellen Copingstrategien verloren. Sie haben kein Vertrauen mehr in ihre Fähigkeiten und in sich selbst.

Die Begriffe Selbstvertrauen oder gleichbedeutend auch Selbstwert werden in der Psychologie definiert als „Selbstsicherheit mit Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Leistungen“ bzw. als „die subjektive Einschätzung des Werts der eigenen Person“. (Margraf, et al., Pschyrembel – Psychiatrie- Klinische Psychologie-Psychotherapie, S. 736 f.) Ein solides und positives Selbstwertgefühl ist demnach ein fundamentaler Bestandteil und die Basis psychischer Stabilität und geistiger Gesundheit.

Was aber ist zu tun, wenn das Vertrauen des Klienten in sich selbst und seine individuellen Lösungsstrategien tief erschüttert ist? Im Umgang mit persönlichen Krisen besteht meist die Gefahr, dass die positiven Ressourcen des Klienten durch seine Fokussierung auf die problematischen Aspekte vorschnell aus dem Blickwinkel der Aufmerksamkeit verschwinden. Es entsteht eine Art „negativer Tunnelblick“ und der Klient verharrt im Netzwerk seiner negativen Gedanken.

Eine Hauptaufgabe unserer therapeutischen Tätigkeit besteht deshalb darin, die positiven Selbstwirksamkeitserfahrungen des Klienten zu reaktivieren. Das heißt, die vorhandenen Stärken und Fähigkeiten des Klienten aufzugreifen und wieder nutzbar zu machen. Das Ziel ist die „Kapitalisierung“ der positiven Ressourcen des Klienten.

Als besonders praktikables und effizientes Mittel zur Ressourcen-Kapitalisierung hat sich das Konzept der 6 Säulen des Selbstwertgefühls des amerikanischen Psychologen Nathaniel Branden erwiesen.

Neben den im Laufe der kindlichen Entwicklung erworbenen Faktoren zu einem gesunden und stabilen Selbstwertgefühl, nennt Branden für die 6 Säulen des Selbstwertgefühls folgende Bedingungen:

1. Bewusstes Leben

Bewusst zu leben beinhaltet unter anderem, sich aktiv der Realität zu stellen und sich selbst gegenüber ehrlich zu sein. Wer beispielsweise Differenzen in seinem sozialen Umfeld wahrnimmt und die Auseinandersetzung damit vermeidet, verpasst die Chance, diese Konflikte zu lösen. Eigene „Fehler“ können nur korrigiert werden, wenn man sie nicht ignoriert. Wer bewusst leben möchte, sollte kontinuierlich überprüfen, ob das, was er tut, auch wirklich das ist, was er tun will.

Sich selbst gut zu kennen ist ein wichtiger Faktor beim bewussten Leben. Es ist zuweilen nicht so einfach, den Unterschied zwischen dem, was wirklich passiert, den eigenen Deutungen und der dabei entstehenden Emotion auszumachen. Bewusst leben heißt demnach, sowohl die Tatsachen der inneren Realität (Bedürfnisse, Emotionen, Wünsche, etc.) als auch die der äußeren Welt anzuerkennen und zu achten.

2. Selbstannahme

Ich bin, wie ich bin. Das klingt relativ einfach, dennoch ist es für viele problematisch, sich als Person vollkommen anzunehmen. Jeder hat spezifische Handlungsweisen, Eigenschaften und Emotionen, die er an sich nicht mag und bei denen es besonders schwer fällt, diese zu akzeptieren. Dabei soll es nicht darum gehen, die „ungeliebten“ Anteile plötzlich lieben zu lernen, sondern diese als gegebenen Anteil der jeweils ganz eigenen Persönlichkeit anzunehmen.

Nach Branden ist für den Aufbau eines positiven Selbstwertgefühls eben diese Selbstannahme bzw. Selbstakzeptanz eine fundamentale Notwendigkeit.

3. Eigenverantwortlich leben

Ziel der meisten Menschen ist es, ihr Leben selbst zu kontrollieren. Kontrolle bedeutet in diesem Zusammenhang, selbstständig Entscheidungen zu treffen und Eigenverantwortung zu übernehmen. Nur so haben wir die Möglichkeit, zu erfahren, dass wir selbst etwas aktiv bewirken können. Dies stärkt in der Folge natürlich unser Selbstwertgefühl. Fühlt sich eine Person jedoch öfter ausgeliefert, so rutscht sie eher in die Rolle des Opfers, die in der Konsequenz mit einem geschwächten Selbstwertempfinden einhergeht. Verantwortlich für das eigene Leben, das persönliche Glück und die Erfüllung der individuellen Bedürfnisse zu sein bedeutet jedoch nicht, sich schuldig und weniger wert zu fühlen, wenn dies nicht immer gelingt. Es geht vielmehr darum, den Mut zu haben, weiterzumachen, aus den vorherigen Fehlentscheidungen zu lernen, neue Entscheidungen zu treffen und entsprechend zu handeln. Eigenverantwortlich leben bedeutet des Weiteren, sich um seine ganz individuellen Bedürfnisse zu kümmern. Dies ist sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich angebracht. Branden spricht hier von dem „Maß an Bewusstsein“, welches die jeweilige Person bereit ist, seinen Beziehungen und seiner Arbeit entgegenzubringen. Jeder ist selbst dafür verantwortlich, wie er mit anderen Menschen umgeht, wie er sich ihnen gegenüber verhält und wie er in Konfliktsituationen interagiert. Wer jedoch versucht, anderen die Schuld für seine Befindlichkeit und sein Verhalten zu geben, lehnt in der Konsequenz die eigene Verantwortung ab. Dieses Ablehnen der Eigenverantwortung führt wiederum zu einer geschwächten Selbstwirksamkeit.

4. Selbstsicheres Behaupten der eigenen Person

Was hat Selbstbehauptung mit Selbstwert zu tun? Selbstbehauptung bedeutet gerade nicht, seinen Willen mit aller Macht durchzudrücken oder sich gegen alle anderen zu behaupten. Es bedeutet vielmehr, zu sich selbst und seiner Persönlichkeit zu stehen. Selbstbehauptung heißt auch, anderen nichts vorzumachen, um von ihnen geachtet oder respektiert zu werden. Dafür braucht es kein aggressives und machtvolles Auftreten, sondern einfach nur ein glaubwürdiges, ein authentisches Selbstbewusstsein, unabhängig von der Meinung anderer.

Das ist allerdings nicht immer leicht, denn im Laufe unserer kindlichen Entwicklung haben die meisten von uns die Erfahrung gemacht, dass wir unsere Wünsche und individuellen Bedürfnisse nicht so wichtig nehmen sollen bzw. eine egoistische Handlungsweise von der Außenwelt (Eltern, Erzieher, Lehrer etc.) in den meisten Fällen negativ konnotiert wurde. Je wichtiger wir jedoch uns selbst und unsere individuellen Bedürfnisse nehmen und je bewusster wir zu uns und unserer Persönlichkeit stehen, desto stärker wird unser Vertrauen in uns!

5. Zielgerichtetes Leben

Zielgerichtet leben bedeutet, positive und realistische Ziele vor Augen zu haben, konkret die Umsetzung dieser Ziele zu planen und diese Schritte kontinuierlich zu verwirklichen. Dabei ist das Formulieren von „guten“ Zielen gar nicht so einfach. Viele Menschen setzen sich unrealistische und damit utopische Ziele. Dieses Streben nach Unerreichbarkeit führt dazu, dass diejenigen in eine Spirale der Frustration geraten und vormals positive Aspekte aus den Augen verloren werden.

Im Rahmen unserer therapeutischen Tätigkeit hat daher das gemeinsame Erarbeiten eines realistischen und damit erreichbaren Ziels (oder Teilziels) die größte Priorität in der Zusammenarbeit mit dem Klienten. Denn: Zielgerichtet zu leben trägt letztlich zu einem positiven Selbstwertgefühl bei, weil es das systematische und damit erfolgreiche Handeln fördert.

Hat der Klient sein Ziel oder das erste Teilziel erreicht, steigt durch den erlebten Erfolg sein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und damit sein Selbstwert. Zielgerichtet leben bedeutet also im Wesentlichen, das Formulieren erreichbarer Ziele in verschiedenen Lebensbereichen, die Festlegung konkreter Schritte zur Durchsetzung des Ziels, die beständige Überprüfung der Wirksamkeit der festgelegten Handlungsschritte und schließlich ein starkes Durchhaltevermögen bzw. die Ausdauer, das gesetzte Ziel, auch bei eventuellen Rückschlägen, nicht aus den Augen zu verlieren bzw. aufzugeben.

6. Persönliche Integrität

Persönliche Integrität wird oft beschrieben als die fortwährend aufrechterhaltene Kongruenz des persönlichen Wertesystems mit dem eigenen Handeln. Ein integrer Mensch lebt in dem Bewusstsein, dass sich seine persönlichen Überzeugungen, Maßstäbe und Wertvorstellungen adäquat in seinem Verhalten ausdrücken. Persönliche Integrität ist als Treue zu sich selbst zu verstehen. Nach Ansicht Brandens verraten wir als integre Persönlichkeit unseren Verstand, sollten wir unseren Werten zuwiderhandeln. Auch wenn unser Gegenüber eine Heuchelei oder unehrliche Tat gar nicht bemerken würde, unser „innerer Richter“ beobachtet uns ständig und ist damit eine besonders ernst zu nehmende Instanz. Unsere eigenen Wertmaßstäbe zu verraten, ist nach Branden nicht nur mit einem gewissen Unbehagen verbunden, sondern „vergiftet“ unseren Geist. Es lohnt sich demnach, genau zu reflektieren, in welchen Situationen wir nicht nach unseren Werten handeln, denn das „[…] Selbstwertgefühl ist wertvoller als irgendeine kurzfristige Belohnung dafür, dass ich es verrate.“ (Branden, N.; Die 6 Säulen des Selbstwertgefühls: Erfolgreich und zufrieden durch ein starkes Selbst, S. 188)

fotolia©Robert KneschkeSo wäre im oben beschriebenen Fall des von schwerer Schüchternheit geplagten Herrn S. viel Ressourcen- und Zielarbeit erforderlich, um ihn zu unterstützen, sein verlorenes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten wiederzuerlangen. Dabei steht eine systematische Ressourcenanalyse generell am Anfang jeder Therapie und bringt mittels gesprächspsychotherapeutischer Fragetechniken eventuelle Dysbalancen in den Denkund Verhaltensweisen des Klienten ans Licht. Die hilfesuchenden Klienten befinden sich häufig in einem defizitfokussierten Zustand und sind sich ihrer vorhandenen Ressourcen meist wenig bewusst. Um einen Perspektivenwechsel hin zu lösungs- und ressourcenorientiertem Denken aktiv herbeizuführen, ist es Aufgabe des Beraters oder des Therapeuten, den Klienten aus diesem dysfunktionalen Denksystem zu befreien. Ziel der ressourcenorientierten Gesprächsführung ist es, das unmittelbare positive emotionale Erleben der Person zu erhöhen und damit die Aufarbeitung der problematischen Bereiche zu erleichtern.

Im Folgenden werden die wichtigsten Ressourcenperspektiven (nach C. Flückinger et al.) aufgezeigt. Durch sukzessives Einfließen der verschiedenen Perspektiven im Rahmen des therapeutischen Gesprächs wird ein positiver Rückkopplungsprozess beim Klienten in Gang gebracht, welcher sich insbesondere durch eine verbesserte Arbeitsbeziehung zwischen Klient und Therapeuten sowie größere Offenheit und Kooperationsbereitschaft äußert und außerdem eigene Problembewältigungsversuche des Klienten reaktiviert. Dabei zeichnen sich die nachstehenden 6 Perspektiven jeweils durch zwei konträre Pole aus, die einander ergänzen.

  1. Das Wahrnehmen und Verstärken unmittelbar dargebotener Ressourcen und aktives Heranführen an brachliegende Ressourcen
  2. Verbalisieren von Ressourcen und unmittelbares Erlebbarmachen von Ressourcen
  3. Potentiale Ressourcen nutzen und motivationale Ressourcen integrieren
  4. Persönliche Ressourcen verstärken und Ressourcen des sozialen Umfeldes fördern
  5. Auf problemunabhängige Ressourcen fokussieren und problemrelevante Ressourcen nutzen
  6. Verbrauchbare Ressourcen optimieren und trainierbare Ressourcen fördern und aufrechterhalten (Flückinger et al., Ressourcenaktivierung. Ein Manual für die Praxis., S. 18)

Diese 6 Perspektiven dienen gleichzeitig als Such- und Findetechnik, welche es der beratenden Person erlaubt, sich im „komplexen Lösungsraum zu bewegen und nach potentiellen Lösungswegen zu suchen“. (Flückinger et al., Ressourcenaktivierung. Ein Manual für die Praxis., S. 31)

Bei der therapeutischen Arbeit ist es folglich von grundlegender Bedeutung, mit dem Klienten gemeinschaftlich mögliche Lösungsstrategien zu produzieren. Es ist nicht die Aufgabe des Beraters oder des Therapeuten, dem Klienten eine Lösung vorzugeben, die nicht seinem eigentlichen Ressourcenprofil entspricht. Solch eine Lösung wäre eher die Lösungsstrategie der beratenden Person und damit dem Klienten aufoktroyiert. Dies würde im Umkehrschluss dazu führen, dass der Klient in eine Art Abhängigkeitsverhältnis zum Berater bzw. zum Therapeuten gerät, was weder dem Selbstwert des Klienten noch seiner Ressourcenarbeit zugute käme.

„Ratschläge sind letztlich auch nur Schläge!“ – dieser Satz sollte oberste Prämisse jeder therapeutischen Arbeit sein. Denn meist steckt die Lösung eines Problems bereits im Klienten selbst und wird vom Berater durch gezieltes Fragen lediglich „sichtbar gemacht“.

Abschließend wäre demnach im Fall des schüchternen Herrn S. angezeigt, den inneren Konflikt für den Klienten „sichtbar“ zu machen und mit ihm gemeinsam eine Herangehensweise zu erarbeiten, die es ihm ermöglicht, seine fehlende soziale Kompetenz und die in ihm vorhandenen Ängste abzubauen und so schrittweise wieder zurück ins Leben zu finden.

Herr S. wird so in der Therapie lernen, auch die „ungeliebten“ Facetten seiner Persönlichkeit in sein Selbstbewusstsein zu integrieren und sie schließlich als einen festen Teil seines Selbst zu akzeptieren. Mittels Bearbeitung der 6 Säulen des Selbstwertgefühls, positiver Perspektivenarbeit und therapeutischer Interventionstechniken kann Herr S. in der Therapie kontinuierlich am Aufbau eines neuen, gesunden Selbstvertrauens arbeiten und eine ganz neue Lebensqualität erfahren. Ein Mensch ist stark, sobald er sich auch seiner Schwächen bewusst ist und diese als einen Teil seiner Persönlichkeit akzeptiert. Diese Selbstakzeptanz führt schließlich dazu, in sich selbst zu ruhen und im eigenen Gleichgewicht zu leben. Unsere Aufgabe als psychologische Berater oder Therapeuten sollte es sein, mit dem Klienten zusammen seine heilsame Selbstakzeptanz zu fördern und seine Ressourcen dahingehend nachhaltig zu manifestieren.

Literaturempfehlungen (Auswahl)

  • Bartling, Gisela et al., Problemanalyse im psychotherapeutischen Prozess. Leitfaden für die Praxis, Verlag W. Kohlhammer, 2008
  • Branden, Nathaniel, Die 6 Säulen des Selbstwertgefühls: Erfolgreich und zufrieden durch ein starkes Selbst, Piper Verlag, 2011
  • Flückinger, Christoph et al., Ressourcenaktivierung. Ein Manual für die Praxis, Verlag Hans Huber, 2009
  • Wilken Beate, Methoden der kognitiven Umstrukturierung. Ein Leitfaden für Therapie und Praxis, Verlag W. Kohlhammer, 2010

Nadine LabanNadine Laban
Diplom-Soziologin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Burnout-Beraterin, Seminarleiterin für Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson. Lebt und arbeitet erfolgreich als freie Dozentin und in ihrer Privatpraxis. Therapeutische Schwerpunkte u. a. Stressprävention und Burnout-Beratung, depressive Störungen, Bewältigung von akuten Lebenskrisen und Anpassungsstörungen, Behandlung von Angst- und Panikzuständen. Privatpraxis für heilkundliche Psychotherapie (HPG)
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Der einfacheren Lesbarkeit halber wurde im gesamten Text auf die jeweilige Nennung der maskulinen und femininen Form verzichtet. „Man(n)/ Frau“ möge mir – als Frau – diese für mich bequemere, wenn auch nicht optimale Lösung verzeihen.