Überlegungen zu möglichen Ursachen der Demenz
„Der hat den Verstand verloren“
Früher sagte man von jemandem, der nach einem Schock sein Gedächtnis verloren hatte: „der hat den Verstand verloren“ – heute heißt es: „Er ist dement.“ Der Unterschied scheint mir weniger in der Wortwahl zu liegen als vielmehr darin, dass man den Zusammenhang zwischen einem Schockerlebnis und einem darauf folgenden fortschreitenden Gedächtnisverlust weniger wahrnimmt. Früher sah man die Zusammenhänge – heute konzentriert man sich auf die Symptome.
Eine gute Bekannte – hier nenne ich sie Annelie – Mitte 60, die ich seit vielen Jahren kenne, erzählte mir folgendes Ereignis, das sie sehr erschreckt hatte: Im Freundeskreis wollte sie von einer witzigen Begebenheit erzählen, die sie vor Kurzem erlebt hatte. Sie kam nicht weit mit ihrer Geschichte, denn auf einmal wusste sie nicht mehr, wie es weiterging. Ihre Erinnerung war wie abgeschnitten. Um dennoch zu einem Abschluss zu kommen, fantasierte sie irgendein Ende hinzu. „Das stimmt doch gar nicht“, griff ihr Mann ein, und erzählte die Geschichte zu Ende, wie sie tatsächlich verlaufen war. Nun erst konnte auch sie sich wieder erinnern.
Was war vorgefallen? Ich kannte Annelie als geistig und körperlich sehr aktive und rege Frau, die mitten im Leben stand. Etwas Unheimliches war mit ihr geschehen, das sie sich nicht erklären konnte und dem sie keinen Namen geben konnte.
Mithilfe kinesiologischer Tests versuchten wir, dem Phänomen auf die Spur zu kommen. Das Ergebnis war erschreckend: Eine Demenz kündigte sich an, die sich unbemerkt womöglich schon eine Weile in ihrem Gehirn angebahnt hatte. Ja, gelegentliche Vergesslichkeiten oder Wortfindungsstörungen, die gab es immer mal. Aber das konnte jedem in jedem Alter geschehen, das hatte sie nicht ernst genommen. Was nun? Einen Neurologen wollte sie nicht konsultieren. Sie vermutete, dass sie wohl noch in einem frühen Stadium sei, eine physiologische Veränderung im Gehirn sei wohl noch nicht nachweisbar. Doch warten, bis es so weit wäre, wollte sie auf keinen Fall. Zudem fürchtete sie, Medikamente einnehmen zu müssen, an deren Wirksamkeit sie große Zweifel hatte. Stattdessen wollte sie sich an eine ihr bekannte Heilpraktikerin wenden, die auf vielen Gebieten, die medizinisch nicht erreichbar gewesen waren, wunderbare Erfolge mit der Homöopathie gehabt hatte.
Doch mir stellten sich viele Fragen, die vonseiten der wissenschaftlichen Forschung noch keineswegs beantwortet sind: Woher rühren solche Veränderungen im Gehirn, die das Erinnerungsvermögen langsam aber stetig auslöschen? Gibt es eine Vorgeschichte? Gibt es einen aktuellen Auslöser, der den Prozess in Gang setzt? Welcher käme in Betracht? Warum werden manche Menschen davon betroffen und andere nicht? Viele Menschen bleiben bis ins hohe Alter geistig rege. Aber: Was unterscheidet die einen von den anderen?
Die Hirnforschung hat herausgefunden, dass lang anhaltender Stress in der Kindheit im weiteren Verlauf des Lebens die Stresszentren in dauernder Alarmbereitschaft hält. Daher reagiert das Gehirn von Menschen mit einer belasteten Kindheit später oft viel häufiger und heftiger mit dem Ausschütten von Stresshormonen, nicht nur in real bedrohlichen, sondern auch in scheinbar ganz harmlosen Situationen, die andere Menschen überhaupt nicht als stressbeladen empfinden. Menschen mit ungünstigen frühen Beziehungserfahrungen sind für alle möglichen Krankheiten viel anfälliger als andere, die unter günstigeren Bedingungen aufwachsen konnten: Depressionen, Herz- und Kreislauferkrankungen, Erkrankungen des Bewegungsapparates, Muskelverspannungen sowie Tumorerkrankungen treten bei diesen Menschen signifikant häufiger auf (Quelle: Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers). Könnte es nicht auch hier Zusammenhänge geben bezüglich einer späteren Demenz?
Im Gespräch mit Annelie zeigten sich deutliche Hinweise auf diese Zusammenhänge: Sie hatte eine psychisch stark belastete Kindheit gehabt.
Aber warum traten jetzt mit Mitte 60, quasi aus heiterem Himmel, bei ihr frühe Anzeichen für eine sich entwickelnde Demenz auf? Warum nicht schon früher? Oder später? Bei welcher Gelegenheit war ihr Stress-System so stark unter Druck geraten, dass sich eine Demenz hätte anbahnen können? Gab es einen aktuellen Anlass dafür?
Nein, aktuell hatte es keinen Anlass dazu gegeben. Aber dann erinnerte sich Annelie an eine bestimmte Situation, die allerdings schon ein gutes Jahr zurücklag.
Ohne jede Vorwarnung hatte es einen massiven familiären Konflikt gegeben, bei dem sie das Gefühl hatte, vollkommen den Boden unter den Füßen zu verlieren. Annelie reagierte mit einem Nervenzusammenbruch, alle Kontrollsysteme waren ausgeschaltet. Ziellos irrte sie durch einen nahen Wald und hatte das Gefühl, gleich zusammenzubrechen. Nun wollte sie nach Hause gehen, doch sie spürte, dass sie es nicht mehr schaffen würde. Der Weg führte sie vorbei an einem Haus, in dem sie freundliche Menschen kannte, die ihr zwar nicht besonders vertraut waren, von denen sie aber wusste, dass sie ein offenes Herz hätten für die Sorgen anderer. Hier klingelte sie und fiel der Frau, die ihr öffnete, buchstäblich in die Arme. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie über den Vorfall sprechen konnte. Doch nicht das Reden war es, was ihr so guttat, vielmehr die freundliche Aufnahme und die ruhige Art, mit der man ihr begegnete. Noch geschwächt, aber wieder viel ruhiger, konnte sie den Heimweg nach einiger Zeit antreten. Das Stresszentrum im Gehirn hatte wieder auf Normalmodus umgeschaltet. Später glätteten sich die familiären Wogen, der ganz normale Alltag konnte weiterlaufen.
Für mich stellte sich die Frage, wie mehr als ein Jahr vergehen konnte, ehe Annelie nach diesem Vorfall eine Veränderung ihrer Erinnerungsfähigkeit bemerkte. Warum geschah das nicht gleich im Anschluss an diese totale Stressüberflutung, die ihr Gehirn mehr als eine Stunde in unverminderter Stärke auszuhalten hatte? Wenn denn meine Vermutung richtig wäre, dass es eines aktuellen Auslösers bedarf, so hätte doch der Prozess sogleich ins Rollen kommen müssen? Die Gefahr war tatsächlich sehr groß gewesen, denn: Was wäre geschehen, wenn Annelie wirklich mitten auf der Straße zusammengebrochen wäre?
Die Rettung wäre benachrichtigt worden. Sie wäre als Notfall ins Krankenhaus eingeliefert worden. Bis man dort ihre Personalien festgestellt hätte – sie hatte keinerlei Papiere bei sich – und bis ein Arzt die Zeit gefunden hätte, sie zu untersuchen, wären einige Stunden verstrichen. Man hätte vermutlich – mit Verdacht auf Kreislaufversagen – alle möglichen technischen und diagnostischen Untersuchungen an ihr vorgenommen und hätte ihr wohl einige Medikamente verabreicht. Und keiner hätte ihre psychische Verfassung zur Kenntnis genommen – wie auch? Es liegt nahe, dass sie durch alle diese Maßnahmen weiterhin in dem totalen Stressmodus verblieben wäre. Und daraus hätte sich, wie ich vermute, durchaus sehr bald der sichtbare Beginn einer Demenz entwickeln können.
In meinem privaten Umfeld sind mir einige Fälle von Demenz-Erkrankungen bekannt. In allen Fällen konnte ich nahe Angehörige zur Kindheit des jeweils Erkrankten befragen. Nur in einem Fall war die Kindheit recht unbelastet gewesen; dafür hatte das berufliche Engagement über sehr viele Jahre den vollsten Einsatz verlangt (Chirurg mit ständiger Abrufbereitschaft). Bei ihm war die Demenz nach großen familiären Turbulenzen ausgebrochen. Bei allen anderen hatte in der Tat eine belastete Kindheit stattgefunden. Und in all diesen Fällen gab es akute Auslöser, die zum sichtbaren Ausbruch der Demenz führten. Bis auf einen: Da schloss sich der Ausbruch der Demenz unmittelbar an eine Herzoperation an, die nach einem Herzinfarkt notwendig geworden war.
Darf man überhaupt Parallelen ziehen? Wie sollte sich denn eine Demenz nach einem operativen Eingriff entwickeln? Ist ein psychischer Schock nicht etwas vollkommen anderes als eine Operation? In der Narkose bekommt niemand mit, was mit ihm geschieht, und keiner verspürt Schmerzen beim Eingriff – wo also wären da Zusammenhänge?
Richtig, eine Narkose schaltet das Bewusstsein sowie das Schmerzzentrum im Gehirn aus. Die Nervenleitungen, die den Ort des Geschehens mit dem Gehirn verbinden, jedoch nicht. Das Stresszentrum, das in tieferen Bereichen unseres Gehirns liegt, reagiert auch ohne die Beteiligung unseres Bewusstseins, wenn die Integrität unseres Körpers beschädigt wird: Die Amygdala signalisiert höchste Alarmstufe, sämtliche Stresshormone überfluten in der Narkose das Gehirn. Archaische Reaktionen wie Flucht oder Angriff sind ausgeschlossen, was wiederum den Stresspegel noch höher steigen lässt.
Fachärzte in der Klinik für Anästhesiologie der Charité in Berlin haben bei vielen frisch operierten Patienten Zusammenhänge zwischen einer Operation und anschließenden Bewusstseinstrübungen beobachtet. 15 bis 50% (altersabhängig) aller Operierten leiden darunter. Glücklicherweise legen sich diese Erscheinungen in den meisten Fällen nach einigen Stunden oder Tagen wieder. Dieses Phänomen – wenn es nur über einen kurzen Zeitraum anhält – erhielt den Namen „postoperatives Delir“. Dauert es länger an, nennt man es „postoperatives kognitives Defizit“ (POCD). Drei Monate später sind es noch 5% der Jüngeren und 12% der Senioren, die an den Störungen leiden. Wäre es denkbar, dass man damit den Beginn einer Demenz beschreibt? In Internetforen jedenfalls fand ich Berichte von Angehörigen vieler Betroffener, in denen über anhaltende bzw. sich steigernde Ausfälle geklagt wurde.
Um diese Folgen zu mindern, werden Psychopharmaka im Aufwachraum verabreicht. Ich vermute, dass menschliche Zuwendung beim Aufwachen nach einer OP viel hilfreicher sein könnte, denn die Dauer des akuten Schockzustands könnte damit verkürzt werden.
Angst vor einer Narkose könnte die Ursache für die teilweise recht dramatischen Bewusstseinstrübungen sein – vermuten die Ärzte. Nicht unbedingt – vermute ich. Eine Bekannte, die bereits eine Reihe von Operationen über sich ergehen lassen musste, hatte – trotz panischer Ängste vor der Narkose – kein einziges Mal Anzeichen eines postoperativen Delirs. Von ihr weiß ich allerdings, dass sie eine sehr gute, liebevolle Kindheit hatte. Das könnte ein schützender Faktor gewesen sein.
Annelie hatte ein paar Jahren zuvor eine größere Bauchoperation. Doch auch sie war nicht betroffen von irgendwelchen mentalen Ausfällen. Wie mag sich das erklären, wenn die von mir vermuteten Zusammenhänge mit belasteten Kindheitserfahrungen in Verbindung mit einem akuten Schockzustand während einer Narkose richtig wären?
Der Unterschied könnte sich aus folgenden Überlegungen erklären: Menschen, die vor einer Operation genügend Zeit hatten, sich der Notwendigkeit des Eingriffs zu stellen, scheinen weniger gefährdet zu sein, da sich ihr Gehirn rechtzeitig mit dem bevorstehenden Eingriff „anfreunden“ konnte. Annelie hatte sich bewusst für diese Operation entschieden, um die Beschwerden, unter denen sie schon längere Zeit gelitten hatte, loszuwerden. Anders ist es bei Menschen, die durch eine akute Erkrankung ganz unvorbereitet operiert werden müssen. Bei ihnen wird der Eingriff „überfallartig“ vorgenommen. Die Stresszentren reagieren entsprechend mit den Signalen „höchste Lebensgefahr“, was zu einer extremen Ausschüttung von Stresshormonen führt. Damit könnte sich erklären, warum viele Menschen nach einer Operation ein postoperatives Delir oder ein POCD erleiden. Bei 12% verbessert sich dieser Zustand nicht mehr. Wie mochte ihre Kindheit ausgesehen haben? Und wer hat schon einmal die möglichen Zusammenhänge zwischen einer belasteten Kindheit, anhaltenden Schockzuständen und einer nachfolgenden Erkrankung der Denkfähigkeit in Verbindung gebracht?
Einer tat es: Der bekannte österreichischamerikanische Psychiater Bruno Bettelheim (1903–1990), der als Jude im KZ interniert war, hatte später viele Interviews mit Überlebenden des Holocaust geführt. Er begegnete vielen, die nachhaltige psychische Schäden davongetragen hatten. Aber auch vielen, die zwar die Zeit ihrer Internierung im KZ als sehr schlimm in Erinnerung behielten, die später dennoch in der Lage waren, unbelastet ihr Leben weiterhin zu gestalten. Bettelheim begnügte sich nicht damit, die furchtbaren Erlebnisse seiner Gesprächspartner zu beleuchten, er wollte vor allem wissen, was dem einen ermöglichte, sein Leben wieder frei zu gestalten – und dem anderen nicht. Seine Fragen bezogen daher auch die jeweilige Kindheit mit ein, die die Menschen erlebt hatten. Und siehe da: Diejenigen, die zuverlässige, tragfähige Bindungserfahrungen mit ihren Eltern gemacht hatten, waren in der Lage, den Horror hinter sich zu lassen und positiv die Zukunft neu zu gestalten. Diejenigen, denen eine solche Kindheit nicht geschenkt worden war, entwickelten alle möglichen psychischen Störungen und kamen nie wieder ganz zurecht in ihrem Leben. In welchem Umfang sie eine Demenz entwickelten, ist mir nicht bekannt.
Ich weiß nicht, ob es bereits Bestrebungen in der Forschung gibt, die die von mir geschilderten Phänomene – frühe belastete Kindheit und akute Schockzustände mit anschließender Demenz – in einen Zusammenhang bringen. Falls nicht: Vielleicht fi ndet sich mal ein Doktorand, der sich diesem Thema widmet? Vielleicht wäre es ihm möglich – an den Interessen der Pharmaindustrie vorbei – die menschlichen und zwischenmenschlichen Aspekte in den Vordergrund zu stellen, wenn sich die Zusammenhänge als relevant herausstellen sollten?
Ich weiß, dass man in Krisensituationen psychologische Hilfe anbietet, indem man Menschen auffordert, über die schockierenden Vorfälle zu sprechen. Doch inzwischen sind diese Maßnahmen sehr umstritten, weil sie wohl doch nicht so wirksam sind wie erhofft. Sie bergen eher die Gefahr einer Vertiefung des Schockzustandes, weil die Stresszentren im Gehirn dadurch keine Beruhigung erfahren können. Hat man es schon einmal mit menschlicher Wärme versucht, die nicht vieler Worte bedarf?
Die glücklichen Umstände, die in Annelies Fall Schlimmeres verhüten konnten, könnten einen Weg weisen: Sie wurde nach ihrem Schockerlebnis von einfühlsamen Menschen aufgefangen, sodass die fatale Stressüberflutung im Gehirn nur relativ kurze Zeit anhielt.
Zwar könnte eine Initialzündung hin zur Demenz bereits erfolgt sein, jedoch verlief der Prozess offensichtlich so langsam, dass sie noch genug Zeit hatte, sich über die Veränderungen in ihrem Gehirn Gedanken zu machen und sich Hilfe zu holen. Die Heilpraktikerin, an die sie sich wandte, verfügte nicht nur über sehr viele Erfahrungen auf ihrem Gebiet, sondern besaß – neben der gewissenhaften Repertorisierung – auch Kenntnisse in Kinesiologie. Die halfen ihr, punktgenau die richtigen homöopathischen Mittel mit genau der richtigen Potenz herauszufinden.
Als Erstes widmete sie sich den alten, aus der Kindheit stammenden Verletzungen, die im Körpergedächtnis gespeichert waren: Annelie litt seit dem Vorfall wieder verstärkt unter Muskelverspannungen im Schulter-Nacken-Bereich. Und die waren bereits am Morgen nach der ersten hochpotenzierten homöopathischen Gabe verschwunden.
Wer sich mit der Homöopathie auskennt, weiß es: Eine Heilung geschieht immer von innen nach außen, sprich: von den Ursachen zu den Symptomen. Erst danach waren die passenden Mittel an der Reihe, die den aktuellen Prozess der sich anbahnenden Demenz zum Stillstand bringen konnten. Ob eine gänzliche Heilung der bereits betroffenen Gehirnregionen möglich sein wird, ist derzeit noch nicht abzusehen – ich halte sie aber durchaus für denkbar.
Amrei Spalek
Psychologische Beraterin, Seminarleiterin Autogenes Training und Progressive Muskelentspannung, Privatpraxis für Psychologische Beratung in Braunschweig, Schwerpunkt Tiefenentspannung