Tabu SM war gestern – BDSM ist heute
In meiner ersten Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten vor 25 Jahren war ich bei einem Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe tätig. Schon damals fiel mir auf, dass viele Frauen Probleme mit der Sexualität hatten und vor allem – darüber mit ihrem Partner zu reden! Meine Ausbildung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie war quasi der Schlüssel zur Möglichkeit, mich im Bereich der Sexualberatung und Paartherapie zu spezialisieren. Hier gilt mein Interesse insbesondere auch Störungen, die in der Öffentlichkeit keine Beachtung oder Anerkennung finden.
Das Thema „SM“ begleitet mich seit vielen Jahren. Es waren in erster Linie die Gespräche im Freundeskreis, die das Thema aufgriffen – natürlich ganz klassisch in einer klischeehaften Rollenverteilung, die für mich die ersten Fragen aufwarf. Das Internet war noch im Aufbau und entsprechende Literatur mit Erläuterung von Grundlagen und Basiswissen waren Fehlanzeige, zumindest außerhalb der Großstadt.
Später konnte ich mich umfassend über das Thema informieren und führte auch erste Gespräche mit „SM-lern“, wobei ich jegliche Vorurteile abbauen konnte und erfuhr, dass die Sorgen und Nöte sich von denen der „Stinos“ (so nennen SM-ler die anderen = Stinknormale) überhaupt nicht unterschieden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich stark für die Interessen und die Gleichberechtigung Homosexueller engagiert, die jedoch eine Anerkennung erfahren hatten, sodass ich meinen Schwerpunkt auf BDSM legen konnte.
F65 Störungen der Sexualpräferenz – F65.5 Sadomasochismus
Seit mehr als zwei Jahren gibt es die Bücher „Shades of Grey“, eine Trilogie über ein junges Paar, welches sich einvernehmlich in einem deutlich gefärbten Beziehungs- Machtgefälle befindet. Die Geschichte verkaufte sich dermaßen gut, dass nun, im Februar 2015, der dazugehörige Film in die deutschen Kinos gekommen ist, passend zum Valentinstag.
Es ist nicht übertrieben, wenn ich feststelle, dass mit diesem Thema eine enorme Welle sexueller Offensive in Bewegung gekommen ist; die in dem Buch beschriebenen „Spielzeuge“ werden übers Internet vertrieben und verkauft, es gibt entsprechende themenbezogene Verkaufspartys, auf denen die Gäste sich die Materialien anschauen und natürlich auch ausprobieren können. Einige Singles oder Paare könnten daran Gefallen finden, andere nicht, und einige Menschen atmen hörbar auf und sind erleichtert, dass „ihr“ Thema endlich in der Öffentlichkeit angekommen ist, denn neu ist das Thema BDSM nicht.
Was bedeutet BDSM und was sagt der ICD 10 dazu?
BDSM ist die Abkürzung für eine Vielfalt sexuell stimulierender Handlungsweisen, die sich im Folgenden aus verschiedenen Bedeutungen der Buchstaben erklärt:
BD = Bondage + Discipline
DS = Dominance + Submission
SM = Sadismus + Masochismus
Hieraus ergibt sich eine Vielfalt „spielerischer“ Möglichkeiten, die mit Dominanz und Unterwerfung, Lustschmerz und Fesselungen (Bondage) und dem Zufügen und Erleiden von Schmerzreizen einhergeht. Einerseits besteht die Möglichkeit, diese Neigung im Rahmen eines „Spiels“ auszuleben, d. h., zwei oder mehrere Partner bzw. Paare treffen sich ausschließlich zum Zweck des erotischen Spiels für einen begrenzten Zeitraum in einer Wohnung oder auf einer Szeneparty, um anschließend wieder in ihren Alltag zurückzukehren, oder ein Paar entschließt sich, ihren SM auch im Alltag zu leben, was unter die Begrifflichkeit „24/7“ fällt.
In beiden Lebensmodellen sind weder die Geschlechterverteilung noch das Lebensalter festgelegt, ebenso wenig die rein sexuelle Komponente. Sexuelle Handlungen sind im Rahmen des BDSM nicht obligat! Ausschließlich die Rollenverteilung ist hilfreich. Hieraus ergibt sich, dass sowohl Frauen als auch Männer den dominanten Part übernehmen (leben), ebenso können aber auch Frauen oder Männer in diesem Kontext submissiv sein. Rückschlüsse auf das Alltagsleben, die Berufswahl oder das allgemeine Benehmen lassen diese Kriterien aber nicht zu.
Darüber hinaus gibt es „Switcher“, das sind diejenigen, die sich im „Spiel“ bzw. auch bei 24/7 nicht auf eine „Seite“ festlegen. Es könnte also auch durchaus sein, dass ein switchendes Paar sich abwechselt, mal ist er „Top“, mal sie. „Top“ bezeichnet jeweils den dominanten Partner, „Sub“ ist der entsprechend submissive Partner. Weitere gebräuchliche Vokabeln sind in diesem Kontext auch „Dom“ und „Bottom“. Der hieraus abgeleitete Begriff „Domina“ ist in der privaten Szene nicht üblich.
Auf jeden Fall üblich ist die Tatsache, dass alle Beteiligten in diesem Zusammenhang einvernehmlich handeln. Das bedeutet im Einzelnen, dass hier mündige Menschen aufeinandertreffen, in gegenseitigem Einvernehmen handeln und die größtmögliche Sicherheit geboten wird – andernfalls wären die Handlungen strafbar und das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung wäre verletzt worden.
Hieraus ergibt sich, dass der Einzelne auch einschätzen kann, worauf er oder sie sich einlässt, d. h., dass entsprechende Informationen im Vorfeld eingeholt werden müssen und – elementar wichtig – dass jeder Teilnehmende sein Einverständnis jederzeit widerrufen kann. Im Klartext heißt das, dass ein „Safeword“ vereinbart wird, mit welchem umgehend und ohne zeitliche Verzögerung oder wiederholtes Nachfragen eine „Session“ abgebrochen werden kann. Diese Sicherheit muss jedem garantiert werden.
Neben gewissen motorischen Fähigkeiten sind auch Grundkenntnisse der Anatomie und Physiologie von elementarer Bedeutung; es kann schnell passieren, dass bei Bondage zu fest geschnürt wird (z. B. Nervenschäden am Handgelenk) oder auszusparende Körperstellen (z. B. die Nieren) getroffen werden. Wenn doch etwas passiert, sollte der Gang zum Arzt nicht aus falscher Scham unterlassen werden, um Schlimmeres oder Folgeschäden zu verhindern bzw. zu minimieren. Ärzte, Notdienste und auch Pflege- und Rettungspersonal sehen noch ganz andere Dinge – oder gehören gar zur „Szene“. Im Vorfeld sollte auch offen über Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Diabetes geredet werden, auch Asthma darf nicht unerwähnt bleiben. Dauermedikation ist unbedingt zu erfragen und eine „Session“ muss darauf abgestimmt werden. Auch kann es zu offenen Wunden kommen – hier ist es aus meiner Sicht unumgänglich, den Impfstatus zu erfragen. Insbesondere für Paare, die erstmalig eine gemeinsame „Session“ planen, sind ausführliche Vor- und Nachgespräche unabdingbar.
Nun ist es aber nicht immer so, dass ein Gedanke, eine daraus resultierende sexelle Erregung und der Wunsch nach der Durchführung gewisser Handlungen sich in ein Leben, einen Alltag, eine Beziehung/ Partnerschaft oder Ehe integrieren lassen. Das hier bislang Beschriebene ist die theoretische Basis für das Erleben einer BDSM-gefärbten (Spiel-)Beziehung oder -Partnerschaft. Phantasien zu haben ist die eine Sache, der Wunsch nach Ausleben und Ausprobieren ist eine andere. Häufig ist es auch so, dass eine Affinität zu diesem Thema lange Zeit schlummert und schweigt, sich dann doch mehr oder weniger plötzlich und vehement Gehör zu verschaffen; Umbrüche in der Lebensführung können auslösend sein. Was dann?
Aus meiner Sicht – beruflich und privat – sind viele wiederkehrende Gedanken solange bestimmend und präsent, bis man sich ihnen stellt und sie betrachtet. Betrachten bedeutet zunächst, bewusst machen. Das kann durch Aufschreiben geschehen oder auch durch das Gespräch mit einem anderen Menschen. Häufig ist es nun so, dass man mit derartigen Gedanken im Freundeskreis eher zurückhaltend ist, aus Angst, ausgelacht oder verhöhnt zu werden und womöglich im gesamten Freundeskreis und der Familie bloßgestellt zu werden. Die „Szene“, in der sich die Gleichgesinnten austauschen können, in der Anfänger all ihre Fragen stellen können, in der sich Menschen kennenlernen wie in jeder anderen Gesellschaft auch, wo Freundschaften geknüpft werden, Partnerschaften gegründet und sogar Ehen geschlossen werden, wo sich berufliche Zusammenarbeiten ergeben wie überall in unserer Gesellschaft – diese Szene ist leider von der Öffentlichkeit und den Medien immer noch klar abgegrenzt, als „pervers“, „bizarr“ oder gar „krank“ bezeichnet – wie damals die Homosexualität, die ja glücklicherweise inzwischen ihre Anerkennung gefunden hat.
Im ICD 10 werden die Störungen der Sexualpräferenz unter F 65 zusammengefasst, beginnend mit dem Fetischismus (F65.0), bei dem der Gebrauch unbelebter Gegenstände zur sexuellen Erregung und Befriedigung beiträgt. Auch der fetischistische Transvestitismus (F65.1) wird hier erwähnt, bei dem Kleidung des anderen Geschlechts getragen wird, um sexuelle Erregung zu erleben – abgegrenzt jedoch vom transsexuellen Transvestitismus, bei dem die Kleidung jeweils länger getragen wird als ausschließlich im Rahmen sexueller Aktivität. Und schließlich findet man unter F65.5 den Sadomasochismus, bei dem im Rahmen der sexuellen Aktivität das Zufügen bzw. Erleiden von Schmerzen, das Fesseln und die Erniedrigung stattfinden.
Nun ist es im Leben häufig so, dass sich Vorlieben und Abneigungen entwickeln und ändern. Außer dem modischen Geschmack ändern sich häufig auch Lebensmittelvorlieben und -abneigungen oder sportliche Aktivitäten – die den Alltag nicht weiter beeinträchtigen und ziemlich unspektakulär geändert und angepasst werden können. Ernährungsumstellungen, wie z. B. von Vollkost zu vegetarischer oder veganer Kost, werden im Umfeld teils anerkennend, teils neugierig beäugt, sportliche Aktivität wird meist gelobt, neue Sportarten werden kollektiv ausprobiert.
Was aber, wenn sich sexuelle Interessen ändern? Wenn die Gedanken um sexuelle Präferenzen kreisen? Nicht zuletzt ist die Sexualität noch ein intimes Thema, über das doch eigentlich mit dem Partner geredet werden kann und sollte? Und dann sind alle möglichen Reaktionen denkbar. Vom grundsätzlichen Ablehnen ohne Nachfragen und dem Vorwurf der Perversion bis hin zu einem zugewandten und neugierig experimentierfreudigen Gegenüber sind hier alle Reaktionen denkbar, möglich und auch legitim! Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass derartige Themen häufig aus Unwissenheit auf totale Ablehnung stoßen und dass der Partner auch bei Sachkenntnis eine ablehnende Haltung beibehalten darf.
Aus meiner praktischen Arbeit kann ich berichten, dass es zunächst erleichternd für die Klienten ist, eine bislang heimliche Neigung offen ansprechen zu können und auf einen nicht wertenden, empathischen Gesprächspartner zu treffen, der offen für das Thema ist. In der Paartherapie und -beratung sind verschiedene Reaktionen denkbar, einerseits kann der Partner bzw. die Partnerin durchaus Interesse und Neugier verspüren, andererseits aber auch entsetzt sein und vielleicht sogar abwertend reagieren und die bisherige Partnerschaft infrage stellen. Ebenso ist es aber auch durchaus eine Option, die bestehende Partnerschaft fortzuführen und eine Spielbeziehung zu tolerieren.
Wie so häufig ist es von elementarer Bedeutung, miteinander zu reden. Eigene Befindlichkeiten und Gedanken sollen ausgesprochen werden können und auch die Sichtweisen und Denkverläufe des Partners sollen angehört werden. Sollte es hierbei zu Streitigkeiten und verfahrenen Gesprächssituationen kommen, kann das Gespräch auch in die Praxis eines Therapeuten verlegt werden, der dann die Rolle des Mediators übernimmt.
Abschließend bleibt zu erwähnen, dass auch sogenannte SM-Beziehungen allen anderen Beziehungsformen gleichgestellt sind. Es gibt den Alltag mit Wochenendeinkauf, Familienfeiern, Kinderbetreuung und allen daraus resultierenden notwendigen Absprachen.
Wie passt Kinderbetreuung in eine derartige Beziehung? Davon ausgehend, dass es sich bei BDSM um eine überwiegend den sexuellen Bereich betreffende Aktivität handelt, ist ausgemacht, dass jegliche Sexualität – egal in welcher Beziehungsform – nicht vor Kindern ausgelebt wird. Insofern ist in meiner bisherigen Praxis auch kein Fall vorgekommen, der im Trennungsfall die Konsequenz des Sorgerechtsentzugs für einen Elternteil wegen der Tatsache einer bestehenden sexuellen Vorliebe nach sich gezogen hätte. Dass jegliche Sexualität mit allen anhängigen Handlungen nicht im Beisein von Kindern stattfindet, steht außer Frage und wird auch vom jeweils anderen Elternteil in einer neuen Beziehung erwartet.
Patricia Schönsee
Heilpraktikerin für Psychotherapie in eigener Praxis, Schwerpunkte: Entspannungsverfahren, Störungen der Sexualpräferenz, Paartherapie