... ticke ich noch richtig?
Angewohnheiten, die keinen Sinn machen, hat fast jeder von uns. Nur, was steckt dahinter?
Merkwürdige Rituale und seltsame Marotten haben eines gemeinsam: Wir wissen, dass sie unsinnig sind, dennoch können wir nicht von ihnen lassen. Es ist, als ob wir eine höhere Kraft anrufen, die unser Schicksal gnädig stimmen soll. Im Grunde verhalten wir uns wie Indianer beim Tanz, die mit ihren Zeremonien böse Geister verscheuchen wollen.
Als „verrückt bei klarem Verstand“ beschreibt Zwangsexperte Dr. Bernhard Osen, Chefarzt der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik Bad Bramstedt, dieses rätselhafte Verhalten. Die meisten unserer Ticks sind harmlos – wir sind eben so. „Eine Störung liegt erst vor“, so Osen, „wenn zwanghafte Abläufe mehr als eine Stunde pro Tag in Anspruch nehmen, als belastend empfunden werden und den Alltag beeinträchtigen.“ Ob wir uns ständig waschen, exakt auf Ordnung achten oder Perfektion anstreben – wir verstecken uns hinter all den Angewohnheiten, weil wir Angst haben, Angst vor Kontrollverlust. Unsere kleinen Neurosen weisen uns auf etwas hin: Gerade in unserer durchgeplanten Zeit sollten wir das Unkalkulierbare, Überraschende mehr zulassen. Denn Abweichungen von Gewohnheiten sind notwendig, halten uns lebendig und machen uns offen für Neues.
Ich schaue ständig in meine Handtasche, aus Angst, meinen Schlüssel verloren zu haben
„Durch wiederholtes Nachsehen wird versucht, Unsicherheiten und Schwächen zu kompensieren“, erklärt Dr. Osen. So nervend dieses ständige Wühlen in der Tasche auch sein mag, bietet es einen gewissen Schutz, lenkt die Aufmerksamkeit auf den Schlüssel statt auf das, was gerade um einen herum passiert. Wer permanent unter Druck steht, ist stärker gefährdet. Mit solchen Ablenkungsmanövern versuchen wir gewissen Antworten auszuweichen oder uns einer speziellen Verantwortung zu entziehen. Mit etwas mehr Entspannung und einer Portion Selbstsicherheit kann man unliebsamen Anforderungen besser entgegnen – und die Handtasche wegstellen.
Ich kann keine Pflasterfugen betreten, ohne die Vorstellung, dass dadurch etwas Schlimmes passieren wird
Kinder meiden oft Ritzen auf dem Gehweg und versuchen Schritten eine gewisse Ordnung zu geben. Manchmal möchte man sich auch wieder so frei und unbekümmert fühlen wie damals. „Das Spiel hört auf, wenn man als Erwachsener streng darauf achtet, Linien und Fugen nicht zu betreten. Man weicht den Straßenmarkierungen oder auch Türschwellen aus, weil man etwas ganz anderem ausweichen möchte. Solche Rituale nehmen immer Stellvertreterfunktionen ein. Vielleicht steckt dahinter die Scheu, Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen, sich den Forderungen des Alltags zu stellen – all das, was Kinder in dem Maße noch nicht müssen“, so Dr. Osen. Man sollte der Frage nachgehen, welche Lebensbereiche als belastend empfunden werden und an den Kräften zehren. Stimmt die Liebe nicht mehr, steht ein beruflicher Wechsel an, steckt man in gewohnten Abläufen fest? Es ist Zeit, die Routine zu durchbrechen.
Ich kehre oftmals um, weil ich denke, die Kaffeemaschine angelassen zu haben
In Stresssituationen ist das ein klassisches Ablenkungsmanöver, um mit unkontrollierbaren Ängsten besser zurechtzukommen. Zum Beispiel: Man weiß nicht, wie der Chef heute reagieren wird, wenn man ein höheres Gehalt aushandeln will; man weiß bei Urlaubsantritt nicht, ob die Reise nach Indien auch so schön sein wird, wie man sie sich erträumt hat. Statt die Aufregung wahrzunehmen, wird die unerträgliche Ungewissheit auf das konkret Regelbare projiziert. Für Dr. Osen ein Signal, diese Ersatzhandlung ernst zu nehmen, „weil der Aufwand für das Umkehren und Überprüfen ziemlich hoch ist. Echte Sicherheit lässt sich erreichen, wenn man lernt, diese irritierenden Gedanken auszuhalten und dem Impuls der weiteren Kontrolle nicht nachzugeben.“ Also tief durchatmen und etwas mehr Selbstvertrauen: Die Kaffeemaschine ist ausgeschaltet, wir haben es nicht vergessen!
Ich kann keine Türklinken anfassen, und wenn, muss ich mir sofort gründlich die Hände waschen
„Waschzwänge haben ihre Ursachen in den ersten Jahren der Kindheit, oftmals als Resultat einer übersteigerten Reinlichkeitserziehung“, so Dr. Osen. „Kinder unterdrücken bestimmte Bedürfnisse aus Angst, die Eltern würden sie sonst nicht mehr liebhaben.“ Hinter dem Ekel, Türklinken zu berühren, und der Angst dadurch krank zu werden, steckt die Abwehr vor unliebsamen Gefühlen zugunsten einer starken Anpassung an die Umwelt. Hinter einem Waschwahn verbergen sich Partnerschaftskonflikte oder unbewältigte Abnabelungsprozesse von den Eltern, die mit ihren einstigen Drohungen noch Macht über uns haben. Also, Hände weg von der Seife. Immer schön sauber bleiben? Von wegen!
Ich muss die Stifte auf meinem Schreibtisch parallel zueinander ausrichten, sonst kann ich keinen klaren Gedanken fassen
Es ist viel, was Tag für Tag auf uns einstürmt, an Informationen, Aufgaben, Anforderungen. Da kann einem manchmal himmelangst werden – ein Gefühl jedoch, das wir im Alltag nicht zulassen, da wir funktionieren müssen. Mit Ordnungsritualen versuchen wir uns zu schützen, vor allem mit symmetrischen Anordnungen, die beruhigen, und lassen uns im Glauben, das Chaos bändigen zu können – ein Chaos, das jedoch gar nicht droht. „Wer überaus ordentlich ist, hat frühzeitig die Erfahrung gemacht, dass in der Welt vieles nur in einer ganz bestimmten Weise getan werden darf. So entstand die Vorstellung, dass es das absolut Richtige oder das perfekt Ordentliche geben müsse“, so Dr. Osen. „Die Marotte, Stifte parallel ausrichten zu müssen, ist häufig bei perfektionistischen Menschen anzutreffen. Ratsam wäre es, die gewohnte Ordnung auf dem Schreibtisch immer mal zu verändern – und auch sonst mehr Abwechslung und Spontaneität zuzulassen.“
Ich habe die Angewohnheit, meinen Wecker jeden Abend drei Mal an- und auszustellen, damit ich wirklich sicher bin, dass er am nächsten Morgen klingelt
Unsichere, ängstliche Menschen lernen in bestimmten Situationen, dass es Sicherheit verschafft, wenn man bestimmte Rituale einhält. Es können aber auch chaotische Lebensumstände sein, in denen wir an ganz speziellen Angewohnheiten festhalten, um Unüberschaubares zu kompensieren und für uns selbst feste Regeln zu entwickeln. Diese verselbstständigen sich und werden auch in „besseren“ Zeiten weiter eingesetzt. Zunächst, dieses Sichvergewissern kennt jeder, schließlich will man pünktlich sein. „Solange es bei der dreifachen Wiederholung bleibt, kann man darüber schmunzeln, es ist harmlos“, meint Dr. Osen. „Da solche Rituale aber die Gefahr in sich bergen, immer öfter wiederholt zu werden, sollte man frühzeitig versuchen, einem erneuten Nachschauen zu widerstehen. Denn eine weitere Prüfung verschafft nicht wirklich mehr Sicherheit, es ist nur der Zwang, der das suggeriert.“
Ich bewache ständig mein Handy, weil ich denke, gerade wieder eine SMS bekommen zu haben
Wer immerfort auf sein Display schaut, will sich ablenken. Unsere Psyche greift zu einem Trick: Das ständige Überwachen, ob nicht doch gerade eine Nachricht eingetroffen ist, befreit von der Wahrnehmung und intensiven Beschäftigung mit Problemen. So bleibt weniger Zeit, sich mit verdrängten Gefühlen von Niedergeschlagenheit, Lustlosigkeit oder Unsicherheit auseinanderzusetzen. Möglicherweise könnten auch anstelle des Handyüberwachens plötzliche Wünsche auftauchen, mit denen man nicht gerechnet hat, die etwas infrage stellen, die uns auffordern, etwas zu ändern. Aber so schwerwiegend muss es gar nicht sein. Dr. Osen: „Will ich mein Handy permanent kontrollieren, weil ich sonst etwas Aufregendes verpasse – ja warum denn nicht!“
Birgit Weidt
Autorin, Journalistin