Die Anzahl der Linkshänder ist größer, als wir meinen
Mit diesem Artikel möchte ich auf das Thema Linkshändigkeit aufmerksam machen. Auf den ersten Blick ist für Linkshänder die Welt weitestgehend in Ordnung. Als Linkshänder-Berater höre ich jedoch immer wieder Geschichten, die die erheblichen Probleme zeigen, mit denen Linkshänder zu kämpfen haben. Die Auswirkung auf die Gesundheit und die Entwicklung besonders von Kindern und Jugendlichen kann gravierend sein. Die Folgen tragen sie ein Leben lang.
Beispiel 1
Markus, Schüler der Klasse 7, bekommt vom Deutschlehrer folgenden Kommentar bei der Rückgabe des Aufsatzes: „Demnächst musst du das Gymnasium verlassen. Kein Mensch kann deine Schrift entziffern!“ Die Mutter ist ratlos und ruft mich in meiner Lerntherapie-Praxis an. Einige Tage später begrüße ich die Eltern zum Anamnesegespräch.
Die Noten von Markus sind gut bis befriedigend. Für Rechtschreibung bekommt er keine Note, wie es in Schleswig-Holstein für anerkannte Legastheniker vorgesehen ist. Seine Schrift wird seit der vierten Klasse immer unleserlicher. Auf die Frage, ob er denn links oder rechts schreiben würde, antwortet die Mutter: „In der Kindergartenzeit dachten wir, dass er Linkshänder wird. Noch in der ersten Klasse hat er mal mit links und mal mit rechts geschrieben, sich dann aber für rechts entschieden.“
Beispiel 2
Stefan besucht seit vier Monaten die erste Klasse der Grundschule. Beim ersten Elterngespräch stellt die Lehrerin der Mutter eine überraschende Frage: „Könnte es sein, dass Stefan Linkshänder ist?“ Die Lehrerin hat einige Tätigkeiten bei Stefan beobachtet, die typisch für Linkshänder sind. Die Mutter ruft in unserer Linkshänder-Beratungsstelle an und sagt zu mir: „Mir ist bisher nichts aufgefallen. Es gibt in unserer Familie keinen Linkshänder. Wenn aber die Lehrerin es meint, möchte ich dem nachgehen.“ Wir vereinbaren ein telefonisches Erstgespräch. Als Vorbereitung soll sie Kinderfotos und auch Videos sichten. Weiterhin liest sie ein Buch zum Thema und beobachtet ihren Sohn bei einigen speziellen Tätigkeiten. Schon am nächsten Morgen ist eine Mail in meinem Postfach. Sie schreibt, dass Stefan beim Rollerfahren mit dem linken Fuß abstößt. Beim abendlichen Trickfilm hat Stefan in den spannenden Momenten immer die linke Hand am Mund. Sie ist von sich selbst überrascht. Bisher ist ihr noch nie etwas aufgefallen.
Ein wenig beachtetes Thema
Eltern haben zur Linkshändigkeit oft keine Kenntnisse. In pädagogischen, medizinischen und therapeutischen Berufen sind die Kenntnisse sehr unterschiedlich. Drei Beispiele aus meiner Praxis: Die Leiterin einer Kindertagesstätte hat fünf junge Mitarbeiterinnen zum Tagesseminar geschickt. Alle sind unter dreißig Jahre alt. In der Pause frage ich sie: „Wie viele Stunden wurden in Ihrer gesamten Ausbildung für den Bereich Linkshändigkeit verwendet?“ Eine Pädagogin nennt zwei Stunden, die anderen sagen null Stunden.
In einem Vorgespräch zu einem Linkshänder-Test nennt ein Vater seinen Beruf. Er ist Kinderarzt. Auch ihn frage ich, welche Rolle Linkshändigkeit in seiner beruflichen Ausbildung gespielt hat. Seine Antwort: „Keine!“
In unserem Kreisgebiet gibt es einen Kinderarzt, der in seinen Untersuchungen immer die Händigkeit der Kinder im Blick hat. Er lässt die Kinder einige Übungen machen. Dann empfiehlt er den Eltern nächste Schritte.
Wie hoch ist der Anteil der Linkshänder?
Ursache für Links- oder Rechtshändigkeit ist die Hirnhälftendominanz, auch Hemisphärendominanz genannt. Fachleute sind sich weitestgehend einig, dass die dominante Hirnhälfte vor der Geburt feststeht. Es erscheint logisch, dass die natürliche Verteilung der dominanten Hirnhälfte jeweils 50 % beträgt.
Ausgehend von dieser Verteilung müsste der Anteil der genetischen Linkshänder an der Gesamtbevölkerung 50 % betragen. Ich halte diese Zahl für sehr realistisch. Die Wissenschaft ist sich zu dieser Frage noch nicht einig.
Im Rahmen einer Projektarbeit haben Zehntklässler eines Gymnasiums im Jahr 2016 den Anteil der aktiven Linkshänder ermittelt. Das Kriterium für aktive Linkshänder war, dass sie mit der linken Hand schreiben. Die Schule hatte 790 Schüler. Von 33 Klassen gab es sechs Klassen mit null Prozent aktiven Linkshändern, es gab drei Klassen mit über 20 % Prozent aktiven Linkshändern. Höchstwert war eine Klasse mit 25 %. Der Schuldurchschnitt betrug 8,7 %. Ein Anteil von aktuell acht bis zehn Prozent bei den Heranwachsenden deckt sich mit meinen Beobachtungen.
Widerspruch aktive und genetische Linkshänder?
Sie haben sicherlich den Widerspruch bemerkt: Theoretisch sollen 50 % der Menschen Linkshänder sein, bei den Heranwachsenden sind nur 8 bis 10 % Linksschreibende. Die Frage nach den verbleibenden 40 % der Linkshänder ist spannend und die Antwort fast unglaublich: Sie müssten umgeschulte Linkshänder sein!
Im Jahr 1995 startete ich beruflich als Linkshänder-Berater. Damals war diese Zahl für mich ein regelrechter Schock. Wie lässt sich eine so hohe Zahl von umgeschulten Linkshändern erklären? Dafür gibt es für mich zwei wesentliche Gründe.
Zum einen leben wir in einer rechten Welt. Sie motiviert und fördert den überwiegenden Gebrauch der rechten Körperseite.
Zum anderen sind wir Menschen besonders im Kindesalter sehr lernfähig und kopieren wichtige Bezugspersonen. Kinder schulen sich selbst auf die schwächere rechte Körperseite um und wir Erwachsenen fördern diesen Prozess oft unbewusst.
Linkshänder werden auch heute in eine rechte Welt hineingeboren
Das sollen einige Beispiele verdeutlichen. Kinder nutzen schon in den ersten drei Lebensjahren Spielzeuge und Gebrauchsgegenstände, die unbemerkt die rechte Hand trainieren.
In einem Haus aus dem Baujahr 2018 wurden drei Wasserhähne mit dem Hebel auf der rechten Seite installiert. Ein linkshändiges Kind wird den Wasserhebel immer öfter mit rechts bedienen, denn mit links wird der Arm nass oder es verbrennt sich irgendwann. Mit Eltern habe ich in Seminaren berechnet, wie oft ein Kind im Alter von vier bis sechs Jahren diese Wasserhähne nutzen wird. Das Ergebnis: je Woche 80 bis 120 Mal!
Eine große Rolle spielen Rituale wie z. B. das Händeschütteln und den Tisch eindecken. Weiterhin liegt die PC-Maus fast immer rechts, das Schweizer Offiziersmesser ist nur für Rechtshänder zu bekommen.
In unserer Sprache ist rechts positiv belegt: „Du hast recht“, „Recht und Ordnung“, „Der rechte Mann am rechten Ort“, „Du hast das Herz am rechten Fleck“, „Mein rechter, rechter Platz ist leer. Ich wünsche mir den … her!“
Dagegen ist links in unserer Sprache negativ belegt: „Das ist link“, „Du bist wohl mit dem linken Fuß aufgestanden“, „Er hat zwei linke Hände“, „Das mache ich mit links und 40 Fieber“.
Eltern fehlt es meist an Wissen zu diesen Zusammenhängen und auch in pädagogischen, medizinischen und therapeutischen Berufen wird zu diesem Thema unzureichend oder gar nicht ausgebildet.
In Kindergärten beobachte ich eine Tendenz, die ich mit der Aussage einer Erzieherin charakterisieren möchte. Sie sagte zur Mutter des fünfjährigen Jungen: „Paul darf sich seine Mal- und Schreib-Hand alleine aussuchen. Wir beeinflussen ihn nicht.“ Meine Erfahrung zeigt, dass linkshändige Kinder im Krippen- und Kindergartenalter die vielen Impulse der rechten Welt leicht aufnehmen. In wenigen Wochen bis Monaten wechseln einige von ihnen im Handgebrauch nach rechts. Dabei ist der Kindergarten nur ein Bereich, in dem die rechte Körperseite bevorzugt aktiviert wird. Das geschieht ebenfalls in der Familie, bei Oma und Opa, im Sportverein oder beim Erlernen eines Musikinstrumentes.
Linkshändige Kinder reagieren unterschiedlich auf die rechte Welt
Es gibt im Wesentlichen drei Richtungen:
- Die starken Linkshänder leben ihre Seite fast immer, sie sind durch die rechte Welt kaum zu beeinflussen.
- Die unentschlossenen Linkshänder verlagern bei starker Einflussnahme durch die rechte Welt ihre Tätigkeiten auf rechts.
- Die anpassungswilligen Linkshänder lassen sich leicht zum Gebrauch der rechten Körperseite bewegen.
Links- oder Rechtshänder?
Tipps für die schnelle Beobachtung
Sowohl der Kindergarten als auch die Eltern sollten um diese Zeiger wissen. Es gibt nach meiner Erfahrung Tätigkeiten, die eine hohe Aussagekraft bei der Bestimmung der dominanten Körperseite haben. Ebenfalls besitzen einige Ganzkörperbewegungen eine hohe Aussagekraft. Die Beispiele habe ich aus dem von mir entwickelten „Linkshänder-Schnell-Test für 0- bis 4-Jährige“ entnommen.
Einige der elf Tätigkeiten aus dem Schnelltest
Nuckeln – mit welcher Hand?
Die ersten Male der Begrüßung – welche Hand wird hingestreckt?
Die ersten Male Einbeinstand – auf welchem Bein steht das Kind?
Teddy/Puppe/Kuscheltier tragen – unter welchem Arm?
Abstoßen beim Rollerfahren – welches Bein ist das Antriebsbein?
Fragen für das Anamnesegespräch bei Kindern und Jugendlichen, um eine mögliche Linkshändigkeit auszuloten
In einem Erstgespräch mit den Eltern sollte immer die Entwicklung des Handgebrauchs in den bisherigen Lebensjahren des Betreffenden erfasst werden.
- Ist Ihr Kind Links- oder Rechtshänder?
- Hat Ihr Kind im Handgebrauch gewechselt? Wenn ja, bis zu welchem Alter?
- Gibt es Linkshänder oder umgeschulte Linkshänder in der Familie (Eltern, Großeltern, Geschwister)?
- Welche Tätigkeiten macht Ihr Kind mit links?
- Welche Kenntnisse haben Sie als Eltern zur Linkshändigkeit?
Wichtige Leitsätze in der Elternberatung
Aus meiner praktischen Erfahrung heraus entstanden folgende Schwerpunktthemen. Mit ihnen sind wesentliche Bereiche für eine erfolgreiche Entwicklung der Linkshänder abgesichert.
- Ob ein Mensch Links- oder Rechtshänder ist, wird vererbt.
- Mit der Geburt steht fest, ob ein Mensch Links- oder Rechtshänder ist.
- Ob ein Kind Links- oder Rechtshänder ist, lässt sich immer herausfinden.
- Mit welcher Hand ein Kind das Schreiben erlernt, muss allerspätestens ein Jahr vor Schulbeginn feststehen
- sowohl für das Kind selbst als auch für alle wichtigen Bezugspersonen.
- Die gesunde Schreibhaltung für Linkshänder erlernen Kinder nur, wenn wir Erwachsenen sie zeigen können.
- Linkshändige Kinder wachsen in einer rechtsorientierten Welt auf. Sie brauchen kompetente Unterstützung und die speziellen Produkte für Linkshänder.
- Besonders werdende Eltern und Großeltern brauchen Kenntnisse zur Linksund Rechtshändigkeit.
- Eine Rückschulung auf die dominante linke Körperseite sollte immer therapeutisch begleitet werden.
Linkshänder schreiben oft in der ungesunden Hakenhaltung
Viele Linkshänder schreiben in der „Hakenhaltung“. Dabei sitzen sie oft sehr unbequem, überdehnen die Armgelenke und verdrehen die Wirbelsäule. Physiotherapeuten berichten oft von Verspannungen und Ausrenkungen im Halswirbelbereich.
Es gibt vier Gründe für das Entstehen dieser ungesunden Schreibtechnik
1. Im Kindergartenalter wird die richtige Sitz- und Stifthaltung oft nicht trainiert. Spätestens im letzten Jahr vor Schuleintritt sollten alle Kinder regelmäßig in der richtigen Haltung malen und erste Schreibübungen ausführen. Linkshändige Kinder, die im Erlernen der Stift- und Sitzhaltung sich selbst überlassen werden, schreiben später irgendwie. Meistens ist es die falsche Technik. Hier wird ein idealer Nährboden für die unerwünschte Hakenhaltung geschaffen.
2. Der Lehrer schreibt den Buchstaben links auf der Heftseite vor. Beim Schreiben verdeckt der Schüler den Buchstaben mit der Schreibhand. Um den Buchstaben immer sehen zu können, dreht er das Handgelenk etwas nach oben. Eine leichte Hakenhaltung entsteht.
3. Die Kinder starten meistens in Klasse 2 mit dem Füller. Das Kind wischt mit dem Handballen über die Tinte und verschmiert sie. Es dreht nun das Handgelenk noch weiter nach oben und verwischt die Tinte nicht mehr. Die Hakenhaltung ist entstanden.
4. Es könnte auch sein, dass das linkshändige Kind eine wichtige Bezugsperson hat, die ebenfalls Linkshänder ist und in der Hakenhaltung schreibt. Kinder kopieren von ihren Vorbildern leider nicht nur die vielen guten Seiten, sie kopieren auch die Hakenhaltung.
Wussten Sie, dass Linkshänder unverkrampft, entspannt und locker schreiben können? Denn es gibt die gesunde Schreibhaltung für Linkshänder. Diese zu erlernen, sollte für Kinder, Jugendliche und Erwachsene ein Muss sein. Die richtige Schreibhaltung ist in jedem Alter erlernbar.
Auffällige Schreibhaltungen bei Rechtshändern
Schreiben Rechtshänder verkrampft, mit starkem Druck und einer auffälligen Stifthaltung, kann das ein Hinweis auf eine mögliche Umschulung auf die schwächere rechte Körperseite sein.
Wie kann Ihnen als Therapeuten umgeschulte Linkshändigkeit begegnen?
Der typische umgeschulte Linkshänder hat meistens acht Lasten zu tragen:
- Probleme mit der Schrift
- mit dem Schreiben
- mit der Konzentration
- mit Legasthenie oder Dyskalkulie
- er kann die Seiten links und rechts nicht sicher unterscheiden
- er hat zuweilen mit Blackouts zu kämpfen
- Wortfindungsstörungen treten auf
- manchmal stottert er und ist auch noch verlangsamt
Um diese Lasten auszugleichen, brauchen umgeschulte Linkshänder sehr viel Energie. Das kann im Extremfall zu Erschöpfungssyndromen, Migräne, Neurodermitis oder Allergien führen.
Zwei Probleme erschweren ein rechtzeitiges Erkennen der Umschulung: Zum einen vollzieht sich eine Umschulung der Händigkeit oftmals unbemerkt von uns Erwachsenen. Das geschieht meistens im Krippen- und Kindergartenalter. Zum anderen zeigen sich besonders bei leistungsstarken Kindern die acht Lasten des umgeschulten Linkshänders sowie deren Auswirkungen erst am Gymnasium, also mehrere Jahre später. Das Ereignis und dessen Folgen liegen häufig fünf bis acht Jahre auseinander.
Literatur
- Steinkopf, Frank: Schritt für Schritt MIT LINKS ins Glück, Verlag Left Hander’s World, 2014
- Steinkopf, Frank: Linkshänder Übungsheft, Verlag Left Hander’s World, 2018
Frank Steinkopf
Diplomlehrer, Lerntherapeut, LinkshänderBerater in eigener Praxis. Schwerpunkte: Beratung, Testung, Rückschulung auf die dominante linke Körperseite, Produktentwicklung sowie Ausbildung.
Fotos: ©Astrid Gast