Gehirnforschung und Psychotherapie – Teil 4: Schlussfolgerungen
In Teil 3 dieser Serie hat uns Frau Dr. Mahlmann mit den sechs psychoneuralen Grundsystemen des Organismus bekannt gemacht. Im letzten Teil zieht sie Schlussfolgerungen für die Psychotherapie – differenziert nach den Richtungen: psychodynamische Ansätze, Humanistische Therapie, Systemische Therapie und klassische und kognitive Verhaltenstherapie.
Neuropsychotherapie: das neurobiologische Persönlichkeitsmodell und Psychotherapie
Die bereits genannten Anmerkungen, die das neurobiologisch begründete Persönlichkeitsmodell in Richtung Psychotherapie ausspricht, seien um einige weitere ergänzt.
Gerhard Roth befragt wiederholt, welche Auswirkungen neurobiologische Erkenntnisse auf Annahmen und Maßnahmen, auf Diagnostik und Behandlung psychotherapeutischer Modelle und Verfahren haben. Das Big-Five-Modell als eines der populärsten Persönlichkeitsmodelle in psychologischer und (inter-)kultureller Literatur diskutiert Gerhard Roth unter der leitenden Frage, inwiefern die Kategorien von Big Five neurobiologischer Begründung genü- gen. Das Fazit: Es gibt Kategorien, die sich anwenden lassen, und andere, die fehlen, und „besser“ als dieses lasse sich das psychodynamische Persönlichkeitsmodell mit neurobiologischer Basierung anwenden (Roth, 2019, 98ff., Kap. 11-14; Roth/Ryba, 2016, Kap. 9-12).
Da sich praktizierte Psychotherapie weniger an diesem Modell als an psychologischen Paradigmen, Schulen, Strömungen orientiert, gehe ich auf das Big-Five-Modell nicht weiter ein, sondern skizziere einige essenzielle Folgerungen für psychotherapeutische Arbeit, von denen die meisten in den genannten Werken von Gerhard Roth und Mitarbeitern unter besonderer Beachtung der Wirkungsforschung immer wieder hervorgehoben werden und in die Empfehlung münden, eine Neuropsychotherapie zu begründen.
Nun also ein knapper, stichwortartiger Rundgang, der zeigt, welche Interventionen im Rahmen welcher therapeutischer Paradigmen neurobiologisch begründbar und empfehlenswert sind.
Paradigma: psychodynamische Ansätze
Diesem Paradigma fühlt sich Gerhard Roth insofern nahe, als er – nach den vorgängigen Ausführungen nachvollziehbar – sein Modell als „neurobiologisch basiertes dynamisches Persönlichkeitsmodell“ bezeichnet (Roth, 2019, 98ff.) und sich ausführlich mit der Psychoanalyse als Urform des Paradigmas auseinandersetzt (Roth/Ryba, 2016, Kap. 9).
Klassische Strömungen innerhalb dieses Paradigmas nehmen an, dass es unbewusste bzw. verdrängte Erlebnisse gibt, die durch verschiedene Interventionen ins Bewusstsein befördert werden können, und zwar unabhängig von dem Zeitpunkt der Einspeicherung und damit des Alters der Person (manche versprechen sogar Zugang zu pränatalen Erfahrungen).
Neurowissenschaftlich betrachtet ist das eine Fehlannahme, da unterschieden werden muss zwischen primär bzw. prinzipiell Unbewusstem und Vorbewusstem (Zielort von Verdrängung) bzw. im Langzeitgedächtnis verankertem Unbewusstem, das sekundär genannt wird und vom Therapeuten erschließbar ist. Therapeut und Klient sind auf Deutungen angewiesen, da man originäre Erinnerung nicht zutage befördern kann, und insofern sind Interpretationen nie wahr oder unwahr, sondern bestenfalls mehr oder weniger funktional im angestrebten Prozess von Selbstreflexion und Veränderung.
Zum einen wird Abgespeichertes mit jedem Aufruf verändert, zum anderen sprechen Indizien dafür, dass Erinnerungen erst bewusst gemacht (abgerufen) werden können, nachdem sie sprachlich abgespeichert wurden, insofern, als Erinnerungsabruf kognitiv-sprachlich verfasst sind. Vorsprachlich Abgespeichertes ist auch nonverbal nicht beförderbar, weil die entsprechenden neuronalen Systeme in der frühen Kindheit einen kompletten Umbau absolvieren, damit different codiert und konsolidiert wurden und später nicht mehr zugänglich bzw. verfügbar sind.
Das ist kein Widerspruch gegen die Macht des Unbewussten oder Ungewussten; denn neurowissenschaftlich ist – wie gezeigt – anerkannt, dass Menschen Bindungs- und andere Erfahrungen machen, die sich vor der erinnerungsfähigen Langzeitspeicherung bilden, sich – so Antonio Damasio – als somatische Marker festsetzen und wirken und als „Bauchgefühl“ kundtun. Der Einspruch gilt dem Anspruch, diese Erfahrungen bewusst zugänglich zu machen.
In diesen Zusammenhang gehören also neurobiologische Charakteristika von Lernen und Gedächtnisbildung, von Gedächtnissystemen, Abspeicheroptionen, von Kontexten, Konsolidierung und Abrufbarkeit. Hervorzuheben ist, dass einmal Gelerntes, also in den verschiedenen Gedächtnisarten Konsolidiertes, nicht verloren geht oder gelöscht werden kann, sondern wirkt, indes graduell und kontextuell unterschiedlich reaktivierbar bzw. erschließbar ist. Frühe, vor dem dritten bis vierten Lebensjahr gemachte Erfahrungen gelten als wirksam, aber nicht bewusst (sprachlich gebunden) und nicht erinnerbar.
(Traumatisierungen sind in Bezug auf Abspeicherung, Erinnerbarkeit, Wirkung und Bearbeitung eine besondere psychotherapeutische Herausforderung. Da jedes Erinnern eine Vertiefung von Inhalten bedeutet, ist traditionelle Traumaarbeit (Reden über das Traumatische) in die Kritik geraten. Statt häufiger Wiederholungen durch das Reden scheinen andere Interventionen nützlicher. Vgl. z. B. Hofmann, 2004, 70-74; Krauss, 2004, 66-69; Markowitsch, 2009; Markowitsch/Welzer, 2009; aktueller Überblick: https://www.psychologenakademie.de/neurowissenschaften-und-traumatherapie).
Neuere psychodynamische Ansätze klammern bestimmte klassische Annahmen aus und orientieren sich eher an Ressourcen, Klärung-zum-Handeln und damit auf Zukunft. Die Herangehensweisen sind inzwischen vielfältig und nicht mehr beschränkt auf psychoanalytische Vorgaben. Die klassische Variante schaut schwerpunktmäßig in die Vergangenheit, um dort Ereignisse und Erfahrungen zu entdecken, bewusst zu machen und so zu bearbeiten, dass sie annehmbar werden. Gegenwärtige Zweige wollen zudem erreichen, dass insbesondere schmerzliche, hinderliche Erinnerungen einen veränderten Stellenwert erhalten oder gar – wie im NLP: „change history“ – einen veränderten Verlauf und damit eine neue Geschichte erhalten.
Psychodynamische Therapie bleibt im Kern, was sie war: ein Ansatz, der systematisch und am thermodynamischen Fließmodell (mit Bezug zur neurologischen Verfasstheit des Gehirns) von Sigmund Freud orientiert untersucht, welche psychischen (seelischen, geistigen) „Energien“ menschlichem Denken, Fühlen, Kommunizieren, Handeln unterliegen bzw. diese bahnen und wie bzw. wodurch sie es tun. Im Rahmen dessen explorieren sie Möglichkeiten oder Optionsräume für den Klienten.
Aus neurobiologischer Sicht korrespondieren neurobiologische/-psychologische sowie tiefenpsychologische, psychodynamische Modelle in fundamentalen Annahmen: Existenz und Rolle von Unbewusstem: Es beeinflusst das Bewusste stärker als umgekehrt; das Bewusste hat nur geringfügigen kognitiv-sprachlichen Zugang zu nicht bewussten Determinanten; intrapsychische Konflikte speisen sich aus interagierenden Motiven, Bedürfnissen der verschiedenen Ebenen der Persönlichkeit und drücken sich unterschiedlich aus; Übertragung und Gegenübertragung in der therapeutischen Beziehung finden nonverbal und verbal statt.
Historizität, Vergangenheit im Sinn des Gewordenseins durch Erfahrungen, spielt nach wie vor eine erhebliche Rolle, weil frühen Erfahrungen nachhaltige Prägung (Bahnung, Justierung, Perspektivierung) unterstellt wird und bewusste wie nicht bewusste Motive und ihre Beziehungen untereinander (Dynamik) mit besonderer Aufmerksamkeit beleuchtet werden. Gemeinsam ist ihnen die Rückführung von Störungen auf innere Konflikte, deren Quelle in einem Ringen um Vortritt liegt: Bewusste, nicht bewusste, überregulierte oder verdrängte Bedürfnisse und Gefühle behindern eine zufriedenstellende Selbstkontrolle und -steuerung. Dieser – in der Regel als unbewusst geltender – Konflikttypus wird bearbeitet. Wie erwähnt, variieren Methoden oder Modelle in ihrer Konzeptualisierung von Persönlichkeit und Konflikt und verfolgen daher unterschiedliche Schwerpunkte wie Verfahren der Tiefenpsychologien, interpersonellen Therapie, positiven Therapie, psychodynamischen Kurzzeittherapie, Ego-State-Therapie.
Paradigma: Humanistische Therapie
Humanistische Therapie stellt Befähigung und Förderung eigenmotivierter Veränderungs- und Wachstumsbedürfnisse in den Vordergrund und bezieht Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges ein. Diese Therapieströmung stellt ab auf Verfahren, die bewusste und unbewusste Ressourcen des Einzelnen aktivieren sollen, um Selbstentfaltung zu ermöglichen und in intersubjektiven Beziehungen, sozialen Kontexten zu bestehen und psychische Probleme zu bewältigen sowie sinnhaft das eigene Leben auszurichten.
Im psychotherapeutischen Prozess gelten nicht nur sprachliche Erkundungsverfahren als nützlich, sondern wird auch die Wechselwirkung von Geist, Seele und Leib eingespeist, sodass auch nonkognitive Methoden wie Hypnose- oder Trancearbeit, Embodiment und erlebnisaktivierende Szenarien Zugänge eröffnen, um emotionales Erleben, kognitives Verstehen und schlussendlich persönliche Entwicklung, Resilienz und gewünschte Veränderungen zu ermöglichen.
Der Hypnotherapie, deren Begründer Milton H. Erickson ist und die inzwischen weiterentwickelt wurde, können Gerhard Roth und Alica Ryba im Rahmen ihres neurobiologischen Modells nicht zuletzt aufgrund der Vielfalt nonverbaler und sprachlich-kognitiver Verfahren sowie deren Kombination viel abgewinnen: Roth/ Ryba, 2016, Kap. 10).
Paradigma: Systemische Therapie
Auch wenn neuerdings (2020) die Systemische Therapie im gemeinsamen Bundesausschuss für die Zulassung als weitere Richtlinienpsychotherapiemethode anerkannt und in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen aufgenommen ist, besteht aus (neuro-)wissenschaftlicher Sicht Grund zu Skepsis, da es – nicht nur laut Gerhard Roth – noch keine systematische, belastbare Wirksamkeitsforschung, kein hinreichend wissenschaftlich begründetes Wirksamkeitsmodell, kein manualisiertes Konzept von Behandlungsmethoden gibt. Zwar, konzediert etwa Gerhard Roth, können die Verfahren wirksam sein. Doch die mangelnde systematische Erforschung bleibe es schuldig, anzugeben, in welchen Settings maßgebliche, kausal bestimmbare Erfolgsdeterminanten liegen.
Dennoch: Systemische Verfahren genießen seit ihrer Begründung in der (US-amerikanischen) Schizophrenieforschung und Familientherapie in den 1950er-Jahren höchstes Ansehen und finden große Verbreitung in psychiatrischer, psychotherapeutischer und Coaching-Praxis. Jedenfalls dem Anspruch nach; denn es kursieren unter dem Titel „systemisch“ nicht nur vielfältige, sondern zuweilen auch kuriose Behandlungsverfahren.
Der theoretische Ursprung des systemtheoretischen bzw. systemischen Denkens als einem Denken in dynamischen Beziehungen, Korrelationen, in Prozessen versus Strukturen liegen in Kybernetik, Komplexitätsforschung und Ökologie, erkenntnistheoretisch flankiert durch Konstruktivismus und seiner sprachlichen Variante des Konstruktionismus (Gergen/Gergen), in der Soziologie vorzugsweise in der Systemtheorie nach Niklas Luhmann.
Diese Herkunft schlägt sich (u. a.) in dem psychotherapeutischen Theorem nieder, der Schlüssel zum Verstehen und Verändern liege nicht im Individuum, sondern in Beziehungsgefügen: im System, in dem Zusammenwirken von Personen, Bedürfnissen, Motiven und den entsprechenden Umwelten sowie deren Interaktion. Damit rücken Funktionen von Personen, Relationen, Korrelationen in den Vordergrund und markieren den Bezugspunkt für psychotherapeutische Intervention.
Grundsätzlich orientieren sich alle Varianten systemorientierter Therapieverfahren daran, häufig unter dem Label „ganzheitlich“. In der Psychologie hat sich allerdings ein Ansatz herausgebildet, der das Individuum, das Subjekt, den Patienten oder Klienten als Einheit und Agens wieder einführt und damit ermöglicht, (weiterhin) am und mit dem Einzelnen zu arbeiten. (Das Subjekt als Agent ist in der Systemtheorie insbesondere Luhmann‘scher Prägung aufgelöst in eigenlogische Subsysteme.)
Insgesamt gibt es in der Szene systemischer Psychologie diverse Varianten und folglich Verfahren, um individuelle und systembezogene (z. B. Paar, Familie) Veränderungen zu ermöglichen. Das Füllhorn angewandter Verfahren bietet verschiedene Zugänge, die je nach Therapeut unterschiedlich kombiniert werden, beispielsweise Arbeit mit erweitertem Personal (z. B. Familienmitglieder), verbale Sprache (Narrative, zirkuläres Fragen etc.), Sprachbilder (Metaphern), Arbeit mit Bildern (z. B. aus der Kunst), mit Imaginationen und Simulationen (besonders ausgeprägt im NLP), Skulpturarbeit (Virginia Satir), Aufstellungen (v. a. nach Hellinger; sehr umstritten), Körperarbeit (z. B. Tanz, persönliche Körperanker), um nur einige Arbeitstypen zu nennen. Im Paradigma der Systemischen Therapie sind lösungsorientierte Kurzzeittherapien populär geworden, die bevorzugt im (beruflich veranlassten) Coaching eingesetzt werden.
Paradigma: Verhaltenstherapie
Dieses Paradigma beherbergt gegenwärtig eine Vielzahl therapeutischer Varianten und ist, insbesondere eingedenk der herausragenden Belege aus der Wirkungsforschung, das in praxi verbreitetste und populärste, übrigens auch im eingangs erwähnten Gamification und in der virtuellen oder Online-Therapie.
Die Dominanz schlägt sich gegenwärtig sogar in der universitären Repräsentanz nieder, zum Leidwesen von Vertretern anderer Paradigmen und schlussendlich auf Kosten nicht nur Letztgenannter, sondern des Können-Repertoires von Psychotherapeuten, ersichtlich etwa an der Klage, Verhaltenstherapie halte inzwischen ein Monopol, vorgetragen von der ehemaligen Leiterin des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt, Marianne Leuzinger-Bohleber (FAZ, 14.02.2020).
Die Varianten klassische und operante Konditionierung legen den Fokus auf Reiz-Reaktions-Schemata. Psychische Störungen gelten folgerichtig als Fehlkonditionierung, die korrigiert werden kann. Zwar nicht gelöscht, aber (neuronal-synaptisch) durch Umlernen geschwächt, sodass dem Betroffenen neues Verhalten möglich ist. Hier leistet offenkundig die Konfrontationstherapie gewünschte Wirkungen, indem sie via Umlernen Besserung, Erleichterung verschafft und in verändertes Verhalten mündet. Diese Wirkung scheint gebunden an die Voraussetzung, dass die zu behandelnde Fehlkonditionierung nicht in früher Kindheit, nicht traumatisch und nicht unbewusst ist. Konfrontationstherapie ist in erster Linie von Erfolg gekrönt, „je leichter oder begrenzter das konditionierende Furchtereignis war und je später im Leben es stattfand.“ (Roth, Ryba, 2016, S. 317). Insofern kann das Arbeiten gemäß der klassischen Variante aus neurobiologischer Sicht Leistungen verbuchen.
Ihr Ignorieren von biografischen, vergangenen wie gegenwärtigen Erfahrungen und deren prägender Niederschlag (Konsolidierung, Musterbildung) sowie das Nichtbeachten kognitiv-emotionaler, soziokultureller Kontextvariablen als Einflussvariablen haben sich jedoch als ungenügend erwiesen und zu Revision bzw. Erweiterung genötigt. Verhaltenspsychologische Annahmen wurden überprüft und Modelle erweitert. Es ist die kognitive Verhaltenstherapie, zuweilen als Tandem mit der Rational-Emotiven-Therapie (RET), die den Durchbruch brachte und in der Wirksamkeitsforschung gute Zensuren erhält, was ein wesentlicher Grund dafür ist, dass sie – wie erwähnt - als Basis für virtuelle Therapien fungiert und im universitären Curriculum für den Studiengang Psychotherapie eine dominante Stellung einnimmt.
Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) fußt als Psychotherapie inzwischen entschieden auf interdisziplinären Erkenntnissen in Forschung und Anwendung (Wirksamkeitsforschung), sowohl aus naturwissenschaftlichen Zweigen wie Neuro-, Verhaltensbiologie als auch aus geistes-, sozialwissenschaftlichen Zweigen aus dem vielfältigen Reservoir der Psychologie als Wissenschaft und Psychotherapie als Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse rund um Person, Emotion, Ratio, um Lernen.
Inzwischen gibt es zahlreiche konkrete Erweiterungen, die Störungs- und Behandlungsformen aus anderen Konzepten integrieren und auch überindividuelle (milieu-, kontextbezogene) Variablen einbeziehen. Etwa die Erweiterung um Emotionsregulierung und Behandlung psychosomatischer Störungen und Konzepte wie Achtsamkeit. Diese Entwicklung wird bereits vermarktet (z. B. https://christoph-dornier-klinik.de)
Das Ziel liegt nach wie vor in Diagnose und Behandlung von für den Klienten ungünstigen Kognitionen und Emotionen, im Integrativen Modell unter Einbeziehung von Körper-Psyche-Wechselwirkungen, stets mit dem Akzent, Muster zu erkennen in Fühlen, Denken, Verhalten und deren wechselseitige Beeinflussung. Das therapeutische Bemühen kreist darum, den Klienten zu befähigen, durch Erkenntnis und Üben Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten und via Mustererkennung, -neuschöpfung, Etablieren neuer Routinen und Selbstverständlichkeiten zu individueller Souveränität zu verhelfen.
Die Erfolgsfaktoren für die Karriere zum dominanten Paradigma seien an dieser Stelle stichpunktartig notiert: Offenheit für und Einspeisen von empirischen Erkenntnissen aus psychologischer, (psycho-, verhaltens-, evolutions-)biologischer, aus neurowissenschaftlicher Wissenschaft und Forschung, einschließlich bildgebender Verfahren als Lieferer von Erkenntnissen und Überprüfer von theoretischen Annahmen; ferner: Der Lernbegriff wird assoziiert mit lerntheoretischen/psychologischen Axiomen wie Lernen als Problemlösung(-sprozess) und Bewusstmachen/Erkennen sowie Überprüfen/Revidieren via Reflexion von Annahmen, Überzeugungen, Glaubenssätzen als kognitives Überprüfen hinderlicher, schmerzhafter, veränderungsbedürftiger Haltungen und Kognitionen. Nicht Löschen von Unerwünschtem, sondern dessen gezielte Überschreibung sind Gegenstand von Bemühungen.
Mit alldem rückt die Persönlichkeit eines Menschen konkreter als im klassischen Modell in den Mittelpunkt, und zwar durchaus ganzheitlich: beobachtbares Verhalten (Körper, Handlungen), subjektiv-kognitiv (Überzeugungen, Annahmen, Antreiber) und somatisch-physiologisch (messbare Reaktionen, Facette der Kontroverse, was Gefühle, Empfindungen, Emotionen „sind“: seelische bzw. kognitive – beurteilende – Reaktionen auf körperliche Signale oder umgekehrt oder beides parallel?; Parallelisierung bzw. Korrelierung von Ver-, Um-, Neulernen mit neuronalen und anderen Prozessen in bestimmten Hirnarealen).
Aufgrund dieser Offenheit steht vielleicht eine Umbenennung der Kognitiven Verhaltenstherapie ins Haus: Dadurch, dass neurowissenschaftliche Verfahren Indizien dafür liefern, dass emotionale Zentren auch und gerade beim Durchhalten von (Um-, Neu-)Lernen beteiligt sind und Kontrolle von Lernaktivitäten und -erfolgen nicht nur kognitiv gesteuert wird, sondern zudem abhängig ist von emotionalen, motivationalen sowie sozialen Bedingungen wie Zugehörigkeit und Bindung, wird, wenn auch noch vereinzelt, von einer „bindungs- und emotionsorientierten“ kognitiven Verhaltenstherapie gesprochen, die, sei ergänzt, mit dem RET-Ansatz konvergieren könnte. Das zeigt, um nur eine neuere Variante zu nennen, etwa die (eklektizistische) Schematherapie.
Mittel der Wahl sind neben Verhaltensanweisungen (etwa für Verschüchterte: „Gehen Sie durch die Innenstadt und fangen Sie drei mindestens fünfminütige Gesprä- che mit fremden Passanten an“), Frageformulierungen, die das Nach-, Über-, Umdenken initiieren sollen und auf diesem Weg das Erkennen und das kritische Überprü- fen von Mustern und Denk-, Fühl-, Handlungsweisen (Typus zirkuläres, Perspektiven wechselndes Fragen) und auch das Parallelfahren psychopharmakologischer und psychotherapeutischer Behandlung.
Neurobiologisch zu empfehlen sind – wie erwähnt – neben der kognitiven Arbeit (Reflexion von Mustern) das Ausbilden neuer Routinen via durch Belohnungen begleitetes Verlernen, Umlernen, Neulernen unter begleitender Kontrolle (Feedbackschleifen). Zu den bekannteren Verfahren gehören in der Präsenztherapie Simulationen, Rollenspiele; Konfrontationsübungen und auch Paradoxe Intervention, Provokative Therapie.
Zusammenfassung
Auch wenn die Funktionsweise des menschlichen Gehirns, das Zusammenspiel von Hirn und Geist (Psyche, Seele, Intellekt) sowie deren Korrelation mit dem übrigen Körper und der Umwelt noch keinesfalls durchschaut ist und es begründete Zweifel an der definitiven Aussagekraft von bildgebenden Verfahren gibt (Schönberger, 2015): Es sollte nachvollziehbar geworden sein, inwiefern neurowissenschaftliche Erkenntnisse psychotherapeutische Praxis dennoch befruchten und dazu beitragen können, die Erfolgswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Bisherige Befunde belegen eindrücklich, dass Anatomie und funktionale Schaltkreise, Physiologie oder Hirnchemie und Psyche sowie Gene und Epigenetik die Grund- oder Kernanlagen des persönlichen Profils maßgeblich mitbestimmen, neben exogenen prä- und postnatalen sowie sozialisierenden Einflüssen. Das Ausmaß der „Grundverdrahtung“ der Schaltkreise oder neuronalen Netzwerke gleicht einem Grundgerüst, um das herum gebaut und dekoriert werden kann, nicht aber die Grundgestalt verändert.
Den Blick zu weiten zu einem Natur- und Geisteswissenschaften einschließenden interdisziplinären Blick und damit für wissenschaftliche, experimentelle und anwendungbezogene Erkenntnisse, Befunde, Studien und Praktiken – darin liegt die besondere Herausforderung von Psychotherapie: das Sichöffnen für interdisziplinäre Diagnose und Therapie und die Kooperation mit Spezialisten aus anderen Bereichen, zum Wohl des Klienten und schlussendlich auch der psychotherapeutischen Tätigkeit.
Ausblick
Ich hatte eingangs bemerkt, auf Kritik verzichten zu wollen. Daran möchte ich mich halten. Zumal es für den Zweck des Unterfangens neurobiologischer und -psychologischer Grundierung psychotherapeutischer Praxis unerheblich ist, welche Anzahl an anatomischen Ebenen man wählt – es gibt zu der Roth‘schen Aufteilung in den Neurowissenschaften andere Differenzierungen und Ordnungsbemühungen. Unter diesem Gesichtspunkt spielt auch die Anzahl der psycho-neuralen Systeme keine Rolle. Der Zweck liegt vornehmlich darin, Gehirnanatomie und -topologie in Bezug zu setzen zu Hirnfunktionen und zu Seele, Geist, Psyche und vor diesem Hintergrund gängige psychologische Theorien und ihre mehr oder weniger getreue Anwendung zu prüfen, um Empfehlungen für erfolgreiche(re) Persönlichkeitsentwicklung und Therapie zu unterbreiten. Daher die Roth‘sche Differenzierung in Anatomisches und Psychoneuronales.
Psycho-Neural ist Programm. Und es wäre höchst wünschenswert, dass weitere Bemühungen in diese Richtung aus neurowissenschaftlicher Expertise unternommen, koordiniert und verbreitet werden.
Zum Ausblick gehört ein bedeutsamer Hinweis: In den letzten Jahren wurde das „Darmgehirn“ medial geradezu gefeiert. Dabei sind die Entdeckungen und Verbindungen, die von Fachleuten gemacht und gezogen wurden, keineswegs neuen Datums. Jedenfalls ist nun breitflächig bekannt, dass Darm und Gehirn interagieren, dass im Darm etwa die Hauptproduktionsstätte von Dopamin (einem der wichtigsten Neurotransmitter) liegt und dass die Verbindungen, die vom Darm zum Gehirn führen, deutlich mehr und dichter sind als umgekehrt. Auch dies ist ein Beleg dafür, dass das „Bauchgefühl“ durchaus von Wissen aus dem Gehirn genährt wird.
Ernährung ist das Stichwort: Zwar gibt es bereits einige Erkenntnisse dazu, wie sich bestimmte Stoffe in Nahrungsmitteln auf Darm und den Gehirnstoffwechsel, auf psycho-neuronale(!) Systeme, und damit auf Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden auswirken. Jedoch steckt diese Forschung noch in den Lauflernschuhen. Schließlich geht es zum einen um einen komplexen Sachverhalt (nicht nur kompliziert!), und zweitens muss bei jeder Intervention, ob kognitiv, körperlich, sensual, erlebensorientiert, ernährungsphysiologisch, pharmakologisch, beachtet werden, dass jedes Gehirn individuell ist, so, wie jede Persönlichkeit einzigartig ist. „Das“ Gehirn ist – analog Theorien und Modellen in Psychologie – ein Konstrukt, das Forschung und Theoriebildung ermöglicht. Dies in mente zu haben hilft, sowohl neugierig zu sein und sich kundig über Entwicklungen auf den einschlägigen Gebieten zu halten und gleichzeitig kognitive, nicht ideologisch begründete, Distanz zu wahren, um nicht in Aktionismus zu verfallen und zu meinen, jede neurowissenschaftliche Erkenntnis müsse sich eins zu eins in psychotherapeutischen Praktiken niederschlagen.
Der inklusive Anspruch von Geltung seitens der Neurowissenschaften impliziert breitflächige und intensive Forschung und Debatten, die für Psychotherapeuten ebenso relevant sind wie Entwicklungen im Bereich psychotherapeutisch genutzter Technologie, Online-Anwendungen, Psychopharmakologie.
Literatur
- Hofmann, Arne: Die Macht der Augenblicke. In: Gehirn & Geist 05, 2004, 70-74
- Krauss, Andreas: Fußangeln der Erinnerung. In: Gehirn & Geist 05, 2004, 66-69
- Mahlmann, Regina: Hello, I`m Eiza. Eliza und die Zukunft von Psychotherapeuten. Teil 1. In: Freie Psychotherapie, 02.19, S. 57-61
- Therapie ohne Therapeut – mit Roboter? Teil 2. In: Freie Psychotherapie, 03.19, S. 33-36
- Roth, Gerhard: Bildung braucht Persönlichkeit. Wie lernen gelingt. Stuttgart, 2019
- Roth, Gerhard und Strüber, Nicole: Wie das Gehirn die Seele macht. Stuttgart, 2014
- Roth, Gerhard: FAZ-Interview, 11.08.2015. Wie lautet der gegenwärtige Erkenntnisstand der Psycho-Neurobiologie?
- Röder, Brigitte: Hirnforschung, was kannst du? Wir formen unser Gehirn. In: FAZ, 26.09.2015
- Reiter, Hanspeter (Hg.): Handbuch Hirnforschung und Weiterbildung. Wie Trainer, Coaches und Berater von den Neurowissenschaften profitieren können. Beltz, 2017
Dr. Regina Mahlmann
Beratung, Coaching, Schulung, Autorin, Landsberg am Lech
Fotos: ©Goodideas, ©agsandrew