Supervision – Hilfe für die Helfer
Immer wieder einmal werde ich von meinen Studenten gefragt: Sag mal, macht dir das eigentlich gar nichts aus, den ganzen Tag mit Menschen zu sprechen, die dir ihre Probleme erzählen?
Nein!
Aber: Wenn ich feststellen würde, dass mir ein Thema so zusetzt, dass es mir etwas ausmacht, dann würde ich mich fragen, was aus dieser Erzählung in meinem Hier- und Dasein hängen geblieben ist. Dann hat wohl ein Thema meines Patienten eine Saite in mir zum Klingen gebracht, die mich überrascht, die nachschwingt und die mich für den Rest des Tages oder länger beschäftigt.
An sich ist das ja nicht schlimm, ein Ohrwurm ist schlimmer. Es ist außerdem schon vorgekommen: Eine 35-jährige Patientin berichtete mir von einer Erfahrung, die sie mit ihrem fünfjährigen Sohn gemacht hatte. Es war eine Kleinigkeit. Nur fühlte ich mich schlagartig, als sei ich von einem Sandsack getroffen worden. Das war vollkommen überraschend und unproportional! Eine eigene Erinnerung wurde bei mir wach, die war vierzig Jahre alt und ich war überwältigt. Vollständig vergessen!
Das war nebenbei gesagt die einzige Therapiesitzung, die ich jemals abgebrochen habe, weil mir die Tränen kamen. Ich fand das egoistisch und der Gedanke, dass sie für meine Probleme kein Geld bezahlen sollte, stand bei mir im Vordergrund.
Heute würde ich eine solche Therapiesitzung nicht mehr wegen aufkommender Tränen abbrechen, weil es erfahrungsgemäß unseren Patienten (immer m/w/d) nichts ausmacht, wenn wir mitfühlen, berührt sind, mitschwingen. Die meisten Patienten wissen es zu schätzen, dass wir eben nicht wie ein Stein am Kopfende der Liege sitzen und ab und zu durch Atmen oder kleine, zustimmende Laute zu erkennen geben, dass wir noch anwesend sind. Sie finden erfahrungsgemäß die therapeutische Distanz allenfalls professionell, selten aber wünschenswert.
Entscheidender ist, ob wir durch den Bericht des Patienten handlungsunfähig werden oder ob wir deutlich machen können, dass man mit einer solchen berührenden Erfahrung umgehen kann.
Eine andere, etwa 70-jährige Patientin hatte infolge ihres Geburtsjahres, 1943, übles Pech gehabt: Die neurochirurgischen Möglichkeiten Mitte der 1950er-Jahre waren einfach noch nicht so ausgefeilt, wie sie es heute sind. Infolgedessen hatte sie nach einer Operation eine schwere Behinderung zurückbehalten: Innenohrtaubheit und einseitiger Verlust des Gleichgewichtssinnes, die ihr Leben unmäßig erschwert haben. Als ich ihr wahrheitsgemäß sagte, wie leid mir das tut, tat ihr das gut. „Ach, Herr Schnura ...“, großer Seufzer.
Unsere Patienten berichten uns ja im Allgemeinen nicht, was sie alles gut bewältigt haben, obwohl das ganz sicher hilfreich wäre, und die Menge des Bewältigten ist groß, sondern sie berichten uns davon, womit sie zurzeit nicht fertigwerden. Womit sie nicht umgehen können. Was ihnen zusetzt. Die Summe dieser Dinge ist nicht allzu groß und häufig wird es ähnliche Erfahrungen geben zwischen Patient und Therapeut.
Nun ist mir die Begegnung mit der oben genannten Patientin und ihrem Sohn in meinem Therapiezentrum widerfahren, das wir mit sieben Kolleginnen und Kollegen gegründet hatten. Es war immer jemand da, der sich meiner hätte annehmen können und das auch tat. Wir nannten das Teamsitzung und sie fand wöchentlich statt. Immer Punkt 1: Steht irgendetwas Persönliches an?
Die Arbeitsbedingungen sind aber nicht oft so. Mehrheitlich arbeiten wir in einer Einzelpraxis, deutlich seltener zu zweit. Es ist niemand da, der uns beraten kann, und dafür wurde das Instrument der Supervision erschaffen. Als Hilfe für die Helfer.
Ich weiß von Kollegen, für die einige Themen infolge eigener Erfahrungen tabu sind, z. B. sexuelle Gewalterfahrungen oder Depressionen. Das ist in Ordnung, beeinträchtigt aber ihren möglichen beruflichen Erfolg. Außerdem ist das Gegenstand einer Lehrtherapie. Und es ist nicht identisch mit der Spezialisierung auf problematische Themenbereiche wie Paartherapie, Teamwork oder Vergangenheitsbewältigung. Wir können uns dafür entscheiden. Aber ein Tabu?
Es kann zu tun haben mit dem Empfinden für die eigenen problematischen Punkte aufgrund eigener Betroffenheit, vor denen uns eine innere Stimme klar und deutlich warnt, und nicht immer haben wir die Wahl, mit welchen Themen unsere Patienten zu uns kommen.
Das ist ja interessant
Die Situationen, die uns so berühren, dass wir an irgendeiner überraschenden Stelle einrasten und zum Weiterkommen oder für ein tieferes Verständnis eine Unterstützung von außen brauchen, haben eines gemeinsam. Ein Patient berichtet von seinem Problem, das uns aus der Theorie oder auch aus der Praxis bekannt ist. Als wir damals die Ausbildung gemacht haben, haben wir auch gelernt, wie man mit einem solchen Problem umgehen kann.
Also verwenden wir die erlernte Technik. Und nichts passiert, nichts wird besser. Es funktioniert einfach nicht! Die lebendige Praxis widersetzt sich der papiernen Theorie, oder schlimmer noch: der langen Reihe positiver Erfahrungen, die wir mit dieser Therapietechnik bis jetzt gemacht haben. Bisher hat es doch immer geklappt und auf einmal tut es das nicht mehr?
Nun gibt es drei Möglichkeiten
- Ich kann denken: doofer Patient.
- Ich kann denken: doofe Therapie, wahlweise: doofer Therapeut.
- Ich kann denken: Das ist ja interessant (was ich für eine der wichtigsten Betrachtungsweisen unserer Arbeit halte).
Ich bin also herausgefordert, etwas ganz Neues zu denken. Und damit stoßen wir an die nur allzu menschlichen Grenzen unserer Imaginationsfähigkeit. Sieben verschiedene Lösungsversuche hat der Patient bereits unternommen, das war der Rekord, und nun soll mir etwas ganz Neues einfallen? Wie denn das! Wir sind herausgefordert, einen ungewohnten, originellen und zudem auch noch funktionierenden Denkansatz zur Auflösung eines Knotens zu finden. Wir sind im Grunde eingeladen, aus uns selbst herauszutreten und uns sowie die gesamte Situation von außen zu betrachten:
Was habe ich übersehen? Was hat der Patient übersehen? Was hat die Theorie falsch verstanden? Nur: aus uns selbst heraustreten? Den Blick von außen auf uns selbst? Wie soll das gehen? Wir sind in uns selbst verfangen – allemal.
In dieses Dilemma sind schon viele therapeutische Theorien hineingeraten und eine ganze Reihe auch erfahrener Kollegen. Es gibt ein Dogma vom Weg zur richtigen Lösung, die Grundannahmen (das Urtrauma, das Neulernen, das System) werden üblicherweise nicht infrage gestellt. Wir haben Geld ausgegeben für das Erlernen der richtigen therapeutischen Strategien, aber der Weg dahin führt weder einfach noch gradlinig zum Ziel. Es gibt irgendwo einen Haken, aber wir finden ihn nicht.
Denn eine Lösung gibt es ja. Das Problem ist schon einige Male vorgekommen in der Weltgeschichte und jemand anders von ähnlichem geistig-seelischen Zuschnitt hat es ja gelöst, also gibt es eine Lösung, nur: Wo liegt die? Wie sieht die aus? Und wie finden wir sie heraus?
Wurzeln und Flügel
Wir sind als soziale Wesen geboren. Wir kommen zur Welt mit dem unabweisbaren Grundbedürfnis nach Verbundenheit, das so überwältigend ist, dass wir alles dafür tun, innerhalb dieses Erlebens von Verbundenheit zu bleiben. Wir sind sogar bereit, Teile von uns selbst zu ignorieren, zu opfern gar, nur um in der Verbundenheit zu bleiben, so fundamentale Teile wie der Wunsch nach Entfaltung in der Freiheit, sind uns ebenfalls angeboren. „Der Mensch braucht Wurzeln und Flügel“, schrieb der libanesische Maler und Dichter Khalil Gibran, „Verbundenheit und Freiheit.“
Das bedeutet aber auch, dass wir unsere Mitmenschen brauchen, als Lernhilfe, zur Orientierung und zur Selbsterkenntnis.
Wie anders schauen sie auf uns von außen?
Wie sehen wir wohl von außen aus?
Was sehen sie, was ich nicht sehe, vielleicht nicht einmal ahne?
Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Sie noch nie Ihre eigene Nase gesehen haben, immer nur Fotos oder Spiegelbilder davon? Im Allgemeinen wird uns das gar nicht bewusst. Aber wir brauchen den Blick von außen, die ganz andere Perspektive, um Erkenntnis zu erweitern.
Klar, wenn uns der Freund sagt, dass uns dieses Hemd nicht steht, dann kann das ja noch sein eigener Geschmack sein, und der ist bekanntermaßen ulkig. Was uns also relativ wenig hilft, ist der freundschaftliche Blick des Freundes, denn der steckt in seiner eigenen Geschichte. Also brauchen wir auch den professionellen und distanzierten Blick von außen. Und den kann uns ein Profi, ein Fachmann, in der Sprache der Supervision: ein Supervisor, bieten.
In den meisten Fällen ist das, was eine Blockierung in uns auslöst, ein kleines Steinchen im hochkomplexen Gesamtbetrieb unserer selbst. Klein, also nicht leicht aufzufinden.
Das kann ein eigenes, erinnertes Erleben sein oder eine Dogmatik in Bezug auf diese Art von Problemen, die nicht viel zu einer Lösung beiträgt, oder eine perspektivische Eigenheit in der Sichtweise unseres Patienten, die zwar sein eigen ist, die er uns aber wegen des Gefühls der Selbstverständlichkeit gar nicht mitteilt („Wir haben das immer so gemacht“). Und bis wir dieses Kleinchen gefunden haben, sitzt auch unser Patient fest und es geht nicht weiter. Also werden wir manchmal genötigt, im Sinne unserer Patienten den Blick von außen einzufordern.
Supervision
Ein Berufsverband, der etwas auf sich hält, hat Supervision im Angebot. Supervision hat nichts zu tun mit der Überlegenheit des einen über den anderen, sondern mit der besonderen Distanz, die einzunehmen uns fast unmöglich ist. Und ein Supervisor hat eine Reihe von Fragen bereit, die dem Fragesteller Klarheit geben können.
Für den VFP sind das zurzeit die nebenstehend aufgeführten Supervisor. Es können aber auch Kollegen vor Ort oder in der Region sein.
Es ehrt jeden Berater/jeden Therapeuten, der sich professionelle Hilfe sucht, indem er eine andere Perspektive erfragt, weil er zu erkennen gibt, dass ihm das Finden von Lösungen wichtiger ist als die Wahrung der Eitelkeit, alles selbst zu schaffen.
Thomas Schnura
Psychologe M. A., Heilpraktiker und Dozent
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