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Orthorektisches Ernährungsverhalten – ein relevantes Phänomen in der Alternativ- und Komplementärmedizin?

App FP 0121 komplett Page65 Image1Ergebnisse einer bundesweiten Befragung zu Prävalenz und charakteristischen Eigenschaften orthorektischen Ernährungsverhaltens

In den letzten Jahren wird orthorektisches Ernährungsverhalten in Wissenschaft und Praxis als eine potenziell weitere Variante gestörten Essverhaltens diskutiert.

Der Begriff Orthorexia nervosa (orthós: richtig, korrekt, órexis: Appetit; nervosa: nervlich bedingt) wurde erstmalig von Steven Bratman 1997 benutzt, um eine möglicherweise pathologische Fixierung auf gesunde Ernährung zu beschreiben, die mit einer sehr strengen Einhaltung selbst aufgestellter Regeln bezüglich Lebensmittelauswahl, -zubereitung und -verzehr einhergeht1). Bislang herrscht Uneinigkeit darüber, ob das beschriebene Verhalten ein modernes, von Medien und Gesellschaft geprägtes Phänomen ist oder einen ernsthaften Störungscharakter im Sinne einer klinisch relevanten Pathologie aufweist.

Nach einer kurzen Charakterisierung orthorektischen Ernährungsverhaltens wird in diesem Artikel eine Studie vorgestellt, in der die Relevanz orthorektischen Ernährungsverhaltens in der Alternativ- und Komplementärmedizin untersucht wurde.

Bratman war als Alternativmediziner in eigener Praxis tätig und beobachtete sowohl bei sich selbst als auch bei einigen seiner Klienten (immer m/w/d), dass die zunächst harmlose Beschäftigung mit gesunder Ernährung in eine immer stärkere Einschränkung der eigenen Ernährungsgewohnheiten münden kann, einhergehend mit der Angst, durch den Verzehr von subjektiv als ungesund definierten Lebensmitteln zu erkranken1). Im Extremfall kann die daraus resultierende einseitige Ernährung seinen Beobachtungen nach zu Nährstoff- und Vitaminmangel, Konzentrationsschwäche, abnehmender Leistungsfähigkeit und sozialem Rückzug führen1).

Sowohl die individuelle Ausprägung als auch der Verlauf orthorektischen Ernährungsverhaltens beschreibt Bratman als sehr heterogen, was sich auch heute noch in der Schwierigkeit, eine einheitliche Definition zu finden, widerspiegelt. Auch wenn bereits einige Vorschläge für Diagnosekriterien publiziert wurden2), ist zum aktuellen Zeitpunkt die Orthorexie nicht als offizielles Störungsbild in den aktuell gültigen Klassifikationssystemen psychischer Störungen (ICD-10 und DSM-5) aufgeführt und wird auch für das bereits geplante Nachfolgewerk ICD-11 nicht bedacht.

Dies liegt nicht nur daran, dass die Existenz des möglichen Störungsbildes umstritten ist, sondern auch, weil symptomale Überschneidungen mit Essstörungen, insbesondere mit der Anorexia nervosa, sowie mit der Kategorie der Zwangsstörungen zu beobachten sind2), was eine eindeutige Abgrenzung erschwert. Ersten Prävalenzschätzungen zufolge weisen in Deutschland 1 - 7 % der untersuchten Stichproben orthorektische Verhaltensweisen auf3),4).

Eine bislang noch offene Frage ist, inwiefern orthorektisches Ernährungsverhalten Leidensdruck hervorruft und Betroffene dazu veranlasst, sich professionelle Hilfe zu suchen. Eine Befragung von 290 Ernährungsberatern zeigte, dass 70 % der Befragten von Personen mit orthorektischem Ernährungsverhalten konsultiert wurden und die Orthorexie als klinisch relevantes Phänomen eingeschätzt wird4). Zur Erweiterung dieser Erkenntnisse um die Perspektive einer weiteren Berufsgruppe aus dem Gesundheitssystem wurden für die vorliegende Studie deutschlandweit Heilpraktiker dazu befragt, inwiefern Personen mit orthorektischem Ernährungsverhalten in ihrer Praxis vorstellig wurden, welche Symptome sie aufwiesen und mit welchen Methoden sie behandelt wurden.

App FP 0121 komplett Page66 Image3Stichprobenbeschreibung

Dank der fünf Fachverbände aus dem Bereich der Alternativ- und Komplementärmedizin, die ihre Mitglieder über die Studie informierten, konnten im September und November 2019 insgesamt 279 Praktizierende online befragt werden. Die Stichprobe setzt sich aus 236 (85 %) Frauen und 39 (14 %) Männern zusammen, das Durchschnittsalter liegt bei rund 53 Jahren. Knapp 70 % der Teilnehmenden geben als höchsten Schulabschluss die Fachhochschulreife an. Rund 36 % absolvierten ein Hochschulstudium und 60 % eine Ausbildung, davon 60 % im medizinischen Bereich. Mit 65 % sind die meisten Praktizierenden ohne Einschränkung tätig. 35 % arbeiten beschränkt auf ein Gebiet, davon 19 % auf das Gebiet der Psychotherapie. Die Berufserfahrung liegt im Durchschnitt bei 12 Jahren.

Ergebnisse

54 % der Heilpraktiker gaben an, dass ihnen vor Teilnahme an der Studie der Begriff „Orthorexie“ bekannt war, und zwar vor allem durch ihre praktische Berufserfahrung und aus Fachzeitschriften. Bei rund 73 % der Praktizierenden wurde innerhalb der letzten 12 Monate mindestens eine Person vorstellig, auf die die Symptombeschreibung orthorektischen Ernährungsverhaltens zutraf. Am häufigsten wurden eine starke Selektion der Nahrung nach bestimmten Kriterien, rigides Befolgen selbst aufgestellter Ernährungsregeln, ständige gedankliche Beschäftigung mit gesunder Ernährung, Angst, durch ungesunde Ernährung zu erkranken, und die Überzeugung, dass die praktizierte Ernährungsweise die einzig richtige ist, genannt. Jedoch zeigten lediglich 21 % der Betroffenen Orthorexie als Hauptsymptom; häufig wurde eine Kombination mit Zwangs- und Essstörungen erwähnt.

Des Weiteren berichteten die Befragten, orthorektische Symptome in Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen, Krebs, Allergien, Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Schmerzen sowie als begleitendes Symptom bei Angst- und Panikstörungen beobachtet zu haben. Als Behandlungsanlass gaben die Heilpraktiker häufig den Wunsch nach gesundheitsförderlichen Behandlungen sowie nach Beratungsgesprä- chen zur körperlichen Gesundheit an.

Die Auswertung der soziodemografischen Angaben ergab, dass mehrheitlich Frauen mit orthorektischen Symptomen vorstellig wurden, die meist zwischen 25 und 40 Jahren alt und normalgewichtig waren. Hochgerechnet wurden pro befragte Person etwa acht Betroffene mit orthorektischen Symptomen in den letzten 12 Monaten vorstellig. Wenn die Betroffenen nicht selbst behandelt wurden, dann wurden sie meist an psychotherapeutische Einrichtungen verwiesen. Etwa 54 % der Befragten gaben an, selbst Patienten mit Symptomen orthorektischen Ernährungsverhaltens behandelt zu haben.

Von den verschiedenen Methoden der Alternativ- und Komplementärmedizin wurden am häufigsten Homoöpathie, mikrobiologische Therapie sowie Aus- und Ableitungsverfahren angewendet. Hinsichtlich psychotherapeutischer und beratungsorientierter Methoden wurden Gesprächstherapie, Entspannungsverfahren sowie allgemeine Beratungsgespräche und Ernährungsberatung genannt.

Darüber hinaus wurde ein Meinungsbild zur Orthorexie aus fachlicher Perspektive der Praktizierenden ermittelt. Während 80 % die Orthorexie für klinisch relevant halten und 67 % der Meinung sind, dass die Orthorexie eine eigene Diagnosekategorie benötigt, stimmen lediglich 33 % der Aussage zu, dass Orthorexie eine vorübergehende Zeiterscheinung ist, und nur 20 % halten die Bezeichnung der Orthorexie als Pathologie für übertrieben. Zudem vermuten 80 % eine hohe Dunkelziffer an Betroffenen, die nicht im Gesundheitssystem vorstellig werden. Insgesamt halten jedoch lediglich 26 % ihr Wissen zum Thema Orthorexie für ausreichend.

Einordnung der Befunde

Zunächst ist festzuhalten, dass eine große Notwendigkeit besteht, Alternativ- und Komplementärmediziner über den möglichen Symptomkomplex der Orthorexie aufzuklären, da betroffene Personen in diesem Bereich des Gesundheitssystems vorstellig werden, jedoch nur ein geringer Anteil der Befragten die eigenen Kenntnisse zum Thema für ausreichend hält.

Insgesamt decken sich die Antworten der Befragten zur Soziodemografie orthorektischer Personen sowie zu den beobachteten Symptomen und den komorbiden Störungsbildern weitestgehend mit dem aktuellen Stand der Forschungslage. Insbesondere wird die schwierige Abgrenzbarkeit der Orthorexie sowohl von anderen Essstörungen als auch von Zwangsstörungen deutlich, da orthorektische Symptome häufig im Zusammenhang mit diesen beiden Störungsbildern beobachtet wurden.

Abgesehen von der hohen Komorbidität zwischen Ess- und Zwangsstörungen5) weisen orthorektische Symptome auch inhaltliche Überschneidungen mit beiden Störungsbildern auf, zusätzlich kommt es in der Praxis im Bereich der Ess-, Zwangs- und Angststörungen häufig zu einem Wechsel zwischen den Symptomen der Störungsbilder5). Hier ist weitere Forschung notwendig, um die nosologische Einordnung der Orthorexie zu bestimmen.

Die Analyse der Kommentare in den freien Antwortfeldern deutet darauf hin, dass zudem eine weitere Untersuchung des Zusammenhangs von körperlichen Krankheiten und orthorektischem Ernährungsverhalten sinnvoll wäre. Das häufige gemeinsame Auftreten mit körperlichen Symptomen lässt vermuten, dass gesunde Ernährung als Bewältigungsversuch dienen könnte, um vorhandene Symptome zu lindern, oder dass körperliche Erkrankungen als Folge einer langfristigen Einschränkung der Ernährung auftreten können.

Angesichts der Vielfalt der berichteten Behandlungsmethoden wird deutlich, dass orthorektische Symptome in der Praxis ein sehr heterogenes Erscheinungsbild haben und entsprechend einer unterschiedlichen Behandlung bedürfen. Da bislang keine Studien zur Behandlung der Orthorexie vorliegen und demnach auch keine Behandlungsempfehlungen ausgesprochen werden können, ist eine Einordnung der Nützlichkeit und der Effektivität der verwendeten Methoden an dieser Stelle nicht möglich.

Fazit

Orthorektisches Ernährungsverhalten ist in der Alternativ- und Komplementärmedizin ein relevantes Phänomen, auch wenn entsprechende Symptome relativ selten isoliert, sondern häufiger in Kombination mit anderen Symptomen psychischer oder körperlicher Erkrankungen auftreten. Neueste wissenschaftliche Befunde zum Thema Orthorexie sollten daher nicht nur in psychologischen und ernährungswissenschaftlichen Berufsgruppen verbreitet werden, sondern auch Praktizierende der Alternativ- und Komplementärmedizin erreichen.

Es ist weitere Forschung notwendig, um herauszufinden, ob die Orthorexie ein eigenständiges Störungsbild ist und wie die Behandlung entsprechender Symptome erfolgreich gelingen kann.

Literatur

1) Bratman, S., Knight, D. (2000): Health food junkies: Overcoming the obsession with healthful eating. Broadway Books

2) Cena, H., Barthels, F., Cuzzolaro, M., Bratman, S., Brytek-Matera, A., Dunn, T. M., Varga, M., Missbach, B., Donini, L. M. (2019): Definition and diagnostic criteria for orthorexia nervosa: A narrative review of the literature Eating and Weight Disorders, 24, 209-246. https://doi.org/10.1007/s40519-018-0606-y

3) Barthels, F., Meyer, F., Pietrowsky, R. (2015): Die Düsseldorfer Orthorexie Skala - Konstruktion und Evaluation eines Fragebogens zur Erfassung orthorektischen Ernährungsverhaltens [Duesseldorf Orthorexia Scale – Construction and Evaluation of a Questionnaire Measuring Orthorexic Eating Behavior]. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 44, 97-105. https://doi.org/10.1026/1616-3443/a000310

4) Barthels, F., Lavendel, S., Müller, R., Pietrowsky, R. (2019): Relevance of orthorexic eating behavior in nutrition conseling and nutrition therapy. Results of a nationwide survey among German nutritionists Ernährungs Umschau, 66(12), 236-241. https://doi.org/10.4455/eu.2019.048

5) Jacobi, C., De Zwaan, M. (2011): Essstörungen. In H.-U. Wittchen & J. Hoyer (Eds.), Klinische Psychologie & Psychotherapie (Vol. 2). SpringerVerlag. https://doi.org/10.1007/978-3-642-13018-2_49

Luck-Sikorski, C., Jung, F., Schlosser, K., Riedel-Heller, S. G. (2019, March 21): Is orthorexic behavior common in the general public? A large representative study in Germany. Eating and Weight Disorders, 24, 267-273. https://doi.org/10.1007/s40519-018-0502-5

App FP 0121 komplett Page66 Image1App FP 0121 komplett Page66 Image2Dr. Friederike Barthels, Sandra Gahlmann
Psychologin (M. Sc.), Psychologin (M. Sc.) Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Institut für Experimentelle Psychologie, Abteilung Klinische Psychologie
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Fotos: ©nicoletaionescu, ©Goodideas, ©Susanne Kurz