Zum Hauptinhalt springen

Systemische Therapie, Teil 1: Was ist das eigentlich?

Wir, der Verband Freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater, VFP e. V., haben in den letzten Monaten die Websites unserer Mitglieder daraufhin gecheckt, ob sie formal korrekt sind. Besonders das Impressum, das eine Menge Pflichtangaben enthalten muss, stand im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit, aber auch der redaktionelle Teil der Seiten wurde auf formale Fehler hin überprüft, es ging vor allem um Grenzüberschreitungen in Richtung Medizin.

Dabei ist eines aufgefallen, vor allem bei den Kollegen (immer m/w/d), die Systemische Therapieverfahren (ST) anbieten. Der Begriff wird häufig falsch erklärt. Das könnte ja nun egal sein, aber weil die ST inzwischen von einer Reihe von Krankenversicherungen erstattet werden, ist es doch sinnvoll, hier einmal ein paar erklärende Worte niederzuschreiben.

Die Systemischen Verfahren gehören zur 3. Generation der Psychotherapien. Das wirft zwei Fragen auf: Welche sind die ersten beiden Generationen und wo liegen die großen, die essenziellen Unterschiede?

Die 1. Generation

Das ist die der tiefenpsychologischen Verfahren, also Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Ihr grundlegender Lehrsatz lautet: Bevor wir eine Störung in der Gegenwart behandeln können, müssen wir ihre traumatische Ursache herausfinden, eine Wiederholung des immer gleichen Schemas. Also, erst einmal die Ursachen herausfinden – der Therapeut darf nicht dabei helfen – der Patient muss allein darauf kommen, sonst ist es eine Manipulation.

Wer suchet, der findet. Es ist das Urtrauma. Es beruht auf dem Geburtsakt und ist die Basis sämtlicher später auftretender Ängste: die Erfahrung der Trennung von der Mutter, die Angst eines Kindes, von seinen Eltern alleingelassen zu werden und daraus resultierend die Gefühle der Einsamkeit und Hilflosigkeit gegenüber einer feindseligen Welt. Die spirituelle Deutung interpretiert das als die Trennung von Gott.

Das definiert die Aufgabe: Erkenne deine Urangst, erinnere dich an sie, stelle dich ihr, lebe sie noch einmal durch. Daraus erst resultiert die Chance, alle gegenwärtigen, angstbasierten Störungen mit den Kompetenzen eines Erwachsenen aufzulösen.

Sollte diese Auflösung nicht erfolgen, warst du noch nicht an deiner Urangst dran, sondern du bist noch im Widerstand verblieben. Also weiter im gleichen Kontext.

Die 2. Generation

Das ist die der humanistischen Psychotherapieformen. In ihnen geht es um das psychische Wachstum: persönliche Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung im sozialen Kontext durch Aktivierung und Entfaltung spezifischer Potenziale auf ein von Sinn getragenes, selbstverwirklichendes, authentisches Leben hin. Ihr grundlegender Lehrsatz lautet: Umlernen von falsch Gelerntem und neu lernen von nicht Gelerntem.

Man sieht dabei die humanistische Psychotherapie als eine von vier Säulen der Psychotherapie, die der tiefenpsychologischen, der verhaltensorientierten und der systemischen Säule gegenübergestellt wird.

Zur humanistischen Psychotherapie gehören: die Gesprächstherapie vor allem nach Carl Rogers, klientenzentrierte Psychotherapie, Gestalttherapie nach Fritz Perls, Körperpsychotherapie nach Alexander Lowen, die Transaktionsanalyse, Existenzanalyse und Logotherapie nach Viktor Frankl, das Psychodrama nach Jacob Levy Moreno und alles, was daraus folgte. Auch die Verhaltenstherapie gehört hierzu.

Die 3. Generation

Diese umfasst die Vielzahl der sog. systemischen Verfahren. Einige der bekannten Protagonisten sind Virginia Satir, Milton Erickson, die Palo-Alto-Gruppe (Don Jackson, Gregory Bateson, Paul Watzlawick), die Mailänder Schule (Mara Selvini-Palazzoli) und die Heidelberger (Helm Stierlin) Schule, Steve de Shazer – übrigens ein Musiker. Ihr grundlegender Lehrsatz lautet: Der Fehler liegt nicht beim Individuum oder seinem Verhalten, sondern die Kommunikation im System ist so komplex strukturiert, dass keiner mehr durchblickt und es eigentlich nur in Problemen enden kann.

Familienskulptur, lösungsorientierte Therapieverfahren, Hypnosetherapie, EncounterGruppen in Esalen sind ein paar Stichworte zur inzwischen sehr großen Gruppe der systemischen Verfahren. Es ist ein extrem bunter Haufen.

Kommen wir also zum Kern der Sache.
Was ist das System?

Das System ist ein Beziehungsdreieck der Kommunikation. Wir kommunizieren mit drei verschiedenen Partnern:

1. mit uns selbst,
2. mit den Menschen, die uns umgeben,
3. mit der Welt, die uns umgibt.

Die Kommunikation mit uns selbst beschreibt den Umgang, den wir mit uns pflegen. Manchmal gehen wir mit uns selbst um wie der römische Imperator in der Kampfarena: Daumen hoch heißt, du darfst weiterleben, Daumen runter bedeutet, du hast versagt. Und die Kriterien sind eng: Es beeinflussen uns Kritik, Ideale und Urteile, die ja gar nicht unsere eigenen sind, sondern die uns in überwältigender Fülle in wehrloser Zeit beigebracht und eingetrichtert wurden. Bei Androhung der empfindlichen Strafe der Exkommunikation.

Die Kommunikation mit den Menschen betrifft die Familie, Lehrer, Freunde, Kollegen, Nachbarn und die Bewohner der gleichen Straße, der Stadt oder des Landes. Ihnen wollen oder müssen wir entsprechen, tun wir dies nicht, sind wir Outgroup, wir gehören nicht mehr dazu, eine der vernichtendsten Erfahrungen seit den Zeiten der Höhlenmenschen.

Die Kommunikation mit der Welt, die uns umgibt, ist die mit dem Neoliberalismus im frühen 21. Jahrhundert. Auch sie kommt uns erstaunlich daher: Die einen sprechen vom Wald als von Nutzholz, die anderen nennen die gleiche botanische Erscheinung „Das Stehende Volk“. Die einen halten sich Sklaven, die anderen lassen keine Einmischung in die Entscheidungen eines anderen zu. Damit und mit der Kritik, den Idealen und Urteilen müssen wir auf die eine oder andere Art klarkommen, und das reicht vom angepassten Spießbürger bis zum Drop-out, der über den Fluss und in die Wälder verschwindet.

Diese Kommunikation kann gelingen oder nicht. Ich kann Ihnen genau beschreiben, wie Sie mit sich selbst umgehen müssen, damit Ihnen nichts mehr gelingt. Ich kann Ihnen beschreiben, welche Verständigungsversuche innerhalb der eigenen Familie zu Problemen führen. Ich kann Ihnen vorhersagen, was in Bezug auf den weltverzehrenden Spätkapitalismus schon alles nicht funktioniert hat. Ich kenne sehr viele Strategien, die im System von Misserfolgen gekrönt sind. Alles schön und gut, aber: Wie machen wir’s denn besser? Nun, darauf gibt die Systemische Therapie, Sonderzweig lösungsorientierte Gesprächsführung, eine Reihe spannender, überraschender und - wichtiges Kriterium - zum Lachen einladender Antworten. Nein, das ist keine Humortherapie, das Lachen ist das des überraschten Erwachsenen, der fühlt: Darauf wäre ich ja nun nicht gekommen.

Erst mal die Ursachen: Unser Gehirn hat, ob wir es nun wissen oder nicht, einen Ergänzungszwang. Es will eine vollständige Geschichte, und die will es verstehen, so wie sich ein C-Moll-Septakkord zum Ende hin zu einem reinen Akkord auflösen soll: C-G-C. Erst dann ist das Gehirn zufrieden. So ist es zu erklären, dass manche Patienten uns bitten, mit ihnen zusammen die Ursache einer aktuellen Störung ausfindig zu machen. Man kann das tun. Ursachen gibt es, keine Frage, aber wie es in der Palo-Alto-Schule heißt: Eine Kenntnis der Ursachen ist für eine Lösung keine notwendige Voraussetzung. Die Empirie belegt das.

Umlernen oder neu lernen: Wer Klavierunterricht hat, wird am Anfang gesagt bekommen, wie die korrekte Hand- und Körperhaltung ist, damit er sich nicht das Handgelenk ruiniert. Am Ende kann einer ja spielen wie Keith Jarrett, absolut unmögliche Körperhaltung, geht aber ab wie Schmidts Katze. Lernen ist auf Effektivität ausgerichtet. Selbstbestimmung, Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl: Wir werden zu Nutzern unserer selbst im Dienste der Gemeinschaftlichkeit.

Effektive Kommunikation: Die ist nur dann sinnvoll, wenn einer wie der Meister der unvollendeten Sätze und der Ineffektivität, wie Piet Klocke, kommuniziert, s. YouTube, und dafür keinen Gegenwert bekommt. Wenn nun aber die Kommunikation zielgerichtet gemeint ist, dann kann man sich überlegen, ob diese besondere Art überhaupt funktionieren kann.
1. Was ist das Problem?
2. Was habe ich dagegen unternommen und hat das funktioniert?
3. Was soll das Ergebnis sein?
4. Wie kann ich das erreichen? Das ist die Systematik der Systemischen Verfahren.

Das systemische Dreieck

Jeder Einzelne von uns befindet sich in einem Netz von Kommunikationsprozessen oder Interaktionen, das sich in drei verschiedene Richtungen erstreckt: auf mich selbst, auf die Menschen, mit denen ich lebe, und auf die Welt, in der ich lebe.

Siehe Abb. 1

Die vier Faktoren des systemischen Dreiecks und ihre Kommunikationsvorgänge:

Das Ich in der Mitte

Wollen wir annehmen, das sei ich selbst, so wie ich mich jetzt hier und heute vorfinde, mit meinen wie auch immer gearteten Stärken und Schwächen. Mein sog. wahres Wesen.

Die Grenze zwischen dem angeborenen Wesen und dem erlernten Verhalten ist unklar. Eine andere Sichtweise ist viel effektiver: die Antwort auf die Frage, wie wir mit dem umgehen, was wir vorfinden.

Die Kommunikation mit mir selbst

Tatsächlich können wir sagen, dass wir uns in einem Kommunikationsprozess mit uns selbst befinden, auch wenn das auf den ersten Blick überraschend klingt.

Wie ich mit mir selber umgehe: Wir stellen Forderungen und haben Erwartungen an uns selbst und unser Leben, wir machen uns Idealvorstellungen von uns und ärgern uns, wenn wir ihnen nicht gerecht werden. Wir machen uns allerhand Utopien und scheitern an ihnen. Wir befinden uns in einem beständigen inneren Dialog mit Kritik, Idealen und Urteilen.

Die Kommunikation mit den anderen

Ganz offensichtlich kommunizieren wir mit anderen Menschen: unserer Familie, den Freunden, Lehrern, den Kollegen und Nachbarn; das hatten wir ja schon immer so betrachtet.

Wie ich mit anderen umgehe: Hier verhält es sich ganz ähnlich wie beim Umgang mit uns selbst. Wir machen uns ein Bild vom anderen und zürnen, wenn er ihm nicht gerecht wird. Selbst wenn das vollkommen nutzlos ist.

Die Kommunikation mit meiner Umwelt

Auch mit der Umwelt im weitesten Sinne befinden wir uns in permanentem Austausch. Mit dem Begriff Umwelt meine ich vor allem das kaum überschaubare Geflecht aus sozialen, ethischen und moralischen Erwartungen, Normen und kulturellen Ansprüchen ebenso die physische Umwelt.

Interessant jedoch ist die Kommunikation vor allem in dem Bereich der ersten Bedeutung: Ethik, Moral, Normen, Erwartungen.

Das Dreieck

Nun folgt die Beschreibung des äußeren Kommunikationsbereichs.

Siehe Abb. 2

Ich gehe mit anderen so um, weil ich auch mit mir selbst so umgehe (links außen).

1) Du sollst so ordentlich sein, wie ich! Nimm dir ein Beispiel an mir, auch wenn ich kaputtgehe ...

2) Weil ich mich den moralischen Ansprü- chen meiner Gesellschaft gegenüber so verhalte, wirke ich auf meine Mitmenschen so. Die anderen respektieren mich für mein pflichtbewusstes Verhalten ...

3) Weil ich über mich so denke, gehe ich auch so mit den Ansprüchen meiner Umwelt um: Die Gesellschaft muss sich meinen Ansprüchen beugen; die anderen stellen genau solche miesen Forderungen wie mein Vater ...

In diesem Spannungsfeld der Kommunikationen entsteht das, was wir als Problem bezeichnen: Ich komme mit mir selbst, den anderen oder mit meiner Umwelt nicht zurecht, fühle mich nicht wohl in diesen Beziehungen, kriege Ärger und leide. Irgendetwas stellen wir uns anders vor, so sollte es nicht sein, ich oder die anderen nicht, es geschehen Dinge, die sich meiner Kontrolle entziehen und auf die ich keinen Einfluss mehr bekomme, sie entgleiten mir, sie entsprechen nicht meiner Idealvorstellung. Darum geht es mir schlecht.

Zwischen diesen Formen der Kommunikation besteht insofern kein grundsätzlicher Unterschied, als sie allesamt von den gleichen Regeln bestimmt sind. Das können Forderungen sein, die sich an ein nicht erfüllbares Ideal richten. Wir machen uns Vorstellungen, Ideale davon, wie wir, die anderen oder die Welt sein sollten. Da diese nun aber nicht so sind, wie ich mir das vorstelle, entsteht ein Problem. So hart, wie ich mit mir selbst umgehen sollte oder umgehe, so hart gehe ich mit anderen, beispielsweise auch mit meinen Kindern um. Sie wollen nicht, wie ich gern will. Das macht mich fertig. Außerdem handelt es sich jedes Mal um eine Form des Umgangs mit den Dingen, die ich vorfinde oder vorzufinden glaube, das heißt, es ist der Umgang mit mir selbst.

Daraus resultiert nun folgender Gedanke: Nicht die anderen, unsere Eltern, Partner, Kollegen und Kinder sind schuld an meinem Befinden, sondern mein Umgang mit ihnen und ihren Ansprüchen, ihrem Wesen und ihren Forderungen.

Der Gedanke, die anderen seien schuld, ist die Wurzel vielen Leidens, da sich diese ominösen anderen, die wir ja nie vollständig erkennen können, auch wenn es unsere eigenen Kinder sind, selten je die Mühe machen, sich uns zuliebe zu verändern. Mit dem Anspruch, sie sollten das tun, beißen wir auf Granit. Übrigens: Selbst wenn sie bereit sein sollten, sich uns zuliebe zu verändern, dann könnten sie es nicht, da sie nicht wissen, wo im Kopf das Modul sitzt, das sie auswechseln sollen.

Die Welt, wie wir sie vorfinden, ist, wie sie ist. Damit sind wir geneigt, sie für böswillig oder unfähig (bad or mad) zu halten, und wer böswillig oder verrückt ist, der kann ruhig beliebig unter Druck gesetzt werden. Und selbst darunter können wir noch leiden. Die Chancen, es sich per Kommunikation zu vermasseln, sind groß.

In Teil 2 des Artikels stelle ich Ihnen die bekanntesten Techniken und Fragestellungen in der Systemischen Therapie vor.

Thomas Schnura
Psychologe M. A., Heilpraktiker und Dozent

Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

Fotos: ©melita/adobe.stock.com