„Jackie B. – Ein Leben in Extremen“
Mehr als nur ein Theaterstück:
Ein Einblick in die Seele eines Menschen mit der Borderline- Persönlichkeitsstörung
Das Theaterstück des Stadttheater Oberhausen wurde auf meine Initiative hin entwickelt. Mein Name ist Sabine Thiel, ich bin zertifizierte Psychologische Beraterin (VFP) mit dem Schwerpunkt: Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS).
Durch meine Mutter, die an dem Theaterprojekt „Attacke Alter – ein Ausblick auf eine Gesellschaft der 100-Jährigen“ teilnahm, lernte ich die Dramaturgin Hannah Schwegler kennen. Ich diskutierte mit ihr über die Möglichkeit, der breiten Öffentlichkeit das Leben und Er-leben von Menschen mit der Diagnose „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ mit den dramaturgischen Mitteln eines Theaterstücks näherzubringen.
Frau Schwegler beschäftigte sich intensiv mit den Symptomen, dem Erleben der Angehörigen, dem Leidensdruck der Betroffenen und führte viele Gespräche mit Betroffenen und auch mit mir. Gemeinsam mit der Regisseurin Heike Scharpff, die sich ebenfalls intensiv mit dem Thema auseinandersetzte, entstand die Grundidee für dieses Theaterstück.
Die Arbeit begann im Sommer 2011. Gemeinsam mit uns trafen sich die ersten Interessenten (Borderline-Betroffene), die an diesem Projekt teilnehmen wollten. Die Dramaturgin und die Regisseurin wollten sich in einem persönlichen Gespräch mit den Betroffenen ein Bild über das Empfinden eines Menschen mit Borderline-Störung machen. Sie fragten nach extremen Situationen, Erfahrungen mit Therapien und Psychopharmaka.
Nach diesem Treffen begann dann im November 2011 die eigentliche Arbeit an dem Stück. Es wurden erste Probentermine vereinbart und zwei der Interessenten sagten dort bereits die Teilnahme ab. Sie spürten, dass sie den Anforderungen momentan nicht gewachsen waren. Die anderen blieben und schrieben zu vorformulierten Themen ihre Erfahrungen auf. Aus diesen Berichten entstand dann die Person „Jackie B.“
Ab Januar 2012 begann die Probenzeit. Ganz normal, so wie jeder Schauspieler des Stadttheaters auch proben muss, wurden diese Proben angesetzt. Das bedeutet: Jede Woche drei- bis viermal je vier Stunden Probe in den frühen Abendstunden. In der „heißen“ Phase vor der Premiere wurde teilweise zweimal am Tag geprobt. Die Betroffenen nahmen regelmäßig und zuverlässig daran teil. Sie sind zu einem Team zusammengewachsen und bringen sich voller Engagement und Spaß in dieses Stück ein.
Hier ein paar Stimmen der Laienschauspieler
„Ich nehme an diesem Projekt teil, um die Öffentlichkeit über mein Erleben zu informieren. Jackie B. ist eine fiktive Person, die viele Symptome eines Menschen mit einer Borderline-Störung darstellt. Borderline ist allerdings so individuell, dass man es nie auf der Bühne umfassend darstellen kann.“
„Mir geben die Proben und die regelmäßigen Treffen eine Struktur, die ich für mich brauche.”
„Ich teile die Menschen nicht mehr in Normale und Kranke ein, sondern in Borderliner und Nicht-Borderliner.“
„Die Probebühne im Theater Oberhausen ist in den vergangenen vier Wochen zur Probebühne des Lebens geworden. Sie hat den Mitspielerinnen und Mitspielern neue Spielräume eröffnet, die als bisher unbekannte Freiheit erlebt wurden. In den Proben zu „Jackie B. – Ein Leben in Extremen“ können die verschiedenen Rollen eines Ichs ausprobiert werden, ohne ernsthafte Konsequenzen durch Fixierung, Medikation und Abwertung durch andere befürchten zu müssen. Und damit ist schon zu diesem Zeitpunkt das Projekt gelungen: Es setzt sich mit Menschen aus der Region und ihrem Leben auseinander und bringt sie mit Schauspielern aus dem Ensemble zusammen. Um gemeinsam zu lernen, was wir alle nötig haben: Persönliche Freiheit.”
Zitat von Hannah Schwegler (Quelle: Theaterzeitung Oberhausen/Musiktheater im Revier Gelsenkirchen vom März 2012).
Entwicklung des Stücks
Es sollte von einer Person handeln – von Jackie B., der Name kann für einen Mann oder für eine Frau stehen. Das Geschlecht der Hauptperson war zu Beginn der Arbeit noch unklar. Ebenso unklar und schwierig in ein festes Schema zu pressen, wie die Borderline-Störung ist das Leben und Er-leben der Jackie B.
Sie lebt auf einem Rummelplatz – immer auf der Suche nach der „Normalität“ – sie möchte dazugehören. Sie möchte etwas, das sie ausfüllt. Sie hat Angst vor dem Verlassenwerden, mag aber auch keine große Nähe.
Das Stück beginnt mit einer angedeuteten Selbstmordszene. Jackie steht vor den Zuschauern mit einem Luftgewehr und versucht, sich damit zu erschießen – was mit einem Luftgewehr an sich ja schon schwierig ist. Dann kommen die anderen Schauspieler (fünf Borderline-Betroffene, ein Angehöriger und zwei Schauspielerinnen) und reden über Jackie B. und ihren Suizidversuch. Damit beginnt die Reise auf dem Karussell, das Leben auf der Kirmes, so wie es für Jackie B. eben ist.
Es wird eine Reise durch Psychiatrien, in denen überforderte und hilflose Ärzte und Pfleger den „Kampf“ um den Patienten scheinbar längst aufgegeben haben. Hier zählt nur, wer zahlen kann bzw. was bezahlt wird. Und das ist leider oft nur eine medikamentöse Behandlung. Wie sich diese Behandlung auf die Betroffenen auswirkt, was sie dabei fühlen, das zeigt Jackie B. in allen Extremen.
Statt Gesprächen, Psychotherapie und neuen Wegen, bei denen dann auch das soziale Umfeld mit einbezogen werden sollte, wird Jackie B. weggeschlossen und mit Pillen „abgeschossen“. Die Therapie heißt: Tischtennis oder Mensch-ärgere-Dich-nicht spielen mit Mitpatienten. Ein Darsteller erklärt die Wirkungen der einzelnen dort verabreichten Pillen.
Die Frage, die sich hier stellt, ist diejenige: Ist Jackie „verrückt“? Verrückt im Sinne einer Intelligenzminderung? Nein! Jackie ist hochbegabt, wie die meisten Betroffenen. Noch dazu ist sie ein sehr sensitiver Mensch, der Emotionen wesentlich stärker erlebt, als „normale“ Menschen. Jackies Wunsch, eine von den anderen, den Normalen, zu sein, wird hier eindeutig zerstört. Die Gesellschaft mag keine „Bekloppten“, die in der „Klappse“ saßen, vor allem keine Menschen, die so auffällig sind wie Jackie, Menschen, die Grenzen überschreiten.
Grenzen geben Sicherheit. Und Jackie? Sie verunsichert ihre Mitmenschen, weil sie allzu menschliches Verhalten zeigt – Verhalten, das uns im Kindesalter schon aberzogen wird, weil „es sich nicht gehört“.
Die nächste große Herausforderung ist, eine Beziehung zu führen. Jackie will etwas ganz Normales: eine glückliche Partnerschaft! Das ist ein Grundbedürfnis eines jeden Menschen. Doch auch hier ist Jackie extrem. Sie zerstört die Wohnung ihres Freundes zweimal, sie legt sich mit der Polizei an, die ihr Freund zu seiner Sicherheit ruft, und mit dem Hausmeister, der ebenfalls versucht einzugreifen.
Jackies Bruder hat längst aufgegeben. Er kennt seine Schwester so und verlangt von deren Freund das Unmögliche: Jackie eben so anzunehmen, wie sie ist. Doch wie soll jemand, der noch nie etwas mit einem Borderliner zu tun hatte, noch nie einen Borderliner liebte oder ihn als Geschwister hat, das aushalten?
Dieser Aspekt wird in dem Theaterstück ebenso beleuchtet und dargestellt, wie das Leben eines Menschen mit der BPS.
Ein weiterer ganz normaler Wunsch von Jackie ist es, ihren Lebensunterhalt mit eigener Berufstätigkeit zu verdienen. Doch aufgrund ihres extremen Lebensstils fällt es ihr schwer, einen Arbeitsplatz zu finden. Also landet sie irgendwann bei der Agentur für Arbeit. Wenn sie Glück hat, sogar in deren Rehaabteilung oder der des Job Centers. Hier erwartet Jackie, wie jeder andere Mensch auch, einfach nur Hilfe und Unterstützung. Sie glaubt, hier kenne man sich mit den Symptomen und der Definition der BPS nach dem DSM IV aus. Sie möchte einen Arbeitsplatz, an dem sie sich wohlfühlt – kein unnormaler oder unmöglicher Wunsch! Doch hier verwaltet man Jackie nur. Sie kommt in eine Übungsfirma und in verschiedene Maßnahmen, die ihr die Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt ermöglichen sollen. Hier wird sie nicht als Individuum gesehen, sondern nur verwaltet. Sie soll sich in enge Grenzen und Strukturen einfügen. Das kann Jackie nicht und wieder wird ihr bewusst: Sie ist anders! Niemand will sie! Sie ist nichts wert!
In dieser Szene wird deutlich, wie viel die Mitarbeiter der Agentur für Arbeit und auch das Job-Center ebenso wie die Anbieter der unterschiedlichen Maßnahmen, noch zu verändern und zu lernen haben. Wir reden alle von einer inklusiven Gesellschaft. Es wird viel Geld ausgegeben für Maßnahmen, die vielfach sinnlos sind, weil die Grundvoraussetzung – die Akzeptanz für Menschen wie Jackie B. – fehlt.
Es ist ein Lehrstück für alle Menschen, die mit Borderlinern leben, arbeiten oder auch nur versuchen ihnen zu helfen. Dieses Stück berührt jeden emotional, es ist genauso extrem wie das Leben eines Borderliners und des Angehörigen, der lernt, mit diesem extremen Verhalten zu leben und sich selber dabei dann langsam auflöst.
In diesem Stück werden teilweise die Autobiografien der Laiendarsteller aufgegriffen. Sie fließen in die Geschichte ein.
Jackie B. trifft eine Frau auf der Kirmes, die sie „Jackie A.“ nennt. Jackie A. sieht Jackie B. äußerlich sehr ähnlich. Ebenso wie Jackie B. schwer zu fassen ist, ist es mit Jackie A. Auch diese ist fasziniert von den Extremen, die Jackie B. erlebt, ebenso wie von dem „Mut“, den Jackie B. hat. Dabei verliert sich Jackie A. und konzentriert sich ganz auf Jackie B. und deren Wünsche. Sie lebt quasi das Leben von Jackie B. – so fühlen sich die Angehörigen. Zum Ende des Stücks stellt sich die Frage, ob es wirklich zwei einzelne Personen sind, ober, ob es nur Jackie B. ist, die Jackie A. sieht.
Die Botschaft, die dieses Stück für uns, die Zuschauer, bereithält, ist folgende:
Jeder von uns trägt sowohl eine Jackie A. als auch eine Jackie B. in sich. Wir „Gesellschaftskonformen“ haben gelernt, Jackie B. nur den Freiraum zu geben, der auch gesellschaftlich akzeptiert wird. Wenn wir nicht grade weltberühmte Künstler sind, bei denen diese Extreme nicht Borderline heißen, sondern „chic“ sind oder einfach „dazugehören“. Das Stück weist auch auf die Faszination hin, die Borderliner auf uns haben. Mit einem Borderliner zu leben, heißt: Spannung, Abwechslung, immer wieder neue Extreme. Diesen Weg gehen Angehörige so lange mit, bis sie selbst ihre Grenzen verlieren und fast beginnen, sich selber aufzulösen.
Wir haben Angst vor Jackie B., weil sie uns den Spiegel vorhält. Weil sie sich in vielen Situationen im Leben einfach die „Freiheit“ nimmt, nur zu sein, wie sie ist. Das Theater zeigt uns auch den Leidensdruck, den wir alle verringern können, wenn wir von und miteinander zu lernen bereit sind. Wenn wir wirklich bereit sind, miteinander zu leben und die Vielfalt und die Farben, die Jackie B. in sich trägt, in einem gewissen Rahmen zuzulassen, damit sich ein buntes Bild zusammenfügt, anstelle des allgegenwärtigen Grau in Grau. Wenn wir ehrlich sind, beneiden wir diese „Paradiesvögel“ um ihre scheinbare Freiheit.
Reines, pures Borderline-Verhalten und -Empfinden trägt jeder Mensch in sich. Das macht uns Menschen aus: unsere Gefühle. Jeder Mensch gibt schon mal mehr Geld aus, als er eigentlich zur Verfügung hat. Jeder Mensch ist schon einmal „ver-rückt“.
Denken wir doch nur an die grade hinter uns liegende Karnevalszeit. Dies ist die gesellschaftlich anerkannte Zeit, in der quasi alles „erlaubt“ ist. Hier wird mehr als ein Auge zugedrückt, wenn jemand über die Stränge schlägt, indem er zu viel Alkohol trinkt, zu viel wechselnde Geschlechtspartner hat oder zu viel Geld ausgibt. Hier ist es erwünscht, einmal „alle fünfe gerade sein zu lassen“. Echte Karnevalsnarren wechseln in der Session mindestens drei- bis viermal das Kostüm, um immer in die Figur und das „Leben“ eines anderen zu schlüpfen.
Provokant gesagt hat Jackie B. an jedem Tag in ihrem Leben Karneval oder Kirmes, oder sie fährt Karussell. Das ist es, was uns das Theaterstück sagen will.
Ich danke den Darstellern für ihren Mut und ihre Geschichte. Ein großer Dank auch an das Stadttheater Oberhausen, das dieses Projekt realisiert hat. Es ist angedacht, das Stück auch auf Tournee zu schicken. Ich hoffe, es finden sich viele Städte und kleine Theater, die ein Interesse daran haben, dieses Lehrstück aufzuführen.
Sabine Thiel
Psychologische Beraterin, erste Vorsitzende des Vereins Grenzgänger e. V.