Die Diktatur der Moral – du musst, du sollst, du darfst das nicht!
Ökologischer Imperativ, gendergerechte Sprache, die Pflicht zu Gesundheit und Glück: Privates Handeln ist übermoralisiert. Das führt zu Selbstgerechtigkeit statt zu mehr humanitärem Miteinander.
Ich bin mit den Zehn Geboten groß geworden: Du sollst nicht töten, nicht stehlen, Vater und Mutter ehren ... Aus diesen Geboten leiteten sich unsere Wertvorstellungen ab, die dann Ärger einbrachten, wenn wir Nacktschnecken quälten, Äpfel aus Nachbars Garten mopsten oder unsere Eltern veräppelten. Der Raum für moralisch inkorrektes Verhalten war überschaubar. Falsches Handeln zog Strafen nach sich.
Mein pubertärer Sohn wächst heute mit einer Vielzahl von Geboten auf, die viel Leerraum zwischen falschem und richtigem Handeln aufweisen: Benutze keine Plastiktüten, iss wenig Zucker, Vegetarier sind bessere Menschen als Fleischesser, für deine Gesundheit bist du alleine verantwortlich ...
Der Geltungsbereich für Moral hat sich ausgedehnt. Das Normensystem für richtiges Handeln ist engmaschiger und komplexer denn je: Wie man klimafreundlich einkauft und mobil bleibt, wie man zu essen und seine Kinder zu erziehen hat, wie man eine glückliche Beziehung führt und wie tolerant man gegenüber Inklusion, Integration und Intersexualität zu sein hat. Alles ist einem moralischen Urteil unterworfen: Du musst, du sollst, du darfst das nicht! Wir leben im moralischen Überfluss!
Alles ist einem moralischen Urteil unterworfen
Es gibt vieles, was wir richtig machen sollen. Das macht orientierungslos und setzt enorm unter Druck. The „Persuit of Happiness“ klingt vielversprechend, impliziert zugleich aber auch die Pflicht zu einem glücklichen Leben.
Im Umkehrschluss heißt das: Wer nicht glücklich ist, ist selber schuld, der hat nicht richtig gehandelt. Der hat zu viel Nikotin, Koffein und Alkohol konsumiert, der war zu faul, zu dumm, zu anders.
Was macht es mit uns, wenn die Moralkeule wie ein Damoklesschwert über unserem Alltag schwebt?
Bessere Menschen sind wir jedenfalls nicht geworden. Man denke nur an den Stra- ßenverkehr, der voll ist von radikalisierten Radfahrern, militanten Fußgängern und gewaltbereiten Autofahrern. In Hannover machte die Geschichte einer Radlerin die Runde, die nach ihrem eigenen Regelsystem handelte, indem sie stundenlang einen Lkw samt nachrückendem Verkehr blockierte, weil dieser ihr die Vorfahrt klaute.
Wer moralisiert, fühlt sich im Recht, kann damit aber auch anderen schaden.
Der Fußballer Frank Ribéry machte durch ein ethisch äußerst fragwürdiges Verhalten Schlagzeilen, weil er sich ein mit Blattgold bestäubtes Steak bestellte. Luxus pur, ohne jeglichen Nutzwert. Die Wertung der Allgemeinheit: dekadent! Im Vergleich schnitten die teuren Uhren seiner Kollegen weniger dekadent in der Verurteilung ab, weil sie immerhin einen Nutzwert hatten, während man mit dem Konsum von goldenem Fleisch quasi Geld das Klo herunterspült. Wir leben unser Wertesystem so, wie es passt.
Längst führt mehr Moral nicht mehr zu einem humaneren Miteinander. Längst hat sie nichts mehr mit Toleranz und Gerechtigkeit zu tun. Der moralische Diskurs ist ein selbstgerechter geworden. Er findet in sozialen Netzwerken statt und beschränkt sich darauf, die eigenen moralischen Glanzleistungen zu bekunden: Da wird die Ökobilanz von Fernreisen mit dem täglichen Radeln zum Job aufgerechnet. Da werden Pulsfrequenzen beim Joggen gepostet.
In sozialen Netzwerken breiten sich moralische Urteile schneller aus, als man das Wort Ethikkommission aussprechen kann.
Auf Facebook und Twitter darf jeder seine Meinung sagen. Damit dehnt sich die moralische Diktatur im öffentlichen Raum aus. Wenn Tausende darüber diskutieren, ob Boateng ein guter Nachbar sei oder nicht, dann kann das nur richtig sein!
Es ist ebenso ein Leichtes, gleichzeitig auf die schlechten Taten der anderen hinzuweisen. Deutsche Waffenexporte an die Saudis? Gefällt mir nicht! Massentierhaltung? Gefällt mir nicht. Parkplatzklau? Gefällt mir nicht. Flüchtlinge vor den Küsten Europas? Gefällt mir nicht.
Doch moralische Verantwortung geht nicht über weltverbessernde Worte oder Beschimpfungen, sondern alleine durch gelebte und bestenfalls altruistische Taten!
Und die Moral von dieser Geschicht‘? Wir sind zumindest mit Ansprüchen und Verurteilungen päpstlicher als der Papst. Das schürt Ängste. Das raubt jeglichen Genuss. Das lässt kaum Flexibilität und Leichtigkeit zu. Das bietet Raum für Mobbing. Das macht auf Dauer seelisch krank. Und vielleicht strömen die Moraldebatten aus der eigenen Unzufriedenheit heraus. Wir sollten also links und rechts neben dem Moraldogma etwas herumrütteln. Und wir sollten nicht nur be- und verurteilen, sondern handeln.
Wir sind mit unserem Regelwerk päpstlicher als der Papst.
Als Kinder lebten wir ganz selbstverständlich humane Werte. Wir waren gute Menschen, ohne ein Gefühl der Sättigung am Gutmenschentum. Für Ausgleich sorgte wohldosierter Ungehorsam. Darüber mussten wir uns gar keine Gedanken machen.
Es war Konsens, im Dreck zu spielen und mit Löchern in der Hose nach Hause zu kommen. Es war selbstverständlich, Süßigkeiten satt zu essen und beim Grillen richtig Spaß zu haben. Wir machten uns weder Gedanken über rußverbranntes Fleisch noch über den Zweitaktmotor unserer Mopeds. Wir spielten Lehrern und Eltern Streiche ohne Ende. Wir haben ganz ohne Sonnenschutzfaktor 50 und den Imperativ „Mittagssonne meiden!“ am Nordseestrand die Seele baumeln lassen. Das tat gut, brachte Spaß und war moralisch voll vertretbar.
Info
Das Wort Moral kommt aus dem Lateinischen „mores“ und heißt übersetzt „Sitten und Gebräuche“. Moral beschäftigt sich mit den Grundannahmen im Verhalten der Menschen zu Mitmenschen und Natur.
Ela Windels
Sozialpsychologin, Journalistin, Kommunikationstrainerin, Autorin, Dozentin an der Paracelsus Schule Hannover
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