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Logotherapie – die Frage nach dem Sinn

App FP 0219 Komplett Page23 Image1"Wer ein Warum
hat zu leben,
erträgt fast jedes Wie."

Friedrich Nietzsche

Das Wissen um die Wichtigkeit von Sinn und Werten im Leben eines Menschen gehört für (fast) jeden Therapeuten heute zum Alltagsgeschäft. Das Gleiche gilt für die Fragen an den Klienten/ Patienten: „Was ist Ihnen wichtig?“ und „Warum ist Ihnen das wichtiger als das?“. Diese Fragen fallen so oder ähnlich irgendwann immer im Lauf der gemeinsamen Arbeit.

Obwohl diese Fragen genau die Instanz im Klienten/Patienten ansprechen, die Fragen nach Sinn und Werten überhaupt beantworten kann, beschäftigt sich kaum jemand näher mit den Inhalten der Logotherapie. Das ist merkwürdig, weil es im Grunde die Logotherapie ist, die sich ausgiebigst mit der Rolle von Sinn und Wert im Leben eines Menschen beschäftigt und eben auch mit der Instanz im Menschen, die für die sehr persönlichen Antworten auf diese Fragen zuständig ist.

Der Begründer der Logotherapie, Viktor E. Frankl nennt diese für Sinnantworten zuständige Instanz das „Geistige im Menschen“. Er spricht auch von „Person“ oder „Personenkern“, manchmal auch von „Ich“. Für ihn ist die „Person“ eines Menschen von völlig anderer Natur als Körperlichkeit oder Psyche. Körper und Psyche erfüllen die Aufgabe, den Bedingungen nachzuspüren, wann ein Mensch sich gut fühlt und wann nicht. Sie reagieren und handeln nach dem Prinzip des Ausgleichs. Die „Person“ dagegen folgt der Motivation eines „Willens zum Sinn“. Um dieser Motivation zu folgen, kann die „Person“ sich gegebenenfalls auch gegen das Ausgleichsprinzip von Körper und Psyche entscheiden und anders handeln, als es die anderen beiden vorschlagen.

Aus diesem Grunde fordert Frankl neben den beiden Daseinsdimensionen Körper und Psyche eine dritte: die geistige Dimension. In dieser geistigen Dimension beheimatet er die „Person“ eines Menschen mit ihren spezifischen Fähigkeiten.

Dazu gehören z. B. die Fähigkeiten sich selbst zu beobachten, über sich selbst zu lachen, über den eigenen Tellerrand hinaus schauen zu können, sich intentional auf etwas auszurichten, nach Sinn zu fragen und – vielleicht das Wichtigste – sich für oder gegen etwas aus gutem Grund zu entscheiden. Diese wertvollen Fähigkeiten beim Klienten / Patienten bewusster mit ins Spiel zu bringen, sie direkt anzusprechen und zu aktivieren, das ist das Anliegen der Logotherapie.

Interessant also die Frage, warum die Logotherapie mit diesem wertvollen Menschenbild im psychotherapeutischen deutschen Alltag so wenig Beachtung und Anwendung findet.

Ich glaube, dass es auf diese Frage nicht nur eine, sondern eine Vielzahl von zusammengehörigen Antworten gibt.

Ein nicht ganz unerheblicher Teil der Antwort liegt wahrscheinlich in der Person Frankls selbst. Frankl hat zwar eine Unmenge an Schriften veröffentlicht und taucht in der Sekundärliteratur häufig auf, aber er hat im Wesentlichen immer die gleichen Inhalte transportiert, der Logotherapie den Hauch eines „Geheimtipps“ verliehen, sich konsequent jeglicher Aufnahme von Selbsterfahrung in sein Therapiekonzept verweigert und sich so unter dem Strich auch gegen jede Veränderung oder Erweiterung der Logotherapie gestellt.

„Logotherapie ist und bleibt, ‚das, was in seinen Büchern steht‘ und die Schüler und Interessenten sollen diese lesen und wieder lesen. Das spart Zeit ...“ (aus Hedwig Raskob: „Die Logotherapie und Existenzanalyse Viktor Frankls, systematisch und kritisch“, Springer Verlag, Wien, 2005).

Vielleicht haftet der Logotherapie deshalb ein bisschen etwas „Altbackenes“ an. Natürlich hat sie sich trotzdem um einige Punkte erweitert und verändert, zumeist durch die Schüler Frankls, wobei es nicht selten zum Bruch mit ihm kam.

Ein weiterer Teil der Antwort liegt sicherlich auch an der großen Affinität religiöser Kreise zur Logotherapie. Das kann zu dem Umkehrschluss führen, dass Logotherapie nur im Zusammenhang mit Religion eine echte Bereicherung ist. Zum einen sorgt der philosophische Hintergrund des logotherapeutischen Menschenbildes für dieses Missverständnis. Immerhin spielt der menschliche Transzendenzbezug darin eine wesentliche Rolle. Zum anderen liegt es sicher auch an der Sinnfrage selbst, die ja oft eher in einem religiösen Zusammenhang gestellt wird. Schnell kommt die Verbindung mit der Frage nach einem Übersinn. Frankl, selbst unbedingt von einem Übersinn überzeugt, lässt diese Frage für seine Logotherapie aber offen. Ich nehme ihn da beim Wort, wenn er den Schwerpunkt der Sinnfindung ganz klar in die Frage nach dem jeweiligen Sinn in einer persönlichen bestimmten Situation legt. Auch wenn sich darüber manchmal so etwas wie ein persönlicher Lebenssinn abzeichnen mag, geht es hier trotzdem in erster Linie eher um den Sinn im Leben als um einen Übersinn.

Es mag sein, dass ein weiterer wichtiger Antwortbaustein für die mangelnde Präsenz der Logotherapie im Therapiealltag darin liegt, dass ein Schwerpunkt auf dem Umgang mit unabänderlichem Leid liegt, also dem Umgang mit starken psychischen oder körperlichen Beeinträchtigungen, schweren Diagnosen und Tod. Der Umgang und die Hilfe bei unabänderlichem Leid war Frankl ein großes Anliegen. Dabei geht es sicherlich um Problematiken und Sinnfragen, die sich im normalen Therapiealltag nicht in erster Linie stellen.

Wie wir sehen, gibt es durchaus Gründe, die vielleicht dazu führen, dass die Logotherapie eben nicht unbedingt jeden Therapeuten anspricht. Aber zumindest die Grundlage dieser Therapieform, nämlich das dazugehörige Menschenbild, sollte in keinem therapeutischen Werkzeugkasten fehlen.

Die Ansprache der besonderen Fähigkeiten des „Geistigen im Menschen“ lässt sich mit etwas Kreativität und Improvisation in jeden therapeutischen Ansatz einflechten. Wenn ich z. B. lösungsorientiert mit einem Klienten herausarbeite, „Was“ funktioniert und „Wann“ es funktioniert, kommt auch irgendwann der Zeitpunkt, wo ich nach dem „Wofür“ frage. An dieser Stelle befinde ich „damit es läuft“ oder „damit es mir besser geht“ nicht mehr als ausreichend. Ich möchte wissen, welchen persönlichen Sinn und Wert eine Veränderung für den Klienten hat. Wofür nimmt er alle diese Mühe auf sich? Der so Angesprochene muss sich an dieser Stelle selbst beobachtend befragen, er muss über seinen Tellerrand hinausschauen und er muss mit seiner Entscheidung bewusst ringen, kurz: Er aktiviert alle Fähigkeiten, die ihm als „Person“ zur Verfügung stehen, um zu antworten.

Mit einer in diesem Sinn gestellten Wofür–Frage kommt für den Therapeuten/Berater ein wertvoller zweiter Anker ins Spiel. Im therapeutischen Gespräch entwickelt der Klient/Patient dann nicht nur eine erreichbare Zukunftsvision als Motivation, sondern auch einen bewussten persönlichen Motivationsanker in seiner Person selbst. Es entsteht eine größere produktive Spannung zwischen Sein und Sollen.

Durch die Koppelung der Zukunftsvision mit einem persönlichen Sinngefühl und einem persönlichen Wert entsteht eine nach vorn gerichtete Sogwirkung, die so stark werden kann, dass Mut zum Handeln freigesetzt wird.

Frankl fasst genau das mit dem oft von ihm zitierten Satz von Nietzsche zusammen: „Wer ein Warum hat zu leben, erträgt fast jedes Wie.“ (im Original von 1888: „Hat man sein Warum des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem Wie? ...“, aus Götzen–Dämmerung, Sprüche und Pfeile). Ich kenne niemanden, der diesem Satz nicht zustimmt.

Natürlich fragt die Logotherapie nicht nur „mal eben“ nach einem Sinn. „Der Wille zum Sinn“ ist ein Schlagwort, in dem Frankl versucht, sein Menschenbild auf den Punkt zu bringen. Hinter dem Menschenbild verbirgt sich eine sehr komplexe Anthropologie, die nicht nur nach Sinn fragt. Sie beantwortet auch die damit verbundenen Fragen nach Freiheit, nach Eigenverantwortlichkeit und nach der Beziehung eines Menschen zur Welt. Diese Antworten bilden schließlich das Grund gerüst für die logotherapeutischen Methodiken und ihre Art der Gesprächsführung und sie geben der individuellen „Person“ das Handwerkszeug, ihre persönliche Sinnanfrage beantworten zu können.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf den etwas sperrigen Begriff der „Existenzanalyse“ eingehen, da er meist in einem Atemzug mit der Logotherapie genannt wird. Für Frankl beschreiben beide Begriffe die zwei Seiten seines Ansatzes und zwar in Form von zwei unterschiedlichen Aufgaben. Die Existenzanalyse macht einem jeweiligen Menschen seine Existenz als „Person“ bewusst und appelliert an seine damit verbundenen Möglichkeiten und Verantwortlichkeiten. Die Logotherapie ist die verändernde therapeutische Seite. Sie unterstützt die bewusst gewordene „Person“ in der Umsetzung ihres Sinn- und Wertestrebens.

Anke Fige-MeyerAnke Fige-Meyer
Dipl.-Biologin, Heilpraktikerin für Psychotherapie mit Praxis in Nürnberg, lösungsfokussierte Kurzzeittherapie und Logotherapie sind Grundlage für Biografiearbeit, Coaching und Beratung. Dozentin an der Paracelsus Schule
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