Keine Gefahr mehr für die Volksgesundheit!
Abgelehnte Bewerber sind nur noch eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung
Neue Richtlinien und Gesetzesänderungen: Heilpraktikerprüfungen sollen bundesweit stärker vereinheitlicht werden. Wird damit eine oft beklagte Willkür bei der Berufszulassung (nicht nur) in Schleswig-Holstein beseitigt? Vermutlich nicht, solange die Strukturen unverändert bleiben. Analyse am Beispiel des Gesundheitsamtes Husum.
Die häufig bemängelte Prüfungspraxis bei der Zulassung von Heilpraktikern basiert auf einem Gesetz aus dem Jahr 1939. Die Geschichte und das Verhältnis von Heilpraktikern und Ärzten, Psychologen sowie Psychiatern bildet die Grundlage eines Prüfungskrimis, der es in sich hat. Zeit, die Arbeit der Verantwortlichen einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.
Es war recht kalt geworden, aber dennoch sonnig an dem Tag, als die Prüfung stattfinden sollte: Dem großen langersehnten Ereignis, auf das knapp 300 Frauen und Männer in ganz Schleswig-Holstein hingelernt hatten; in der Regel mit mehrjährigen Lehrgängen, Repetitorien und ausdauerndem Üben. Die „ICD-10“ sollten sie als angehende Heilpraktiker (immer m/w) für Psychotherapie auswendig können.
Dass sie jedoch nicht bestehen würden, erwartete die allermeisten der überwiegend weiblichen Kandidaten. So war die Vorhersage von denjenigen, die die jahrelange Prüfungspraxis in Schleswig-Holstein gut kannten. In diesem Falle, wenn sie durchfielen, würden sie einen neue, veränderte „ICD-10“ auswendig lernen müssen, falls sie erneut zur Prüfung antreten wollten. Wenig motivierende Aussichten.
Pia, die beste in der kleinen Lerngruppe, der alle zutrauten, die schwere Prüfung spielend zu meistern, wusste noch nicht, dass auch sie, ausgerechnet sie, die Prüfung nicht bestehen würde. Die drei Freundinnen hakten sich mutig unter und schritten entschlossen auf das moderne Verwaltungsgebäude in Husum zu, um ihr Glück zu finden. Glück musste man haben, sogar sehr viel Glück, falls wirklich 80 % der Kandidaten durchfallen würden.
Bei dieser Ausgangssituation spielt es auch keine Rolle mehr, dass die Prüfung formaljuristisch gar keine Prüfung war, sondern lediglich eine Überprüfung ihrer Kenntnisse und Fertigkeiten. Was soll’s, es ging um alles: den Traum der Selbstständigkeit, Berufswechsel, Zulassung, es ging um das Grundrecht auf Berufsfreiheit, wie die Berufs- und Gewerbefreiheit in der Verfassung der Bundesrepublik so schön heißt und ohne die es keine soziale Marktwirtschaft gäbe. Theorie? Nein Praxis. Das sollten die Frauen jetzt erfahren.
Als Hildegund, die Dritte im Bunde, knapp zwei Monate später ihren Ablehnungsbescheid erhielt, da ahnte sie, was in dem Brief stehen würde. Sie musste ihn gar nicht erst öffnen. Denn wer spät benachrichtigt wird, ist durchgefallen – so hieß es in der Gerüchteküche. Da Hildegund ohnehin Prüfungsangst hatte, war es für sie aber vor allem eine Mutprobe gewesen, sich überhaupt in die „Höhle des Löwen“, in den großen Saal zu trauen. Nun würde sie anderen vielleicht niemals helfen dürfen, deren Prüfungsängste zu heilen. Das sollten nur diejenigen Therapeuten tun dürfen, die selbst solche Ängste nie kennengelernt hatten.
Den Brief öffnete aber erst einmal ihr Freund. „Sag mir, was drinsteht“, sagte sie zu ihm und schaute ihn zweifelnd an. „Was meinst du“, antwortete dieser. „Sag`s mir, ärgere mich jetzt nicht“, bettelte sie drohend. Er kannte sie: „Du bist durchgefallen“, sagte er nach schnellem Überfliegen des gefühllosen Schreibens. „Und: Die kriegen 80 Euro von dir, weil du nicht bestanden hast, aber – wart mal, die Begründung ist ja ein Ding: Du bist eine Gefahr für die Volksgesundheit, schreiben sie. Was soll das denn heißen? Das erinnert mich ja an ganz andere Zeiten! Anstatt dir nett, vielleicht sogar bedauernd zu schreiben, dass deine Punktzahl leider nicht reicht, du aber wiederholen darfst, erklären die dich zu einer Art Volksfeind! Das muss ich jetzt noch mal genau lesen, das ist ja das Allerletzte!“
Wir haben nachgefragt:
- Wie hoch ist die Durchfallquote wirklich? Wie hat sie sich seit 1945 entwickelt?
- Woher kommt der im Ablehnungsschreiben verwendete Begriff der „Volksgesundheit”, der erst 1941 ins Heilpraktikergesetz kam?
- Wer prüft und bestimmt die Prüfungsfragen?
- Stimmen die Gerüchte, dass wirklich so viele Prüflinge durchfallen?
- Welche Rolle spielen Ärzte als direkte Konkurrenten der Heilpraktiker? Hat es Einfluss auf die Prüfungspraxis, dass Ärzteorganisationen die Abschaffung des Berufs des Heilpraktikers fordern?
Die Durchfallquote – Missbrauch oder strenge Auslese?
Es war nicht leicht, überhaupt Antworten zu bekommen. Anfangs hat sich bei den offiziellen Stellen niemand für diese Fragen interessiert. Politiker der kleinen Fraktion der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein, dem Südschleswigschen Wählerverband SSW und schließlich der Kreistagsfraktion der Grünen haben sich bemüht, Antworten zu bekommen. Die Pressestelle des Kreistags war überfordert. Das Gesundheitsministerium in Kiel als Oberaufseher gab sich ahnungslos. Der zuständige Landrat antwortete am 19.12.2018 schließlich auf Anfrage des SSW, dass man als Gesundheitsamt ja schließlich nach der 1. Durchführungsverordnung einen Grund in Ablehnungsbescheiden angeben müsse und das sei nun mal die „Gefahr für die Volksgesundheit“.
Interessant nur, dass die Gesetzesgrundlage schon zwei Jahre vorher am 23.11.2016 den Begriff der „Volksgesundheit“ durch „Gesundheit der Bevölkerung“ ersetzt hatte, dass aber weiter munter Ablehnungsbescheide auf der inzwischen veralteten Gesetzesgrundlage erteilt wurden. Die Verwaltung hat demnach die Gesetzesänderung gar nicht mitbekommen. Die Mühlen mahlen langsam in Schleswig-Holstein.
Wie hoch die Durchfallquote wirklich ist, war trotz zahlreicher Anrufe und Briefe fast ein Jahr lang nicht zu klären. Viele Gerüchte, wenig Fakten. Die Verantwortlichen mauerten, riefen nicht zurück und merkwürdigerweise hat sich in der Politik, den Kontrollgremien, lange keiner richtig für dieses Thema interessiert. Wer ist wirklich zuständig? Wer überprüft die Amtspersonen?
Landrat Dieter Harrsen, der oberste Dienstherr des Gesundheitsamtes als Prüfbehörde, wird vom Kreistag kontrolliert und vermutlich auch vom Kieler Gesundheitsministerium als Fachaufsicht des öffentlichen Gesundheitswesens. Was aber, wenn dieser sich um die Missstände als Dienstherr offenbar gar nicht kümmert? Vielleicht hat es ihm ja nur keiner gesagt? Der Mann kann ja nicht alles wissen.
Die Kreisverwaltung Husum prüft im Auftrag aller Gesundheitsämter in Schleswig-Holstein. Denn nach Gesetz sind die Kreise und kreisfreien Städte hierfür zuständig und die haben sich auf Husum als Ort für eine zentrale Überprüfung verständigt. Aber wer muss das denn nun (abgesehen von der Amtsärztin, Frau Petersen) wissen?
Gesundheitsministerium ahnungslos?
In ihrer Antwort auf eine Kleine Landtags-Anfrage des SSW gaben sich Landesregierung und der stellvertretende Ministerpräsident Heinrich Garg (FDP) wortkarg und ahnungslos: Da die Aufgaben nach dem Heilpraktikergesetz Selbstverwaltungsangelegenheiten der Kreise sind, hat die „Landesregierung … somit keine eigenen Erkenntnisse über Erfolgs- oder Durchfallquoten und verfügt über keine Übersicht über die Entwicklung des Prüfungsgeschehens der letzten zehn Jahre“.
Ist die Landesregierung wirklich ahnungslos? Man braucht das doch nur zu googeln; die Spatzen pfeifen es von den Dächern, dass hier vermutlich nicht alles mit rechten Dingen zugeht.
Nun muss das nicht alles wahr sein, was im Netz zu finden ist. Aber spätestens, wenn im Landtag eine Kleine Anfrage gestellt wird, müsste bei gutem Willen zur Klärung des Sachverhalts wenigstens ein Anruf in Husum möglich sein. Zahlen zu führen, sich Statistiken vorlegen zu lassen (wenn man sie schon nicht selbst erhebt), ist eine der einfacheren Übungen einer Aufsichtsbehörde. Das gilt nicht nur zur Sicherstellung der Rechtssicherheit in einem empfindlichen Bereich der verfassungsrechtlich garantierten freien Berufswahl, sondern auch, um zu vermeiden, dass die Betroffenen sich ihre eigenen Statistiken machen und dadurch Gerüchte geschürt werden, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben.
Die Prüfung in Schleswig-Holstein gilt zudem als schwerer im Vergleich zu anderen Bundesländern. Auch solche Unterschiede könnten eine Nachfrage wert sein. Wie steht Schleswig-Holstein also im Ländervergleich da? Interessiert das die Kontrollinstanz? Wer fragt, trifft auf Ignoranz und zur Schau gestellte Ahnungslosigkeit. Hat solche Fragen bisher keiner gestellt?
Der Landrat antwortet
Im Herbst 2018 antwortete der Landrat endlich auf die ihm gestellten Fragen – zwar nicht so präzise wie erbeten. Aber die Auswertung ergibt immerhin, dass die Gerüchte nicht aus der Luft gegriffen sind, dass die Durchfallquote diesen tatsächlich entsprechen kann. Auszug: „In den vergangenen Jahren lag die Besteherquote … für die sektorale Kenntnisüberprüfung beschränkt auf das Gebiet der Psychotherapie (HPP) … zwischen 29 und 80 % (schriftlicher Teil) … Bei den mündlichen, sektoralen Kenntnisüberprüfungen … betrug die Besteherquote zwischen 67 und 77 %.“ Im Klartext: Nur wer die schriftliche Prüfung besteht – was bei 20–71 % der Fall war – darf in die mündliche Prüfung und hier wird wieder ein Drittel aussortiert. Im Ergebnis heißt das, dass mehr als 61,6 % auf keinen Fall bestehen, im Worst Case kommen aber nur 19,43 % durch. Das Gerücht könnte also stimmen: Im Worst Case fallen mehr als 80 % durch. Preisfrage: Wie häufig ist der Worst Case, wie häufig der Best Case?
Immerhin bekennt der Landrat in seinem Schreiben, dass er von der Gerüchtekü- che weiß. In seiner Antwort an den SSW schreibt er: „Was die ‚Besteherquoten‘ angeht, so kursieren ständig Gerüchte, in Schleswig-Holstein würden die meisten Anwärter und Anwärterinnen durchfallen. Tatsache ist, dass jedes Jahr zahlreiche Anwärter und Anwärterinnen … bestehen.“ Aha. Interessanterweise besteht auch jemand. Und weiter: „Übrigens beabsichtigen sehr viele dieser ‚frischgebackenen‘ Heilpraktiker gar nicht, sich niederzulassen“. Ist die Heilpraktikerprüfung einfach nur eine teure Weiterbildung?
Die Prüfungsmacher
Der Schwierigkeitsgrad der Prüfung, das weiß jeder Dozent, steuert ein wichtiges Element zum Gelingen oder Misslingen bei. Eine wichtige Rolle bei der Durchfallquote spielen somit die Fragen, die von den Betroffenen als schwierig und z. T. überzogen geschildert werden. Je schwieriger die Fragen, desto mehr fallen durch. Aber vielleicht sind Heilpraktiker ja nicht so schlau wie Ärzte?
Uns hat interessiert, wer die Prüfungsfragen entwickelt. Denn: Je weniger die vorgesetzten Stellen oder Aufsichtsbehörden sich für die Durchfallquoten interessieren, desto mehr Macht haben natürlich die Stellen, an die die Kenntnisüberprüfung delegiert wird. So heißt es z. B. selbst in den 2017 überarbeiteten „Leitlinien zur Überprüfung von Heilpraktikeranwärterinnen und -anwärtern nach § 2 des Heilpraktikergesetzes“, die mehr Einheitlichkeit in die bundesweite Prüfungspraxis bringen sollen:
„Fragen trifft die oder der von der zuständigen Stelle für die Durchführung der Überprüfung bestimmte Ärztin oder Arzt.“ Im Klartext: Über die Prüfung und die Prüfungsfragen, damit auch den Schwierigkeitsgrad, bestimmt die hierfür zuständige Amtsärztin; in Husum ist das Frau Dr. Petersen, über die im Internet so viel diskutiert wird. Die Willkür hat also System. Folgt man den Richtlinien, dann kann die Amtsärztin so prüfen, dass möglichst viele Berufsbewerber durchfallen.
Die Willkür hat System
Fassen wir zusammen. Zwei Dinge an den Bestimmungen über die Festlegung der Prüfungsinhalte sind bedeutsam: Einmal die Tatsache, dass hier Ärzte über Heilpraktiker urteilen; zum Zweiten die offenbar unkontrollierte Willkür, die hier möglich ist.
Fortsetzung folgt.
Michael Wörle
Diplom-Volkswirt, Verbandsgeschäftsführer, Unternehmensberater, Autor
Veröffentlichung, Michael Wörle: Selbstständig ohne Meisterbrief. dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-42350-673-1
Fotos: fotolia©Chinnapong