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„Mein Sohn will sich beschneiden lassen“

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Ein Ritual in der multikulturellen Gesellschaft

fotolia©Vitamin_BMartina S., Mutter des 13-jährigen Tom, kommt in meine Praxis und berichtet von einem Problem, das ihr Sohn hat. Seit einer Klassenreise in eine Jugendherberge werde Tom von mehreren Jungs aus der Klasse gehänselt, weil er nicht beschnitten sei. Vor kurzem habe Tom ihr davon erzählt, dass sie sich über ihn lustig gemacht hätten. Mit der Vorhaut sehe sein Penis ja aus „wie ein Rüssel“, hätten ein paar Klassenkameraden gesagt. Das Schlimmste daran sei jedoch, berichtet die Mutter verunsichert, dass Tom finde, dass sie recht hätten. Er wolle nun unbedingt die Vorhaut vom Chirurgen entfernen lassen.

Auf meine Nachfrage berichtet Frau S. davon, dass von den zehn Jungs in seiner Klasse sieben oder acht islamischen Hintergrund haben, dass die „aus guten Familien“ stammen und sie die Jungs als „sehr nette Kerle“ kennen gelernt hat. Toms Vater selbst ist arabischer Herkunft und beschnitten. Da die Familie aber nicht religiös sei, war das „eigentlich nie ein Thema“ für die Familie. Nur Toms große Schwester habe gemeint, dass es viel hygienischer sei, wenn ein Mann beschnitten ist.

Frau S. ist ziemlich ratlos. Sie hätte nie gedacht, dass das mal ein Thema werden könne. In den vergangenen Wochen nach der Klassenreise hatte sie gemerkt, dass irgendetwas mit ihrem Sohn nicht stimmt. Jetzt gab es eine Erklärung für die schlechte Laune von Tom. Aber wie weiter, war nun die Frage: „Was mache ich denn jetzt? Soll ich meinen Sohn beschneiden lassen?“

Aus psychologischer Sicht stellte sich mir natürlich gleich die Frage, wie es um das Selbstwertgefühl von Tom wohl bestellt war. Der alte Spruch: „Wenn alle von einer Klippe springen, springst du dann automatisch mit?“ lag auf der Hand. Es war sinnvoll, mit Tom selbst über das Thema zu sprechen.

Beim nächsten Termin kam Tom mir freundlich entgegen, ein sympathisch lächelnder Jugendlicher. Er war mir gegenüber durchaus skeptisch, was man gut verstehen konnte. Er nahm an, dass ich ihm sein Vorhaben ausreden wolle. „Es gibt aus meiner Sicht Argumente dafür und dagegen“, versicherte ich ihm. „Entscheidend ist nicht, welche Entscheidung man trifft, sondern warum man sie trifft. Da man die Operation natürlich nicht rückgängig machen kann, muss man sich gut überlegen, ob und warum man das will. Das braucht aber Zeit.“ Tom konnte das etwas mürrisch nachvollziehen, und wir vereinbarten in Absprache mit den Eltern, dass er sich drei Monate Zeit nehmen müsse, um zu überlegen.

2012-03-Sohn3Gespannt öffnete ich Tom, seiner Mutter und seinem Vater ein Vierteljahr später die Tür. Sie berichteten, dass das Hänseln der Klassenkameraden rasch aufgehört hatte, nachdem Tom ihnen mit einer Strategie des Ignorierens begegnet war. Das hörte sich erfreulich an. Überrascht wurde ich dann von Toms Wunsch, dass er die Beschneidung weiterhin möchte. Er habe es sich gut überlegt und sich gut informiert. Er habe viel über die Tradition der Beschneidung gelesen. Seine Eltern gaben ihm recht; die Mutter werde sich vom Kinderarzt einen Termin beim Chirurgen geben lassen. „Das mit den drei Monaten war gut. Jetzt weiß ich, warum ich es immer noch will: weil es irgendwie zu mir gehört … und zu unserer Familie“, meinte Tom. Den Eltern schien klar zu sein, dass ihr Sohn fest entschlossen war. „Wir unterstützen es. Aber es wäre auch okay, wenn er es nicht machen lässt. Von mir aus muss das nicht sein”, gab mir der gleichmütig und weise wirkende Vater zu verstehen. „Es herrscht kein Zwang hier, wir leben in Deutschland. Jeder ist frei etwas zu tun, wenn es dem Anderen nicht schadet.“

So verabschiedeten wir uns in einer guten Atmosphäre. Ich war überzeugt, dass es keine familiär oder von der Peergroup erzwungene Entscheidung war. Eher schon schien es, dass bei Tom durch das vorübergehende Hänseln der Klassenkameraden ein Thema angestoßen wurde, was bei jedem Jungen einmal zur Debatte stehen kann.

Frau S. berichtete dann ein Jahr später telefonisch, dass die Beschneidung damals richtig gewesen sei. Ihr Sohn sei sehr zufrieden damit, es sähe gut aus und es sei, als ob es nie anders gewesen wäre. „Vielleicht hat es mit dem kulturellen Erbe unserer Familie zu tun“, meinte die Mutter, „mittlerweile glaube ich aber auch, es ging ihm um ein Gefühl von Zugehörigkeit. Das darf man ja nicht unterschätzen.“

Zu früheren Zeiten stand ein Ritual zur Symbolisierung des Übergangs von der Kindheit ins Erwachsenenalter. Da es heute kaum noch Initiationsriten dieser Art gibt, könnte man Toms Wunsch als solches Ritual verstehen. Dies wäre gewiss auch ein Erklärungsansatz für die Zunahme von Beschneidungen im deutschsprachigen Raum, wo entgegen den islamisch, jüdisch und angloamerikanisch geprägten Kulturen kein sehr ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl besteht. Ein Ritual kann dem Einzelnen dann helfen, seine Identität auszubilden.

Insofern könnte man das Hänseln durch die Klassenkameraden nicht nur als pubertären Scherz verstehen, sondern auch als Anforderung an Tom, sich selbst in dieser Gruppe zu definieren, einen Platz dort einzunehmen. Selbstverständlich kann man dies auf viele Arten tun: es muss keine Beschneidung sein, aber sie kann es eben auch sein.

Mit zugewandten, weltoffenen Eltern – egal welcher Herkunft – ist solch ein Entscheidungsprozess gut zu bewerkstelligen. Im Rückblick fällt mir auf, wie überrascht ich beim ersten Gespräch mit Tom war, wie selbstbewusst und sozial kompetent er für sein Alter war. Oft kann man sich auf diesen ersten Eindruck verlassen. Gerade in fragilen entwicklungspsychologischen Lebensphasen heißt es dann: nicht psychologisieren um jeden Preis. Viele Kinder haben eine gute Intuition, die natürlich aber kritisch reflektiert werden muss.

Anzumerken bleibt noch, dass laut einem neuen Gerichtsurteil in der Beschneidung aus religiösen Gründen eine Straftat gesehen werden kann (Ärzte Zeitung, 28.6.2012). Es muss damit eine medizinische Indikation vorliegen, um den Eingriff durchführen zu lassen, oder ein Willensentscheid, der unter- 14-Jährigen rein rechtlich kaum zuzubilligen ist. Man sieht, es ist ein schwieriges Feld – andererseits sollte es sich von selbst verstehen, dass die körperliche Unversehrtheit ein hohes Gut darstellt, das zu respektieren ist.

Götz Egloff M.A. Götz Egloff M.A.
Systemtherapeut SG, Psychotherapie HPG, Supervision. Arbeitsschwerpunkte: Prä- und Perinatalpsychologie, Psychosomatik der Frauen- und Kinderheilkunde, Eltern- Säuglings-Therapie.
Richard-Wagner-Straße 18, 68165 Mannheim
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