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Sexuelle Nötigung von Maxi

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Fallstudie aus der EMDR-Traumatherapie mit Kindern

fotolia©ZharastudioVor ein paar Wochen hat der achtjährige Maxi einen sexuellen Übergriff durch zwei ältere Jugendliche erlebt, der bei ihm eine Angststörung verursacht hat. Seit diesem Vorfall sind Trennungsangst, Angst vor Dunkelheit, Einschlafstörung und wiederkehrende Albträume sowie Einnässen zu beobachten.

Er wird zu mir zur Therapie geschickt und ich arbeite mit ihm acht Stunden à 45 Minuten nach der Methode der EMDR-Traumatherapie.

Die Vorabinformationen über ihn sagen aus, dass er eine Frühgeburt (Notfallsectio) mit anschließender Intensivbetreuung war. Der körperliche Kontakt zur Mutter hat erst eine Woche nach der Geburt stattgefunden. Die anfängliche Entwicklungsverzögerung im motorischen und sprachlichen Bereich hat Maxi mittlerweile aufgeholt. Seine Intelligenz ist im unterdurchschnittlichen Bereich getestet, daher wurde er in einer Förderschule eingeschult. Weiterhin wurde über schwierige familiäre Bedingungen mit viel Streit der Eltern und Schwiegereltern untereinander berichtet. Der jüngere Bruder leidet unter gesundheitlichen Problemen und Einschränkungen.

Maxi wird zur 1. Therapiestunde gebracht. Er ist ein freundliches, schmächtiges und zappeliges kleines Kerlchen, von der unbekannten Situation – verständlicherweise – eingeschüchtert. Es gelingt aber, einen guten Kontakt zu ihm herzustellen. Um die Exploration bei ihm kindgerecht zu gestalten, bitte ich Maxi mit ihm ein Interview „wie im Fernsehen“ durchführen zu dürfen. Er geht gerne darauf ein, sagt mit Nachdruck und großen Augen, dass er schon viel Schlimmes erlebt habe und erzählt von seinen Kümmernissen.

Bei dem Ranking seiner traumatischen Erlebnisse gibt er an erster Stelle den sexuellen Übergriff, an zweiter Stelle einen erlebten Autounfall, danach verschiedene Konflikte mit Mitschülern und seinem Bruder an. Er berichtet, im Dunkeln Angst zu haben, und wünscht sich, ohne böse Träume schlafen zu können.

Ich frage Maxi nach seinen Fähigkeiten und Eigenschaften, die ihm bisher geholfen haben, und arbeite mit ihm zusammen Attribute, wie „mutig“, „stark“, „tapfer“ als seine Ressourcen heraus. Nun fordere ich ihn auf einen sogenannten Sicheren Ort zu finden und zu formulieren, der dann nach dem Standardprotokoll der EMDR-Methode verankert wird. Dazu sitzt mir der Junge gegenüber und schaut nach Aufforderung auf meine Finger, die ich vor seinen Augen hin und her bewege. Danach bitte ich ihn die Augen zu schließen, und beginne, abwechselnd leicht auf seine Knie zu klopfen. Auf diese Weise wird der „Sichere Ort“ (Anweisung: „Ein Ort, wo du geschützt bist und es dir richtig gut geht“) zusammen mit seinen Ressourcen und dem entsprechenden Körperempfinden verankert.

Maxi fällt es sehr schwer, seine Augen geschlossen zu halten. Er schafft es nur für einige Sekunden, aber er berichtet stolz von seiner Insel, auf die er sich „gebeamt“ hat und auf der es ihm so gut geht. Das ist schon genug für die erste Therapiestunde.

Das Imaginieren und Verankern eines sicheren Ortes ist die Grundvoraussetzung für das weitere Vorgehen. Erst wenn dies gelingt, kann ein Trauma bearbeitet und aufgelöst werden. Ohne diese Vorbereitung ist die Gefahr einer Retraumatisierung ansonsten zu groß.

Zur zweiten Stunde kommt Maxi schon nicht mehr so nervös und zappelig. Auf die Frage, ob er in der Zwischenzeit mal an seinen „Sicheren Ort“ gedacht habe, nickt er eifrig. Nach kurzem, gemeinsamem Spiel führe ich wieder die Verankerung durch. Diesmal kann Maxi die Augen schon länger geschlossen halten und zeigt einen deutlich entspannteren Zustand. Ich beschließe, eine für Maxi Angst auslösende Situation zu verarbeiten und wähle mit ihm gemeinsam das abendliche Einschlafen aus.

Für die Verarbeitung nach dem Protokoll der EMDR-Traumatherapie braucht es ein möglichst detailreiches Zielbild, den Moment der stärksten, affektiven Belastung. Diese wird zusätzlich auf einer Skala von 0 bis 10 erfasst. Des Weiteren gehören eine negative Kognition sowie eine körperliche Missempfindung (z. B. die Wut im Bauch) dazu.

Bei Maxi ist das Zielbild die Situation abends im eigenen Bett. Er gibt große Angst an (auf der Skala bei „10“), die er im Herzen spürt. Die dazu gehörige negative Kognition lautet: „Ich bin allein“.

Wieder beginne ich die Verarbeitung durch geführte Augenbewegung und das Antippen der Knie in Gang zu setzen. Maxi beschreibt mir auf meine Fragen hin alles, was er sieht und fühlt. Bereits nach wenigen Minuten erklärt er, dass er sich jetzt ganz mutig mit seinem Kuscheltier im Bett liegen sehe.

Das neue, positive Denkmuster lautet: „Ich bin gut“ und er spürt ein Glücksgefühl im ganzen Körper. Maxi ist geradezu verdutzt, als er wieder die Augen aufmacht. Die Angst ist bei „0“, wie er mir versichert, den Rest der Stunde verbringen wir wieder mit gemeinsamem Spiel.

Zu Beginn der dritten Therapiestunde antwortet Maxi auf meine Frage, ob er noch mal Angst vor dem Einschlafen verspürt habe: „Die habe ich mir weggezaubert.“ In dieser Stunde führe ich zur weiteren Stabilisierung nur die Verankerung „Sicherer Ort“ durch. Ansonsten lasse ich Maxi sich beim Spielen ausagieren.

2012-03-Maxi3Zur vierten Stunde kommt Maxi voller Eifer. Er hat sich schon darauf gefreut und möchte diesmal wieder „wegzaubern“. Ich beschließe, das Trauma des sexuellen Übergriffes zu bearbeiten, und bitte ihn, zuvor noch einen Baum zu malen. Siehe Bild 1

Maxi beschreibt auf meine Bitte die Situation und den belastendsten Moment. Er schildert, wie die beiden älteren Jungen ihn gezwungen haben, seine Hose herunterzuziehen und sein Geschlechtsteil zur Schau zu stellen. Dann haben sie ihn ausgelacht und mit obszönen Bemerkungen überschüttet. Maxi ist diese Schilderung sehr peinlich und er fängt bei der Erinnerung an die Demütigungen beinahe an zu weinen. Die dazu gehörigen Gefühle sind bei ihm neben Scham und Demütigung auch Todesangst und das Gefühl des Ausgeliefertseins. Verständlich, dass er sie mit „10“ auf der Skala angibt. Seine negative Kognition lautet wieder: „Ich bin allein.“

Die Verarbeitung läuft wieder sehr schnell ab. Ich kann unter seinen geschlossenen Augenlidern sehen, wie die Augäpfel „hinund herflitzen“, d. h. die REM-Bewegungen, die eine Traumphase begleiten, vollziehen. Schon nach kurzer Zeit beschreibt er mir, dass er seinen Schutzengel zu Hilfe geholt hat. In seiner Vorstellung entschuldigen sich beide Jugendliche nun bei Maxi und wollen alles wiedergutmachen. Das traumatische Zielbild hat sich damit ins Positive geändert und das Gefühl der Todesangst ist verschwunden. An seine Stelle tritt ein Gefühl von Stärke und gleichzeitiger Geborgenheit, das Maxi im ganzen Körper spüren kann. Der neue Satz lautet: „Ich bin stark.“

2012-03-Maxi4Während der Verarbeitung kann ich beobachten, wie bereits nach kurzer Zeit bei dem Kind ein Zustand der Entspannung eingetreten ist. Er selbst sagt, dass er sich jetzt so wohl wie auf seiner Insel fühlt. Ich lasse ihn noch einmal das Bild von einem Baum malen. Siehe Abb. 2

Nach dieser vierten Therapiestunde wird die Veränderung bei Maxi auch für Außenstehende deutlich. Von den Eltern erfahre ich, dass sowohl Lehrerin als auch Gruppenleiterin sich positiv über Maxi geäußert hätten. Er ist präsenter geworden, kann sich jetzt besser durchsetzen und erzählt in der Gruppe von sich. Das Einnässen ist verschwunden, ebenso das Theater beim Zubettgehen.

Maxi kommt noch für vier weitere Stunden zu mir. Es geht nun noch darum, ihn weiter zu stabilisieren und das Ende der Therapie vorzubereiten. Er besteht darauf, dass die Täter, die auf die gleiche Schule wie er gehen, sich auch in der Realität bei ihm entschuldigen müssen und ist danach sehr stolz auf sich. In der vorletzten Stunde erklärt er mir, dass ich ihn nicht mehr auf seine Insel „beamen“ müsse. „Das mache ich jetzt immer selber.“ Kurz darauf kann die Therapie erfolgreich abgeschlossen werden.

Der Fall „Maxi“ zeigt exemplarisch, wie eine traumatisch erlebte Geburtssituation nachhaltig auf das Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen einwirkt. Wenn sich in der Folge dann eine mehr oder weniger dysfunktionale Mutter-Kind-Bindung entwickelt, können traumatische Erlebnisse, vom Schimpfen der Oma bis hin zum sexuellen Übergriff, nicht mehr vollständig verarbeitet werden. Sie beeinflussen und bestimmen, oftmals lebenslänglich, das Erleben und Verhalten.

Mithilfe der EMDR-Traumatherapie können diese, auch verbal nicht zugängigen Themen, jedoch schnell und dauerhaft aufgelöst werden.

Die Arbeit mit Kindern ist in der Literatur noch wenig beschrieben. Verglichen mit Erwachsenen gibt es einige Unterschiede im Therapieablauf. So dauert die eigentliche Verarbeitung bei Kindern oft nur wenige Minuten. Erstaunlich ist auch, dass sie dabei so gut wie nie weinen, ganz im Gegensatz zu Erwachsenen. Auch ist es wesentlich schwieriger, den „roten Faden“ und die Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung zu finden. Kinder sprechen viel in Bildern, es ist für den behandelnden Therapeuten nicht einfach, diese zu dechiffrieren. Und last but not least ist es extrem wichtig, bei der Anamnese nicht nur die Namen von Familienmitgliedern und Bezugspersonen zu erfragen. Genauso wichtig und hilfreich sind die Namen von Haustieren, Kuscheltieren und Puppen. Mir persönlich fällt auf, dass sich viele Kinder während der Verarbeitung einen Schutzengel zu Hilfe holen.

Die EMDR-Arbeit verlangt von den Kindern ein hohes Maß an Compliance. Im Gegensatz zur non-direktiven Spieltherapie nach Axline ist sie anstrengend und erschöpfend. Immer wieder höre ich, dass ein Therapiekind unmittelbar nach der Stunde bei mir eingeschlafen ist. Aber die Kinder spüren auch, wie schnell auflösend und befreiend diese Therapieform ist, und kommen in der Regel gerne zur Therapie.

Und für uns Therapeuten ist es eine höchst beglückende Art der Arbeit.

Cordula Kaub
Cordula Kaub
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Musiktherapeutin, Arbeit in der Schule und der eigenen Praxis.
www.traumatherapie-kaub.de