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Erlernte Hilflosigkeit

ZWEI SEITEN EINER MEDAILLE 

Die Bezeichnung „Erlernte Hilflosigkeit“ ist untrennbar mit dem amerikanischen Psychologieprofessor Martin E. P. Seligman verbunden. Er veröffentlichte 1974 dazu eine bahnbrechende Untersuchung, die zu einem Standardwerk der Sozialwissenschaften wurde. Seine Untersuchungen inspirierten etliche Fachleute zu weitreichenden Abhandlungen zu Ursache und Auslöser bis hin zur evidenz-basierten Hilfestellung zur Verhaltenseinschätzung und den Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten (u. a. in der Pflege).

Martin Seligman hat bedeutende Beiträge zur Psychologie geleistet – v. a. im Bereich der Positiven Psychologie. Also salutogenetische Ansätze, um Gesundheit zu fördern, im Gegensatz zur traditionellen pathogenetischen Sicht der traditionellen Psychologie. Doch selbst sein so altruistischer Ansatz mit Fokus auf das Wohlbefinden der Menschen (PERMA-Modell: positive Emotionen, Engagement, positive Beziehungen, Sinn und Zielerreichung), war nicht vor Missbrauch sicher.

Wo Licht ist, ist meist auch Schatten. Gerade die Forschungsergebnisse zur „Erlernten Hilflosigkeit“ wurden mutmaßlich vom US-Militär nach

dem 11. September 2001 (9/11) in Folterprogrammen verwendet. Dies wurde von Martin Seligman ausdrücklich missbilligt und entschieden abgelehnt.

WAS IST „ERLERNTE HILFLOSIGKEIT“?

„Erlernte Hilflosigkeit“ ist ein psychologisches Konzept, das beschreibt, wie Individuen aufgrund wiederholter negativer Erfahrungen die feste Überzeugung entwickeln, dass sie keine Kontrolle über ihre Lebenssituationen haben. Dieser Zustand führt oft zu einer passiven Haltung, in der Betroffene glauben, dass ihre Handlungen keinen Einfluss auf die Ergebnisse haben, was zu Depressionen und anderen emotionalen Störungen führen kann.

Im Standardwerk ICD-10/-11 der klinisch-diagnostischen Leitlinien ist diese Bezeichnung nicht enthalten. Somit gibt es leider hierzu auch keinen alphanumerischen Code zur Kodierung und Klassifikation von Krankheiten und Gesundheitsproblemen, was in der medizinischen Dokumentation und Abrechnung von großer Bedeutung ist. Dies hat durchaus Auswirkungen finanzieller Art (mögliche Ablehnung der Kostenübernahme durch die Krankenkassen), die Krankheit verstärkende Effekte (Scham, Schuld, Selbstwert) und gesellschaftlicher Art (fehlende Anerkennung und Würdigung der Erkrankung).

AUSFLUCHT, SCHEINGRUND, VERLEGENHEITSLÜGE

Kaum jemand, der an einer Depression erkrankt ist, wird seinem Umfeld mitteilen, dass seine erlernte Hilflosigkeit dazu geführt haben könnte, eine Depression zu entwickeln. Mittlerweile ist die Krankheit mit dem Namen Depression zwar im Wortschatz der Gesellschaft angekommen. Allerdings meist als unvollständiges oder verzerrtes Verständnis von depressiv erkrankten Menschen. Ursachen und Symptome werden oftmals vermengt, unangebrachte Bezeichnungen wie Charakterschwäche werden dem Betroffenen sogar manchmal fälschlicherweise zugeschrieben. Weitverbreitete Meinungen sind leider auch heutzutage noch: Depression sei nur ein vorübergehendes Stimmungstief, betreffe nur schwache Menschen, sei eine Krise, die von alleine vorbeigehe. Bis zu einer wirklichen gesellschaftlichen Akzeptanz dieser psychischen Erkrankung ist noch ein weiter Weg zu gehen. Depression ist leider noch immer stigmatisiert. Die Gesellschaft kann grausam sein. Doch immerhin ist die Depression dem Laien zumindest ein gängiger Begriff, wenn auch manchmal negativ attribuiert – ähnlich der erlernten Hilflosigkeit, die allerdings weit weniger bekannt ist. So kommt es vor, dass die Betroffenen in ihrem privaten oder beruflichen Umfeld lieber von einer Depression sprechen als von erlernter Hilflosigkeit. Schon allein, um nicht in Erklärungsnot bei dem für viele unbekannten Begriff zu geraten, was wiederum zu Scham führen und folglich Angst auslösen könnte.

Einer meiner Klienten beschrieb die erlernte Hilflosigkeit treffend in einem Satz:

„Ein Gefühl des Ausgeliefert- seins gegenüber der Angst.“

SCHAM, SCHULD, ANGST

Emotionen wie Scham und Angst spielen eine bedeutende Rolle bei der erlernten Hilflosigkeit. Kommen dann noch Schuldzuschreibungen an den Betroffenen hinzu, so kann das die Tendenz zur erlernten Hilflosigkeit weiter befördern – vor allem wenn dies über einen längeren Zeitraum erfolgt. Besonders bei lang anhaltenden Angstzuständen ohne Aussicht auf Besserung stellt sich irgendwann ein Gefühl der Verzweiflung ein.

Besonders Scham ist ein wichtiger Faktor bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung erlernter Hilflosigkeit. Angst hemmt Personen mit erlernter Hilflosigkeit daran, ihre Situation zu ändern. Ängste in verschiedensten Ausprägungen können den Teufelskreis aus Passivität und erlernter Hilflosigkeit stark fördern.

KONTROLLVERLUST, UNKONTROLLIER-BARKEIT, VERSAGEN

Vielleicht haben Sie auch schon einmal eine Situation oder ein Ereignis erlebt, indem Sie keine Kontrolle über den Ausgang besaßen? Sie hatten vielleicht einen längeren Termin in einer Zahnarztpraxis, um behandelt zu werden. Während der Sitzung im Behandlungsstuhl verspürten Sie plötzlich ein Gefühl der Unkontrollierbarkeit, da Sie sich der Situation erlegen und dem Zahnarzt ausgeliefert fühlten? Von diesem Beispiel waren Sie bestimmt selbst betroffen: Die Covid-19-Pandemie im Jahr 2019 wurde zuerst in Wuhan, China, registriert. In der weiteren Folge des Pandemieausbruchs mussten sich viele Menschen sozial isolieren und von zu Hause aus ihren beruflichen oder schulischen Tätigkeiten nachkommen. Die daraus resultierenden Maßnahmen und Umstellungen lösten bei vielen Menschen ein Gefühl der Hilflosigkeit aus. Bei dem einen oder anderen 

sind psychosoziale und körperliche Nachwirkungen bis heute (Long-Covid) feststellbar.

Das Empfinden von vorübergehender Hilflosigkeit ist für alle Menschen eine zwar unangenehme, aber bekannte Erfahrung. Dieses Gefühl kann sich jedoch nach länger anhaltenden, belastenden Situationen soweit steigern, dass sich die betroffene Person selbst einfachsten Anforderungen des Alltags nicht mehr gewachsen fühlt. Die Furcht, sich erneut hilflos zu fühlen, kann dabei nicht selten zu Vermeidungsverhalten führen.

Erlernte Hilflosigkeit resultiert aus der wiederholten Erfahrung von Unkontrollierbarkeit und Versagen. Die betroffene Person hat gelernt, dass all ihre Bemühungen, die unkontrollierbare Situation zu überwinden, nicht zum gewünschten Ergebnis führen. Aus dieser Erwartung heraus reagiert sie mit Hilflosigkeit und erleidet oft depressive Verstimmungen in unterschiedlicher Ausprägung. Depression und Angst bis hin zur Apathie können schlimmstenfalls Folgen sein!

FALLSTUDIE: ZITATE AUS EINER ANAMNESE

Die Klientin Frau A. berichtet, dass Sie während des Zweiten Weltkriegs in Niederbayern in einer Einöde aufgewachsen sei. Sie war das älteste Mädchen von zehn Kindern. Vier der zehn Kinder verstarben bereits kurz nach der Geburt oder als Säugling aufgrund der hygienischen Verhältnisse, den kalten, feuchten und wegen der ärmlichen Verhältnisse meist unbeheizten Zuhauses. Frau A. war als älteste Tochter beim Versterben der Säuglinge dabei. In den harten Wintern im bayerischen Wald war die Familie zeitweise tagebis wochenlang eingeschneit.

Der Vater war ein Heimkehrer aus der Gefangenschaft. Er sprach nie über seine Kriegserlebnisse. Vielmehr schlug er seine Kinder mit oder ohne Anlass mit einer Gertenrute – es gab kein Entkommen; vor allem wenn die Familie eingeschneit war. Hunger und Armut waren allgegenwärtig. Das nur sehr karg vorhandene Geld wurde vom arbeitslosen Vater größtenteils für seine Alkoholsucht ausgegeben. Die Mutter bestrafte ebenfalls mit der Rute und übte tagtäglich abwertenden psychologischen Druck auf ihre Kinder und insbesondere auf ihre älteste Tochter aus. Frau A.: „Schämst du dich nicht?“, „Du frisst mir die Haare vom Kopf“, „Durch dich reicht das Essen für deine Geschwister nicht aus!“

Über Jahre anhaltende chronische Traumatisierung, emotionale und körperliche Vernachlässigung, unvorhersehbare und nicht erwartbare Gewalt, negativ erlebte Bindungen, soziale Isolation, gefühlte und wirkliche Hilflosigkeit, kurz: die Summe und Dauer all dieser negativen Erfahrungen führten bei der Klientin Frau A. zu Anzeichen der „Erlernten Hilflosigkeit“.

FAZIT

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Scham und Angst wesentlich zur Entstehung und Aufrechterhaltung „Erlernter Hilflosigkeit“ beitragen, indem sie negative Selbstwahrnehmungen verstärken und aktives Handeln zur Veränderung der Situation hemmen. Erlernte Hilflosigkeit ist jedoch nicht unüberwindbar. Mit professioneller Unterstützung (z. B. durch kognitive Verhaltenstherapie, kurz: VT) ist es den Betroffenen möglich, ihre Sichtweise zu ändern und wieder Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen. Unter anderem die VT ermöglicht es wirkungsvoll, negative Denkmuster zu identifizieren und zu verändern. Selbstreflexion und soziale Unterstützung bilden eine solide Grundlage für den Weg zur Wiedererlangung der – vermeintlich – verlorenen Selbstwirksamkeit. Das soziale Umfeld kann dabei in erheblichem Maße unterstützen: Freunde, Familie oder auch Selbsthilfegruppen können helfen, das Gefühl der Isolation zu überwinden.

Günter Kaindl
Heilpraktiker für Psychotherapie mit Schwerpunkten Burnout-Prävention, Unterstützung bei Überlastung, Stress und Krisen, Praxis in Eichenau
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Literatur
Erlernte Hilflosigkeit, Martin E. P. Seligman, Beltz Verlag

Weniger bekannte Störungsbilder, G. Kaindl, Freie Psychotherapie 02.2024