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Pacing und Coping

LEBEN MIT MYALGISCHER ENZEPHALOMYELITIS (ME) BZW. CHRONISCHEM FATIGUE-SYNDROM (CFS)

WAS IST ME/CFS?


Die Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine schwerwiegende neuroimmunologische Multisystemerkrankung.

Sie wurde von der WHO bereits 1969 als neurologische Erkrankung eingestuft und führt oft zu einem hohen Grad körperlicher Behinderung. Experten schätzen die Zahl der Betroffenen in Deutschland auf ca. 500000, von denen ungefähr 60% nicht mehr arbeitsfähig sind. ME/CFS ist durch eine anhaltende extreme Erschöpfung gekennzeichnet, die auch durch Ruhe nicht gelindert wird. Die genauen Ursachen sind noch nicht geklärt, jedoch werden Infektionen, genetische Veranlagung, Immunstörungen und Stoffwechselprobleme als mögliche Auslöser vermutet. Das Hauptmerkmal ist die Post-Exertionelle Malaise (PEM), eine Verschlechterung der Symptome nach physischer, psychischer oder kognitiver Anstrengung, die oft erst 12 bis 72 Stunden später auftritt. Weitere Symptome umfassen Schlafstörungen, Schmerzen, kognitive Beeinträchtigungen („Brain Fog“), Kreislaufprobleme und immunologische Störungen.

ME/CFS wird in verschiedene Schweregrade von mild bis schwer eingeteilt und führt in der schwersten Ausprägung zur kompletten Bettlägerigkeit. Bislang gibt es weder eine kurative Behandlung noch Heilung. Die Behandlung konzentriert sich auf die Linderung der Symptome und das Pacing (Energiemanagement). Die Erkrankung ist in Deutschland unterversorgt und bis heute nicht Gegenstand der medizinischen Ausbildung. Sie wird daher immer noch oft fehldiagnostiziert oder nicht ausreichend ernst genommen.

Obwohl in Deutschland ungefähr 500000 Menschen von ME/CFS betroffen sind, ist im medizinischen Umfeld noch immer wenig über die Behandlung der Krankheit bekannt. Erst durch das Auftreten von Long Covid – ME/CFS ist auch die schlimmste Ausprägung von Long Covid – hat die Wahrnehmung in Gesellschaft und Forschung nach Jahrzehnten der Ignoranz zugenommen. Dennoch ist die Versorgungslage in Deutschland – auch was die psychische Begleitung betrifft – noch immer stark ausbaufähig.

Post-Exertionelle Malaise bedeutet die Verschlechterung der Symptomatik nach geringfügiger Anstrengung.

Was Betroffenen hilft und welche Rolle Pacing und Coping haben können, beschreibt Tanja R. im nachfolgenden persönlichen Beitrag. Die 54-Jährige ist seit mehreren Jahren von ME/CFS betroffen.

ME/CFS – warum habe ich davon noch nie etwas gehört? Das waren meine Gedanken, als mir 2022 mein Arzt diese Diagnose mitteilte. Dass etwas mit mir nicht stimmte, war mir klar: Schon seit 2017 brauchte ich oftmals mehrere Tage, um mich von einer meiner regelmäßigen Sporteinheiten zu erholen. Auffällig waren auch die deutlich längeren und intensiveren Schmerzen in den Muskeln, die so gar nicht zu einem klassischen Muskelkater passten. Die übliche Gassi-Runde mit dem Hund wurde zudem immer beschwerlicher und schlussendlich auch immer kürzer. Da sich die konsultierten Ärzte keinen Reim darauf machen konnten, ordneten sie die Symptome lange Zeit der Psychosomatik zu. Grund hierfür war auch, dass ich schon vor Jahren an Depressionen und einer PTBS erkrankte. Erst nachdem die Infektion mit SARS-CoV2 meine Symptome deutlich verschlimmerte, wurde zusätzlich zu den F-Diagnosen auch ME/ CFS festgestellt. Verantwortlich dafür war einer der wenigen Ärzte, die sich mit dieser komplexen Multisystemerkrankung auskennen. 

HAUPTMERKMAL: POST-EXERTIONELLE MALAISE

Auch wenn man meinen gesundheitlichen Zustand derzeit als „moderat“ einstufen kann – ME/CFS zu haben, heißt zu erkennen: Was früher selbstverständlich war, ist nun gar nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt möglich. Zum Beispiel Autofahren, Teilnahme an Familienfeiern, Einkaufen oder Reisen. Und selbst alltägliche Dinge wie Haarewaschen, Treffen mit Freunden oder Telefonate mit der Familie müssen bezüglich Intervall, Zeit und Intensität gut geplant werden.

Der Grund dafür ist das Hauptmerkmal von ME/CFS: die Post-Exertionelle Malaise (PEM). Wikipedia: „Post-Exertionelle Malaise oder Post-Exertional Malaise (englisch post = nach, exertion = Anstrengung, malaise = Krankheitsgefühl), kurz PEM, bezeichnet in der Medizin eine erhebliche und im Verhältnis zur vorangegangenen Belastung unverhältnismäßige

Zustandsverschlechterung. Diese ist durch eine Verstärkung von Symptomen oder das Auftreten neuer Symptome gekennzeichnet“. Im schlimmsten Fall kann schon eine einzige PEM zu einer irreversiblen Verschlechterung und zu einem Leben in Einsamkeit, Dunkelheit und sozialem Abstieg führen. 

AUSLÖSER DER PEM

Heute ist klar: Die PEM wird schon durch geringe physische oder kognitive Überlastung sowie durch Überreizung ausgelöst. Hierzu können auch besondere Wetterlagen (z. B. Hitze, Kälte, Wind, Nässe, Gewitter) beitragen. Zudem sind neben emotionalen Belastungen auch Einflüsse durch Medienkonsum häufige Auslöser. Auch die sogenannte Adrenalinfalle ist nicht zu unterschätzen: Ist das während einer Aktivität ausgeschüttete Adrenalin zu hoch, scheint es den Betroffenen so, als wäre mehr Energie vorhanden als in der Realität zur Verfügung steht. Kennt man dann die eigene Baseline nicht, verführt das Adrenalin zu einer großen Überlastung. 

MASSIVE FOLGEN FÜR DAS LEBEN

Wenn es bei mir ca.12 bis 48 Stunden nach der Überlastung zu einer PEM kommt, zeigen sich daraufhin konkret folgende Reaktionen: - massive Muskel-, Gelenk- und Kopfschmerzen, auf die selbst sehr starke Schmerzmittel nicht ansprechen
- schmerzhaftes Anschwellen der Lymphknoten und starke Halsschmerzen - Muskelschwäche
- Brain Fog: Wortfindungsstörungen, kognitive Ausfälle - Intoleranz gegenüber Geräuschen und Licht
- tiefe Erschöpfung, die sich anfühlt, als hätte man mir „den Stecker gezogen“ - Schlafstörungen: Ich bin todmüde und will nur noch schlafen. Gleichzeitig fühlt es sich an, als stünde ich unter Strom („tired but wired“). Wie lange diese Verschlechterung anhält, ist ganz unterschiedlich. Mal sind es 2 bis 3 Tage, es können aber auch Wochen oder Monate sein. Dass es aber auch für immer so bleiben kann, ist für mich ein Damoklesschwert und neben dem verzögerten Eintreten der PEM eine große Herausforderung bei ME/CFS.

Pacing beschreibt ein Energiemanagement, bei dem Patienten lernen, Überanstrengungen zu vermeiden.

„Du siehst gar nicht krank aus!“, „Stell dich nicht so an!“, „Du musst nur wollen!“

STRATEGIEN GEGEN PEM

Um die drastischen Auswirkungen der PEM zu kompensieren, habe ich im Laufe der Zeit ein paar Strategien entwickelt: Hinlegen und vollkommene Abschottung von Reizen. Also keine Musik, kein Licht, keine Geräusche, keine Gerüche und auch wenige bis keine Berührungen. Eine Lösung ist auch, den Vagusnerv zu aktivieren, um aus dem Sympathikotonus herauszukommen. Was für die generelle Vermeidung einer PEM zählt, sind unter anderem der Umgang mit Stress und passende Strategien zur Stressreduktion. Praktisch zeigt sich dies z. B. in der Vermeidung von größeren Menschengruppen, Temperatur-Extremen (auch Klimaanlagen) sowie nicht angepasstem Medieninput (Telefon, Fernsehen, Handy). Auch Kontakte zu Menschen, die einem nicht guttun, sollten vermieden werden.

THERAPIEANSATZ: PACING

Dem Auftreten von PEM kann auch mit einem verhaltensorientierten Ansatz begegnet werden: Er trägt den Titel „Pacing“ und beschreibt ein Energiemanagement, bei dem Patienten lernen, wie viel Energie sie für ihre Aktivitäten einplanen müssen. Im Fokus steht damit also die eigene Baseline und die Frage „Welche Aktivität kann ich wie lange ausführen, ohne eine PEM zu riskieren?“. So lernt man z. B. einzuschätzen, dass für das Duschen einfach nicht genug Energie da ist und nur eine Katzenwäsche möglich ist. Damit Pacing erfolgreich ist, muss man allerdings zu jeder Zeit jede Aktivität – auch kognitive Anstrengungen – im Blick haben, deren Wirkung bewerten und den Tages- und Wochenplan immer wieder aufs Neue anpassen. Verknüpft mit dem Pacing ist zudem ein akkurates Achten auf subtile körperliche Warnsignale. Bei mir zeigt ein Gähnen üblicherweise eine zu hohe kognitive Belastung an. 

WÜNSCHENSWERT: GUTE COPING-STRATEGIEN FÜR ME/CFS

Eine wichtige Rolle – neben Stressmanagement, Pacing und einigen Off-Label-Medikamenten – spielt zudem das Coping. Das Ziel, das damit verbunden ist, lautet: Betroffene, aber auch Angehörige lernen, mit der Erkrankung umzugehen und grundsätzlich positiv zu bleiben. Für Krebspatienten gibt es schon lange die Psychoonkologie. Vergleichbares ist auch für ME/ CFS-Patienten wünschenswert. Angelehnt an die Herangehensweise der American Myalgic Encephalomyelitis and Chronic Fatigue Syndrome Society (AMMES) und dem ME/CFS & Fibromyalgia Self-Help Program sollten im Coping meines Erachtens folgende Themen angesprochen und bearbeitet werden: - Akzeptanz der Erkrankung
- Verlust der seelischen Stabilität: Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit bis hin zu Depressivität infolge Symptom-Verschlechterungen (u. a. bei der PEM) - mentale Anpassung durch Loslassen unrealistischer Erwartungen
- zur Anerkennung der Limitierungen von ME/CFS Pacing erlernen und anwenden: Einschätzung Energieverbrauch der einzelnen Aktivitäten, Baseline ermitteln, kognitive, physische und emotionale Warnsignale eruieren
- Flexibilität und Unvorhersehbarkeit lernen und akzeptieren: Sofortige Anpassung der Pläne für den Tag/die Woche bei Veränderung des Zustandes oder äußerer Umstände - Akzeptanz von Emotionen wie Sorge, Frust, Trauer, Depression, die aufgrund der Krankheitslast intensiver sind. Zudem sind weniger Reserven vorhanden.

- Umgang mit sozialen Herausforderungen: „Du siehst gar nicht krank aus!“, „Stell dich nicht so an!“, „Du musst nur wollen!“ - Umgang mit Stress und Strategien zur Stressreduktion erlernen: z. B. feste Tagesstrukturen etablieren, da sie die Notwendigkeit, sich ständigen Änderungen anpassen zu müssen, minimieren und somit Energie sparen
- Selbstwirksamkeit stärken

Für mich war im Umfeld des Copings die Selbstwirksamkeit etwas Essenzielles: Es hat mir das Gefühl zurückgegeben, trotz Krankheit etwas wert zu sein. Mein Fokus war es, auf ME/CFS aufmerksam zu machen, und so entstand „Tanjas Pacing Blog“

(pacing-mecfs.de). Aber ich möchte auch anderen Betroffenen helfen, Pacing in ihren Alltag zu integrieren, und ihnen das Gefühl geben, mit ME/CFS nicht allein zu sein. Ein weiteres Anliegen ist für mich, den Angehörigen durch meine Alltagsgeschichten einen kleinen Einblick zu geben, was ME/CFS für uns Betroffene heißt.

Wenn ich mir für das Coping ein Setting wünschen dürfte, dann wäre es dieses: ein flexibles Online-Therapieangebot, das auf die individuelle Tagesform der Patienten eingeht, und Therapeuten, die sich mit allen Facetten von ME/CFS von der Adrenalinfalle bis zu „rolling PEM“ auskennen. Die Mut machen, obwohl diese Erkrankung noch immer als unheilbar gilt. Und die damit umgehen können, dass ME/CFS sehr schwankend und unvorhersehbar ist. Sowohl was die Tagesform als auch was das Aktivitätsniveau angeht.

Tanja Rönsch
Betreiberin des „Tanja Pacing Blogs“ pacing-mecfs.de