Ruhestandsplanung ist Lebensplanung
Wenn wir an unsere Großeltern denken, denken wir an „alte“ Leute. Sie waren „alt“ gekleidet, bewegten sich „alt“, dachten „alt“ und vor allem an das, was war. Neues kam in ihrem Gedankengut und in ihrem Leben selten vor.
Es ist ein zwiespältiges Verhältnis, das wir Menschen zum Alter haben. Einerseits werden wir nicht nur immer älter, wir fühlen uns auch länger jung, andererseits ist das nach oben verschobene Altersempfinden noch nicht in unserem Alltagsbewusstsein angekommen. Da gelten Menschen ab 60 immer noch als Senioren, haben Schwierigkeiten, einen Kredit zu erhalten, und 50-Jährige kaufen Immobilien auch unter altersgerechten Gesichtspunkten.
Junge Menschen wiederum denken nicht daran, dass man bestimmte Jobs nur eine begrenzte Zeit ausüben kann, sich die Lebensarbeitszeit aber verlängern wird, und über 50-Jährige schon seit Jahren Schwierigkeiten haben, angemessene Jobs zu finden. Gleichzeitig werden viele Unternehmen einen Großteil ihrer Mitarbeiter (immer m/w) in den nächsten Jahren an den Ruhestand verlieren, und nicht nur diese, sondern auch ihr fundiertes Fachwissen.
Die Kombination aus steigender Lebenserwartung und geringer Geburtenrate ver- ändert unsere Gesellschaft nachhaltig. Die steigende Lebenserwartung bedeutet, dass das Vermögen im Ruhestand länger reichen muss, die Rente für eine sich verändernde Lebensplanung der jungen Alten konzipiert sein muss und sich unter Umständen das gesamte gesellschaftliche System ändern muss. Wir benötigen andere Konzepte für die persönliche Arbeits- und Lebensplanung. Aber auch Unternehmen und Organisationen benötigen andere Blickwinkel, wenn es um den Arbeitseinsatz der Mitarbeiter, die Arbeitsplanung und die Arbeitsstrukturen geht.
Was habe „ich“ in den statistisch gesehenen nächsten 30 Jahren vor?
Wie stelle ich mir mein Arbeitsleben vor?
Ist es für mich überhaupt nötig, in dieser Form, mit diesem Einkommen weiterzuarbeiten?
Was, wenn ich 65 bin und dennoch weiterarbeiten möchte?
Wie kann ich meinen Arbeitgeber von mir überzeugen?
Zum anderen:
Welche Möglichkeiten kann ein Unternehmen den Mitarbeitern bieten, die nicht mehr Vollzeit arbeiten möchten, aber gerne so lange es irgend geht?
Welche Konzepte kann ich für mich, kann der Arbeitgeber entwickeln, damit das Fachwissen länger im Unternehmen bleibt und an nachfolgende Generationen weitergegeben werden kann? Wie kann er seine Mitarbeiter überzeugen, länger zu arbeiten?
Eine rechtzeitige und kluge Ruhestandsplanung nimmt dem neuen „Langlebigkeitsrisiko“ den Schrecken und kann ganz im Gegenteil dafür sorgen, dass diese Gesellschaft und wir alle davon profitieren, dass wir, zumindest statistisch betrachtet, immer älter werden und dabei länger jung bleiben.
Dieses Thema treibt mich um, seit ich vor ca. 18 Jahren ein Gespräch mit einem Kollegen hatte. Er war ca. drei Jahre älter als ich, damals also Ende 40. Während ich davon sprach, was ich alles noch machen möchte – sprach er vom Vorruhestand, dem Ende der Arbeit und was er dann alles machen würde, wenn er in maximal zehn Jahren aufhören würde ...
Zwölf Jahre später kündigte ich, um nach Lübeck zurückzukehren, und fing hier noch einmal mit Ende 50 von vorne an. Arbeitssuche – eine freiberufliche Selbstständigkeit. Viele Leute schüttelten den Kopf. Wie sollte das funktionieren? In dem Alter? Und einen so guten Job, nahezu unkündbar, aufzugeben?
So setzte ich mich zunächst auch gehörig unter Druck, aus der Freude um meine grundsätzliche Entscheidung erwuchs Stress und Bluthochdruck, kurzfristig. Obwohl ich mir alles gut vorher überlegt hatte, ausgerechnet sowieso, die Erwartungshaltung, die Konditionierung eines ganzen Lebens hatte mich im Griff. Bis ich mir sagte: So geht das nicht. Ich erkannte, dass ich mich selber belogen hatte. Mein persönliches Worst-CaseSzenario, finanziell, mit dem ich ggf. hätte auch leben können, war für mich nie eine Option gewesen, nicht wirklich. Ich hatte meine persönliche Machbarkeitsstudie nicht offen und ehrlich erstellt.
Ich litt Höllenqualen, sprach aber natürlich kaum mit jemandem darüber; denn es ging ja um meine Lebensplanung. Ich wurde richtig krank, Bluthochdruck, Grippe und andere Zipperlein plagten mich. Ich ging dann zum jeweiligen Arzt, nahm die verschriebenen Pillen – oder nicht. Ich versuchte es homöopathisch. Aber auch das konnte nur die Therapeutin verzweifeln lassen; denn ich rückte nicht mit der Wahrheit raus: Ich hatte simpel Schiss, als Versagerin dazustehen, in einer Gesellschaft, in der sich alles um individuellen Erfolg dreht und um die richtigen, sprich anerkannten Entscheidungen.
So leben wir zwar in einer Gesellschaft, die hochindividualistisch ist. Wir Deutschen sind aber auch überaus konformistisch eingestellt. Mit anderen Worten: Wir wollen alles allein machen, aber dafür von allen geliebt werden. Alles andere bringt uns Stress und Krankheit.
Als ich also meine Grippe hatte, nahezu bewegungslos vor mich hinlag und die Muster in der Raufasertapete betrachtete, kamen mir Stück für Stück neue Erkenntnisse. Wie schon Astrid Lindgren wusste:
„Und dann muss man ja auch noch Zeit haben,
einfach nur dazusitzen und vor sich hinzuschauen“.
Das spricht uns westliche Menschen, die gern Resilienzkurse besuchen, sich entschleunigen wollen oder lernen möchten, mit Stress umzugehen, besonders an. Denn tief in uns haben wir das Bedürfnis, einfach mal nicht funktionieren zu müssen, Ruhe zu haben. Ja, in der Ruhe liegt die Kraft.
Und so lag ich da, saß da und überdachte alles neu, unter diesen Gegebenheiten ... traf Entscheidungen und entspannte mich. Von diesem Moment an änderte sich alles und am Ende stand ein Jobangebot, in das ich meine Heilpraktikerausbildung, meine betriebswirtschaftlichen und organisatorischen Erfahrungen einbringen konnte. Drei Tage die Woche.
So blieb Zeit für meine freiberuflichen Ideen, die ich allerdings zunächst einmal mit gebremster Energie betreiben wollte – denn auf allen Hochzeiten kann man nicht tanzen und nicht gleich gut.
Sicher, es war nicht die berufliche Position, die ich vorher hatte, und schon gar nicht das Gehalt. Aber: Ich brauchte es auch nicht. Das war eine ganz neue Erkenntnis. Mit dem veränderten Leben veränderten sich auch die Bedürfnisse – die finanziellen ebenso wie die mentalen und emotionalen. Mein Partner und ich hatten uns ohnehin entschieden und lebten auch schon so: verkleinern, Ballast abwerfen, aufräumen, neue Schwerpunkte setzen.
Nun musste ich nur noch lernen, das auch zu leben. Was mir dabei half? Meine Biografie. Mein Leben hatte schon öfter ganz bewusst entschiedene Wendungen erlebt. Vertrauen konnte ich dabei immer auf meine verschiedenen Fähigkeiten und das rechtzeitige Erkennen meiner persönlichen Grenzen. So blickte ich mittlerweile auf einen großen Fundus an Kenntnissen, Fähigkeiten und Erfahrungen zurück, die wollte ich nutzen. Seither arbeite ich daran.
Sie werden sich vielleicht fragen, was aus dem Kollegen geworden ist? Nun, das ist leider sehr traurig, wie ich letztes Jahr erfahren musste. Er hatte das Vorruhestandsprogramm nicht genutzt und war auch nach 12 Jahren noch immer im Betrieb tätig, denn seine jüngere Ehefrau hätte weiter gearbeitet. Er hatte nie wirklich einen „Plan“. Er hatte für sich keine Alternativen gesehen oder Anpassungen, in denen er sich positiv hätte wiederfinden können. Sein Arbeitgeber allerdings auch nicht. Der stöhnt nur über die zunehmende Überalterung. So hatte er einfach weitergemacht und 16 Jahre nach unserem Gespräch war er eines Morgens nicht mehr aufgewacht – einfach so.
Das zu hören, betrübte mich sehr. Wir wissen nicht, was für uns geschrieben steht.
Ich finde aber, unser Leben ist mehr als Pflicht:
Es muss auch eine Kür geben und eine Verbindung dazwischen.
Es macht keinen Sinn, nur davon zu reden, was man „dann“, später einmal macht. Man muss rechtzeitig anfangen, immer wieder neu, sein Leben zu bedenken, seine Wünsche in Einklang mit seinen persönlichen, finanziellen und anderen Möglichkeiten zu bringen. Niemand, zumindest kaum jemand, fängt irgendwann irgendwas plötzlich an, schon gar nicht ab einem bestimmten Alter.
Und das, was für jeden Einzelnen gilt, gilt natürlich auch für Unternehmen, Organisationen, Betriebe, für alle Strukturen, die auf Menschen als „Ressource“ angewiesen sind. Und das zu wissen, gilt besonders auch für uns, die wir als Berater, Coaches oder Therapeuten mit Menschen arbeiten.
Was kann jeder Einzelne von uns tun? Besonders, wenn er oder sie meint, die Richtung noch einmal neu bestimmen zu wollen oder zu müssen, etwas anderes oder Neues auszuprobieren und vor allem die älteren Jahre sinnvoll mit Aufgaben, Arbeit, Aktivitäten, Freude zu füllen? Was können wir raten, wohin unser Augenmerk lenken?
Ich habe einmal einen Klienten in seinen 50iger-Jahren im Coaching zu seinem weiteren Leben gefragt:
1. Hier einmal ganz ohne persönliche Machbarkeitsstudie? Einfach so: Was würden Sie gerne tun, wenn Sie könnten? Jetzt, sofort!
Es kamen verschiedene Ideen. Und natürlich sollte die Machbarkeitsstudie sofort folgen. So sind wir konditioniert. Wir können nicht mehr träumen, unserer persönlichen Idee auch nur den kleinsten Raum geben. Vorsichtig wies ich den Klienten an, diese Gedanken erst einmal beiseitezustellen. Einfach nur den Gedanken, was man gerne tun würde, folgen und sie hinauslassen.
In diesem Fall überraschte mich die Antwort, denn er sagte: „Genau das machen wie bisher. Es ist mein Ding. Vielleicht ein bisschen mehr Zeit für mich und meine Familie, ein bisschen mehr Spaß“.
Darauf kamen meine weiteren Fragen
2. Was spricht dafür?
3. Was dagegen?
4. Was müsste ich tun, damit es klappt?
Wir hatten einen positiven Ansatz gefunden. Im Verlauf der Beratung fand er dann auch seinen persönlichen Weg. Weitermachen, aber etwas weniger arbeiten als bisher. Schließlich waren die Kinder groß und sorgten schon ein Stück weit für sich selbst. Es wurde also weniger Geld benötigt. Die Ehefrau arbeitete ja auch und zusammen hatten sie Ideen für ihr privates Leben und sogar alternative berufliche Ansätze. Er hatte seine persönlichen Prioritäten mit seinen Wünschen in Einklang gebracht. Die folgende Machbarkeitsstudie brachte Lösungen.
Jemand erzählte mir in einem Seminar, als ich auf das Thema
„Positiv denken heißt positiv leben“
zu sprechen kam, dass sie das Wort positiv nicht mehr hören könne. So bedeute zum einen in der Medizin der Begriff eher Schlechtes und „Scheiße sei nun einmal Scheiße, die könne man auch nicht schönreden“. Und eine andere Teilnehmerin sagte, dass am Älterwerden nun wirklich nichts Gutes sei. Man müsse es nur hinnehmen.
Wir haben dann lange über diesen Begriff diskutiert und besonders über die Auswirkungen von negativem Denken, von Verharren und Stehenbleiben im düsteren Tal, um einmal biblisch zu werden. Ja, wir werden älter, und ja, wir werden eines Tages sterben, die Wahrscheinlichkeit, dass wir bis dahin Leistungsfähigkeit einbüßen, ist groß. Und es kann durchaus sein, dass uns jederzeit etwas ereilt, was wir nicht wollen, das uns nicht guttut, und ja auch, etwas, woran wir persönlich sogar scheitern könn(t)en. Dennoch: Zwischen dem schrecklichsten Vorstellbaren und dem besten gibt es sehr viel Raum, nahezu unendlichen Raum, den jeder von uns auf eigene Weise besetzen kann.
Wir kamen gemeinschaftlich zu dem zumindest momentanen Ergebnis: Wir haben keinen Einfluss darauf, dass wir geboren wurden und dass wir altern, alt werden und am Ende sterben. Aber wir haben sehr wohl Einfluss darauf, wie wir leben, wie wir altern und alt werden und ob wir alt werden. Dieser Einfluss mag für den einen geringer ausfallen oder wahrgenommen werden, für den anderen umfangreicher und maßgeblich. Positiv leben, das Gute sehen und es füttern, bedeutet jedoch definitiv auch, positiv und meist auch gesünder älter zu werden.
65 ist man nicht über Nacht, auch wenn uns Menschen das manchmal genau so vorkommt. Eben waren wir noch jung – und nun?
Stellen wir uns vor, unser Leben gleiche einer Straße. Jeder Mensch befährt seine eigene, wechselt manchmal die Spur, muss an Ampeln halten, bei Auffahrten beschleunigen, an Baustellen langsam fahren und hin und wieder an Stoppschildern halten und bei Hindernissen auch, wobei wir auf Schnellstraßen auch einmal schnell sein dürfen ... und für jeden von uns kommt immer einmal wieder der Zeitpunkt, an dem wir uns fragen: Was mag hinter der nächsten Biegung liegen? Das mag uns Sorgen bereiten, wir können es sorglos auf uns zukommen lassen und sehen, was passiert, wir können uns vorstellen, was wir gerne hätten, das da liegt, und wir können ggf. die Spur wechseln, die Straße oder langsam heranfahren ... wenn wir rechtzeitig anfangen, uns mit der Frage zu befassen. So vermeiden wir Vollbremsungen und Routen, die unter Umständen so ganz und gar nicht unsere eigenen sind.
Man ist nicht über Nacht 65 – und es gibt keine allgemeingültige Wahrheit gerade auf dem persönlichen Lebensweg. Was es aber gibt, ist persönliche Entwicklung und die beginnt mit der Auseinandersetzung mit dem Kernpunkt eines Themas. Das ist in diesem Fall der Begriff „Alter“. Und es gibt die Schulung der eigenen Wahrnehmung.
Dazu gehören unsere eigenen Geschichten, unsere ganz persönlichen, die so vielfältig sind, wie wir sie zulassen, dass sie es sind. Unsere ganz persönliche Biografie ist mit Voraussetzung dafür, dass wir für uns realistisch planen und wünschen können.
Und wo kommen wir als Trainer, Coaches und Therapeuten hier ins Spiel? Nun zum einen betrifft uns das Thema Lebensplanung ja auch, immer wieder, lebenslang. Zum anderen hilft die Auseinandersetzung mit diesem Thema auch unseren Klienten und Patienten. Ganz besonders natürlich, wenn bestimmte Lebensphasen erreicht sind oder anstehen. Es hängt auch von der Vielfalt unserer therapeutischen Ansätze ab, ob wir erfolgreich beraten oder helfen können oder eben nicht.
In einem Kurzseminar mit jungen Ruheständlern stellte ich auch die Frage: Was würdet ihr gerne tun? Es kam eine Spontanantwort: „Ich beneide meine Freundinnen, die Omas sind! Ich kann keine werden.“
Meine spontane Antwort: Leihoma.
Im weiteren Gespräch berichtet ein Teilnehmer von seiner Theatergruppe und es war großes Interesse da. Eine Aussage war: Das habe ich früher in der Schule auch gemacht. Nun: Warum nicht jetzt wieder?
Wir Menschen sind allesamt konditioniert, sozialisiert, lieben den Konsens, möchten geliebt werden, haben Verlustängste, brauchen das Gefühl der Sicherheit und Bestätigung dafür, das Richtige zu tun. Mehr oder weniger natürlich.
Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte,
sein eigenes „Ich bin“.
Wir neigen mehr oder weniger dazu, bei neuen Ideen sofort Machbarkeitsstudien auf den Plan zu rufen bzw. reagieren auf ganz bestimmte Sicherheitsargumente, auch Totschlagargumente genannt oder Killerphrasen, mit dem Ergebnis, dass wir neue Sichtweisen, Möglichkeiten, Ideen abwürgen, bevor sie überhaupt Gestalt annehmen können.
Wir erfahren die vermeintliche Sinnlosigkeit eines Gedankens, einer Idee, bevor sie überhaupt Gestalt annehmen kann. Und oft genug bleibt ein Seufzen: „Das würde ich auch gerne machen, leider geht es nicht, weil ...“
Dies zeigt, dass man seine Wünsche, Träume, Ideen aussprechen muss, zunächst völlig ohne Machbarkeitsstudien. Es ist erstaunlich, was sich immer wieder für Möglichkeiten ergeben. Und dieses Herauslassen von oft tief verborgenen Wünschen und Möglichkeiten können wir als Menschen, die in welchem Rahmen auch immer mit Menschen arbeiten, positiv begleiten und ggf. überhaupt erst ermöglichen.
Und die Lebensplanung wird dann im Einzelnen und auch im Besonderen die Arbeit mit Blickwinkeln und Ressourcen, dem ganzen inneren und ganz persönlichen Programm aufnehmen.
Biografiearbeit, Planen und auch die Machbarkeitsstudien gehören dann dazu, und zwar in dem Umfang, in dem sie Thema sind.
Carola Seeler
Heilpraktikerin für Psychotherapie, zertifizierte Psychologische Beraterin (VFP), Trainerin, Coach, Buchautorin