Das Trauma hinter sich lassen! Weg von der Ohnmacht – zurück zur Selbststeuerung
Kurz vor Weihnachten bekam ich einen Anruf von der Mitarbeiterin einer Berufsgenossenschaft. Sie schilderte mir den Fall einer Frau, die dringend Hilfe bräuchte, um zeitnah ein Trauma zu verarbeiten, und beklagte die Situation der Kassen zugelassenen Therapeuten, die erst wieder Termine in sechs bis acht Monaten hätten. Auch wollte sie mit der zuständigen Sachbearbeiterin die Sachlage klären, ob ich als Heilpraktikerin für Psychotherapie als Therapeutin bei der Berufsgenossenschaft anerkannt sei. Schon einen Tag später bekam ich den positiven Bescheid.
Vorgeschichte
In der Vorweihnachtszeit wurde gegen 22 Uhr, kurz vor Geschäftsschluss, ein Supermarkt überfallen. Anwesend waren nur noch zwei Mitarbeiter, eine davon meine spätere Klientin. Der maskierte Täter betrat den Markt mit vorgehaltener Pistole und forderte die Mitarbeiter auf, ihm die Einnahmen auszuhändigen. Während der eine Mitarbeiter den Tresor öffnete, war meine Klientin mit Kabelbindern an einen Stuhl gefesselt im Aufenthaltsraum. Nachdem der Täter den Markt verlassen hatte, konnten sich beide selbst befreien und die Polizei benachrichtigten.
Erstes Gespräch mit der Patientin
Das erste Gespräch fand bei mir in der Praxis, also in einem geschützten Raum statt. Die Patientin wurde von einer Bekannten gebracht, da sie sich außerstande sah, allein mit dem Auto zu fahren. Sie zeigte und schilderte von Beginn an starke vegetative Symptome; Schwitzen, gerötete Wangen, Zittern, Herzrasen, Engegefühl in der Brust. Zunächst war sie nicht in der Lage, über ihr Anliegen zu sprechen, weinte lange und wirkte verzweifelt. Ich ließ ihr die Zeit, die sie Das Trauma hinter sich lassen! Weg brauchte, um sich zu beruhigen, gab ihr Taschentücher und bot ihr Wasser an.
Erst nach geraumer Zeit beruhigte sie sich und sagte, dass sie „total konfus“ sei, nicht schlafen könne, Angst vor fremden Männern habe, zu Hause Barrikaden an den Türen errichte und immer wieder die Situationen des Überfalls vor Augen habe. Typische Zeichen einer PTBS.
Nur langsam gelang es mir, das Gespräch so zu steuern, dass sie mir die Abfolge des Geschehens zusammenhängend schildern konnte. Sie berichtete, dass der vermummte Täter kurz vor Ladenschluss die Filiale betreten habe, sie gleich zu Boden geworfen, ihr die Pistole in den Nacken gehalten und sie über den Fußboden Richtung Aufenthaltsraum geschleift habe. Dort musste sie den Türcode eingeben, anschließend fesselte er sie an den Stuhl und versicherte ihr, dass ihr nichts passieren würde, wenn sie seine Anweisungen befolge. Sie wisse nicht, was im Tresorraum passiert sei, nur dass ihr die Zeit endlos erschien und sie Todesangst gehabt habe. Irgendwann schließlich kam ihr Kollege und sie konnten sich gemeinsam befreien und die Polizei alarmieren. Die anschließende Zeugenbefragung auf dem Revier dauerte bis in die frühen Morgenstunden, sie habe nur noch geweint. Zu Hause habe sie alle Türen verbarrikadiert und die ganze restliche Nacht Angst gehabt. Am folgenden Tag stellte sie sich beim Arzt der Berufsgenossenschaft vor, der dringend zu einer psychologischen Betreuung riet und ein Medikament (Quetiapin) verordnete.
Während des Gesprächs habe ich mir immer wieder die aktuellen Gefühle schildern lassen und den Fokus auf körperliche Symptome gelegt, die sie benennen sollte. Am Ende des Gesprächs meinte sie, dass ihr die Möglichkeit, darüber zu sprechen, gutgetan habe. Im Rahmen der Psychoedukation sagte ich, dass die Symptomatik in dieser Situation nachvollziehbar sei, und vergewisserte mich, dass sie im sozialen Umfeld ausreichend Helfer hatte, und bot ihr meine Unterstützung bei der Bewältigung an. Ich vergewisserte ihr, dass sie mich jederzeit anrufen könne, falls sie mit der Situation überfordert sei, was sie allerdings nie genutzt hat. Die Möglichkeit dazu gab ihr jedoch Halt und die Gewissheit, nicht alleingelassen zu sein.
Therapieverlauf (Kurzfassung)
Wir vereinbarten zunächst engmaschige (zweimal wöchentliche) Termine. Schon beim dritten Termin gingen wir in die Konfrontation vor Ort, obwohl die Situation allein in der Vorstellung für die Patientin sehr angstbehaftet war.
1. Termin: Konfrontation
Ich holte sie von zu Hause ab und wir fuhren zum Supermarkt. Schon auf dem Weg dorthin zeigte sie erneut deutliche vegetative und körperliche Symptome. Die Patientin schilderte das Gefühl, „dass ihr die Angst die Kehle zuschnürt“. Auf dem Parkplatz wurden diese Symptome stärker, dennoch gelang es ihr, aus dem Wagen zu steigen und mit mir über den Parkplatz zu gehen. Auf der Heimfahrt schilderte sie mir, dass sie „trotz des nur kleinen Schrittes stolz auf sich sei“. Bevor ich sie zu Hause absetzte, reflektierten wir im Auto das Geschehen.
2. Termin: Konfrontation
Drei Tage später führten wir die Konfrontation fort. Diesmal gelang es der Patientin, gemeinsam mit mir die Filiale zu betreten und sich im Kassenbereich aufzuhalten. Beim Betreten habe ich ihr unverfängliche Fragen z. B. zu ihrer Familie gestellt, um so den Fokus ihrer Gedanken weg vom Überfall zu legen. Auch in dieser Situation schilderte sie wieder massive Angst und zeigte die bereits geschilderten Symptome. Allerdings war sie bereit, wie im Vorfeld besprochen, die Angst kommen zu lassen und zu überwinden. (s. Schaubild 1)
Auch dieser Termin endete mit der anschließenden Reflexion im Auto.
3. Termin: Konfrontation
Gemeinsam durchquerten wir den gesamten Markt und unterhielten uns mit den Mitarbeitern, die sich sehr über die Begegnung freuten. Die vegetative Symptomatik zeigte sich schwächer als beim Vortermin.
4. Termin: Konfrontation
Beim vierten Termin gingen wir in den Aufenthaltsraum, in dem sie während des Überfalls gefangen gehalten wurde. Ihre körperlichen und vegetativen Reaktionen waren diesmal extrem ausgeprägt. Nachsem wir den Raum betreten hatten, steigerten sich diese so weit, dass die Patienten sich übergeben musste. Auch diesmal hielt sie aus bis zum Abflachen der Angst.
5. Termin: Konfrontation
Ich forderte die Patientin auf, sich auf den Stuhl, an den sie während des Überfalls gefesselt war, zu setzen. Wieder stellten sich extreme Symptome ein und wieder hat sie die Angst überwunden. Dabei gab ihr meine Anwesenheit Sicherheit. Sie vertraute darauf, dass ich im Ernstfall (Ohnmacht, Hyperventilation …) wusste, was zu tun war. Danach erarbeiteten wir gemeinsam am Tisch sitzend eine Vorgehensweise im Umgang mit der Angst (nach Anett Renner „aktiver Selbstschutz“, s. Schaubild 2). Am Ende der Ausarbeitung saß sie entspannt auf dem Stuhl und versicherte mir auf Nachfrage, dass sie keine unangenehmen körperlichen Empfindungen verspüre.
6./7./8. Termin: Konfrontation
Die Patientin ging allein in den Aufenthaltsraum, mit dem Auftrag, sich an dem erlernten Modell zu orientieren. Ich kam nach einer vereinbarten Zeit (erst zwei Minuten, dann fünf, dann zehn Minuten) dazu. Reflexionsgespräch im Raum. Patientin fasste den Entschluss, wieder arbeiten zu wollen.
9./10. Termin: Konfrontation
Wir trafen uns auf dem Parkplatz. Die Patientin fuhr zum ersten Mal im eigenen Auto hierher. Gespräche gemeinsam mit dem Markt- und Gebietsleiter hinsichtlich Wiedereingliederung. Die Patientin hatte sich im Vorfeld Bedingungen überlegt, unter denen sie ihre Arbeit wieder aufnehmen kann (kein Spätdienst, Dienst nur in der Hauptgeschäftszeit, keine Hauptverantwortlichkeit ...). Die Gespräche waren sehr konstruktiv.
Aktuelle Situation
Seit Anfang März läuft die stufenweise Wiedereingliederung. Wir treffen uns einmal pro Woche zum Reflexionsgespräch. Die stundenweise Arbeit sei zwar erschöpfend, allerdings habe die Patientin das Gefühl, wieder selbstgesteuert zu sein. Die weiteren Termine wurden zeitlich ausgeweitet bzw. in einigen Wochen nach Bedarf vereinbart.
Die Patientin berichtet davon, das Geschehene verarbeitet und sich persönlich weiterentwickelt zu haben. Bei Anspannung müsse sie manchmal noch weinen, dann mache sie, wie mit dem Marktleiter vereinbart, eine Pause oder gehe kurz an die frische Luft. Auch diese Reaktionen könne sie nachvollziehen und damit umgehen. Ihr Ziel sei es, durch die stufenweise Wiedereingliederung und die Optionen, mit denen sie Stress und Anspannung entgegenwirken könne, wieder voll arbeitsfähig zu sein. Besonders hilfreich dabei sei die volle Unterstützung seitens des Marktleiters und der Kollegen.
Förderlich für den Verlauf
- die zeitnahe und flexible psychologische Betreuung
- ein guter familiärer/sozialer Rückhalt
- die Motivation der Patientin
- die bestmögliche Unterstützung seitens der Markt-/Bereichsleitung und der Kollegen
Erfordernisse der Bürokratie
- die Genehmigung seitens der BG
- die Antragstellung zunächst für fünf probantische Sitzungen (Vordruck)
- der Bericht nach probantischen Sitzungen (Vordruck)
- die Antragstellung für weitere Termine (Vordruck)
- der Abschlussbericht (Vordruck)
Resümee
Anhand dieses Beispiels hat sich wieder gezeigt, dass die Situation hinsichtlich der Wartezeit auf einen Therapieplatz bei Psychologen mit Kassenzulassung für unseren Berufsstand durchaus Chancen bietet. Dazu ist es wichtig, präsent zu sein und alternative Angebote zu unterbreiten.
Im Gespräch berichtete mir eine Kollegin der Patientin, dass sie sich in einer ähnlichen Situation befunden habe und sich gewünscht hätte, so zielgerichtet und engmaschig mit ihrer Therapeutin hätte arbeiten können. Sie hatte während eines stationären Aufenthalts mehrmals darum gebeten, dass die Konfrontation vor Ort stattfinden solle. Dies, so wurde ihr gesagt, gehöre nicht zum Angebot der Klinik. Ihr Genesungsprozess dauerte 18 Monate!
Gabriele Kemmer
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Psychologische und Systemische Beraterin, Praxis in Tauberbischofsheim