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Fallstudie: mittelgradige Depression

fotolia© altanahaKlient: Iwan, 30 Jahre

Anamnese

Iwan ist gelernter Industriemechaniker und arbeitet in der Arbeitsvorbereitung eines Ingenieurbüros. Er ist in Kirgisien geboren und mit zwei Jahren nach Deutschland gekommen. Seine 31-jährige Ehefrau arbeitet als Filialleiterin in einer Kosmetikfirma. Iwan hat eine 23-jährige Schwester und einen 34-jährigen Bruder. Das Verhältnis zu beiden ist gut. Sein Bruder befindet sich wegen einer bipolaren Störung in Therapie. Der Vater leidet an Depressionen. Das Verhältnis zu seinem Vater ist schlecht. Iwans Mutter war kurz nach seinem 21. Geburtstag an einer schweren Krebserkrankung gestorben. Darunter leidet Iwan sehr.

Iwan kommt in meine Praxis, weil er unter einer starken Antriebslosigkeit leidet. Er ist seit zwei Wochen in einem großen Tief, empfindet Perspektivlosigkeit und mangelndes Selbstvertrauen. Er fühlt sich gegenwärtig „ohne Ende müde“ und sieht in vielen Sachen keinen Sinn. Er traut sich nicht, im Garten etwas anzupacken, „weil es doch wieder misslingen würde“. Zum Tod der Mutter gibt es Bilder, die er nicht aus dem Kopf bekommt.

„In meinem Kopf herrscht nie Ruhe“ sagt er und bestätigt mir eine seit Langem bestehende Grübelneigung. Wenn er von seiner Mutter erzählt, weint er. Iwan war dabei, als seine Mutter die Krebsdiagnose bekam, als man ihr den Port für die Chemotherapie einsetzte und als sie an seinem 21. Geburtstag nach der Krebsoperation aufwachte. Vier Wochen später verstarb sie leider.

Im anamnestischen Vorgespräch ist Iwan klar und strukturiert. Ihm ist die Bedeutung einer guten und klaren Kommunikation bewusst. Iwan hat auch die klare Wahrnehmung, dass Beziehungen von Kommunikation leben. Er vermittelt einen hohen Therapiewillen. Aber seine Verzweiflung ist groß und katastrophal. Immer wieder ist Iwan den Tränen nahe. Er berichtet davon, wie schwer es ihm überhaupt gefallen sei, sich in Therapie zu begeben. In seinem familiären russischen Umfeld ist Psychotherapie ein absolutes Tabuthema. Ich bestärke ihn darin, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben.

Mein Klient fühlte sich von seinem Vater immer zurückgesetzt, der seinem handwerklich geschickten Bruder stets mehr zugeneigt war. Der Vater hatte ihm häufig signalisiert, dass er nichts kann. Iwan kam mit einem guten Zeugnis in der 3. Klasse nach Hause, hatte allerdings eine Drei in Musik. Reaktion des Vaters: „Kannst du nicht singen?“ Im Alter von 13 Jahren hatte ein Mitschüler ständig seine Fahrradreifen durchlöchert. Eines Tages, als Iwan wieder beim Reifenflicken war, ließ er sich von seiner Schwägerin helfen. Sein Vater sah das und sagte: „Wieso lässt du dir von einer Frau helfen?“ Mein Klient hatte immer viel Sport getrieben, vorzugsweise Volleyball. Im Moment geht das nicht: Zustand nach Bandscheibenvorfall. Er bekommt Physiotherapie, Akupunktur und nimmt starke Schmerzmittel.

Kindheit, Jugend und Pubertät empfindet er als normal. Suizidale Gedanken bestanden und bestehen nicht.

Seine Partnerschaft empfindet Iwan als gut. Er möchte aber mehr mit seiner Frau und Freunden unternehmen. Aber ihm fehlt der Antrieb dazu. Die Sexualität läuft schlecht, Gründe sind Lustlosigkeit und Rückenschmerzen.

Verdachtsdiagnose: mittelgradige Depression F 32.1 in Verbindung mit einer Anpassungsstörung

Anamnestische Bewertung: Ursache der hier vorliegenden psychischen Störung sind in der Kindheit und Adoleszensphase diverse Ich-bin-nicht-o.k.-Erlebnisse, die nicht oder nicht ausreichend verarbeitet wurden und zu einem hohen persönlichen Leidensdruck geführt haben. Es kann vermutet werden, dass eine familiäre Vorbelastung zu psychischen Störungen besteht.

Therapieziele: • Bearbeitung belastender Bilder aus der psychogenen Entwicklung heraus • Stärkung des Selbstbewusstseins

Therapie: 1. Sitzung

Im künftigen therapeutischen Prozess werden belastende Bilder über „Interventionen in Trance“ verändert. Die Arbeit mit belastenden Bildern kann dazu führen, dass der Klient sehr aufgewühlt wird. Das soll aber kontrolliert werden können. Deshalb erhält der Klient einen Ruheanker, den er selbst jederzeit auslösen kann. Der Anker soll die Qualität von Ruhe und Entspannung haben. Iwan wählt ein für ihn entsprechendes passendes Bild aus.

In einem leichten Trancezustand führe ich ihn in dieses Bild hinein. Wenn das Gefühl der Ruhe und Entspannung da ist, verankert der Klient dieses Gefühl mit einer vorher abgestimmten Berührung am Körper (z. B. das Handgelenk umfassen). Gleichzeitig berühre ich vereinbarungsgemäß sein Fußgelenk. So kann ich später bei Bedarf selbst diesen Ruhezustand wieder auslösen. Iwan stellt sich das Bild vor, dass sein Vater ihn fragt: „Kannst du nicht singen?“ Das Bild wird in seiner Vorstellung im Wohnzimmer aufgehängt. Dann lässt er es verschwinden. Bis zur nächsten Sitzung soll mein Klient eine Situation herausfinden, auf die er stolz ist.

2. Sitzung

Iwan erzählt, dass ihn die 1. Sitzung sehr zum Nachdenken angeregt hat. Er fühlt sich schon besser, zumindest sind seine Rückenschmerzen weniger geworden. Iwan berichtet, dass er herbstlichen Geruch nicht mag. Ich frage ihn, woher das kommt und was er damit verbindet. Er verbindet den herbstlichen Geruch mit der Krebserkrankung der Mutter, seiner schlecht laufenden Ausbildung und der Tatsache, dass seine Freundin ihn verlassen hatte. Alles war im Herbst passiert.

Ich führe Iwan in einen Trancezustand hinein. Am Anfang des Tranceprozesses bittet er den passenden unbewussten Anteil (jeder verfügt über unbewusste Anteile) in sich darum, ihm heute alle Bilder zu zeigen, die er braucht. Ich bitte ihn dann, er möge einmal schauen, ob er ein Symbol für den herbstlichen Geruch gezeigt bekommt. Er sieht ein Symbol: blaue Knetmasse.

Bis zur nächsten Sitzung soll Iwan sich überlegen, was er mit der Knetmasse tun möchte. Er macht sich ein Bild von der Situation beim Reifenflicken und dem Ausspruch des Vaters: „Wieso lässt du dir von einer Frau helfen?“ Das Bild wird gelöscht.

Iwan hatte eine Situation gefunden, auf die er stolz ist. Er hatte die Trauerrede für seine Mutter gehalten. Er stellt sich die Situation in Trance vor und macht sich ein Bild davon. Das Bild bekommt einen Rahmen seiner Wahl. Es wird im Wohnzimmer aufgehängt. Er lässt es so groß werden, wie es ihm gefällt. Und es bekommt Farbe und Helligkeit.

3. Sitzung

Der Ruheanker wirkt. Iwan ist neutraler gegenüber seinem Vater geworden. Das negative Bild ist nahezu weg. Sein Selbstbewusstsein ist größer, sein Antrieb auch. Aber Iwan hat immer noch eine Grübelneigung und nach seiner Meinung zu viele Annahmen im Kopf. Es gibt eine Lösung für die Knetmasse. Im Trancezustand zerhackt Iwan die Knetmasse. Er lässt sie trocknen und wirft sie weg. Iwan hat ein Bild zu seinem Selbstbewusstsein. In einem Projekt hatte er für seinen Arbeitgeber eine Kosteneinsparung von 120 000 Euro bewirkt.

4. Sitzung

Seinem Rücken geht es gut. Privat und beruflich läuft alles bestens. Das negative Gefühl zum Herbstgeruch hat sich verändert – es ist weniger geworden. Iwans Antrieb ist gewachsen. Er hatte kürzlich für seine Freunde und Familie eine Gartenparty organisiert. Zukunftsängste verschwinden langsam. Seine Frau spürt die Veränderung an ihm. Iwan macht sich ein Bild zu seinem Selbstbewusstsein. Er stellt sich folgende Situation vor: Iwan ist in seinem Betrieb, sein Chef schüttelt ihm die Hand. In seiner Hand hält der Chef einen Scheck über 120 000 Euro. Mein Klient hängt dieses Bild in seinem Wohnzimmer auf und gestaltet die Größe, Farbe und Helligkeit.

5. Sitzung: Therapieende

Meinem Klienten geht es nach eigenen Aussagen sehr gut. Er nimmt sich selbst besser wahr. Eine Antriebsstörung besteht nach seiner Meinung nicht mehr. Iwan bekommt positive Rückmeldungen von seinem Bruder und seiner Frau. Folgendes Bild wird gelöscht: Iwan steht an seinem 21. Geburtstag zusammen mit seinem Vater und seinen Geschwistern am Bett seiner Mutter, als diese nach der Krebsoperation aufwacht. Ich führe meinen Klienten in einen leichten Trancezustand hinein und vermittle ihm noch einmal ganz bewusst seine Kompetenzen: Kraft und Stärke sowie sein Bewusstsein für Kommunikation.

Stand der Dinge

Iwan geht es gut. In seinem Job läuft alles prächtig. Die Sexualität ist besser geworden. Er hat wieder angefangen, Sport zu treiben. Iwan fühlt sich rundum wohl. Erfreulicherweise haben die „Interventionen in Trance“ eine Auflösung aller Probleme bewirkt. Ich halte immer für die Dauer eines Jahres nach Therapieende Kontakt zu meinen Klienten. Daher kann ich diese Aussage treffen.

Rainer WieckhorstRainer Wieckhorst
Heilpraktiker für Psychotherapie, Experte für Angst- und Panikstörungen, Kommunikationsexperte, Publizist, Therapiepraxis Balance-Concept, Reinbek
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Foto:  fotolia©altanaha