Gewohnheit. Sie ist nicht unser Schicksal
„Die Gewohnheit ist eine gefährliche, eitle Göttin“, so lautet ein Satz aus einem Buch, von dem mir kürzlich eine Klientin berichtete. Sie liest gerade „Das Lavendelzimmer“ von Nina George. Mir gefiel, was sie mir über den Inhalt beschrieb. Der Protagonist, Jean Perdus, betreibt eine literarische Apotheke und empfiehlt seinen Kunden Bücher. Sie stillen nicht nur ihren Lesehunger, sondern spenden auch Trost, lindern und heilen, wo kein Therapeut mehr weiter weiß. Diese Idee einer literari schen Apotheke erwärmte mein Herz, weshalb ich mir das Buch prompt zulegte. Auf Seite 207 fand ich oben erwähnten Satz und weiter heißt es dort: „… Sie lässt nichts zu, was ihre Regentschaft unterbricht. Sie tötet eine Sehnsucht nach der anderen. Die Sehnsucht nach Reisen, nach einer anderen Arbeit, nach einer neuen Liebe. Sie verhindert zu leben, wie man will. Weil wir aus Gewohnheit nicht mehr nachdenken, ob wir noch wollen, was wir tun.“
Die Gewohnheit – Verbündete oder Feindin?
Es ist nun schon ein paar Tage her, seit ich diese Zeilen las, doch der Bann ist seither ungebrochen. Lösten sie doch eine ganze Lawine an Überlegungen und Emotionen in mir aus, die ich hier gern teilen möchte. Eine Seite in mir fühlte sich von den Worten ertappt und gleichermaßen erinnert. Ja, ich kannte unzählige Schicksale, die der machtvollen Göttin Gewohnheit scheinbar nichts entgegenzusetzen hatten – obwohl sie sichtlich unter ihr litten! Die bloße Absicht und der gute Wille allein scheinen nicht ausreichend zu sein, um unsere Gewohnheiten zu verändern. An dieser Stelle scheinen wir eben oftmals nicht Herrschende im eigenen Haus zu sein.
Dieser Umstand kann in der Tat sehr gefährlich werden, weil jede unserer dysfunktionalen Verhaltensweisen nicht nur für uns persönlich, sondern für unser gesamtes Umfeld und unsere Umwelt bedrohlich werden können. Grund genug also, das Phänomen der Gewohnheiten einmal näher zu beleuchten.
Gewohnheit sabotiert und beflügelt
Ich könnte unserer machtvollen Begleiterin nicht gerecht werden, würde ich nicht auch ihren Segen anerkennen. Die Hälfte unseres Wachlebens verbringen wir auf Autopilot, 50% unseres Handelns laufen also automatisch ab. Diese vielzähligen Kleinstprogramme, die unser Gehirn automatisch – auf einen Schlüsselreiz hin – abspult, sparen Energie und schaffen Kapazitäten; weshalb unser Gehirn es liebt, zu „routinisieren“.
Unser gesamtes Leben ist auf einem Fundament von Gewohnheiten gegründet. Durch ihre Zuverlässigkeit vermitteln sie uns Sicherheit und Vertrautheit und lotsen uns vollautomatisch durch unseren Alltag. Wir sind uns also allzu oft unserer Handlungsmuster gar nicht mehr bewusst, weil sie unterhalb des Radars des bewussten Denkens liegen. Diese Tatsache macht sie so praktisch – und so gefährlich.
Unser Gehirn unterscheidet nämlich nicht zwischen guter und schlechter Gewohnheit. Und so steht sie an unserer Seite als verlässliche, beflügelnde Freundin oder als zäheste, sabotierende Feindin. Was Nina George in ihrem Buch über die Gewohnheit berichtet, scheint also nur ein Teil der Wahrheit zu sein.
Der Gewohnheit machtlos ausgeliefert? Nein!
Ja, die Gewohnheit führt eine starke Regentschaft. Sie hat kein Interesse daran, sich von ihrem Thron stoßen zu lassen, erfüllt sie doch eine Funktion und kommt vom Ursprung her in bester Absicht. Freiwillig und ganz von allein wird sie es tatsächlich nicht zulassen, dass wir ihre Regentschaft unterbrechen. Aber es liegt an uns, ihr etwas entgegenzusetzen, da wo sie (uns) zerstört und behindert. Auch wenn die Gewohnheit sich nicht gern und leicht unterbrechen lässt, weil sie in ganz anderen Gehirnarealen zu Hause ist als der Wille und das rationale Denken. Unser Oberstübchen verfügt über ausreichend Einsichtsfähigkeit, um dysfunktionale Gewohnheiten zu erkennen und dann mit ausgeklügelten Gegenmaßnahmen auszumerzen.
Die Gewohnheitsschleife unterbrechen
Welche Maßnahmen sind notwendig? Zunächst einmal sind wir eingeladen, uns unserer dysfunktionalen Verhaltensmuster bewusst zu werden, denn die Tücke der Gewohnheit liegt eben darin, dass sie aus dem Schattenreich des Unbewussten regiert. Wer der Gewohnheit auf Augenhöhe begegnen möchte, wird sich mit ihrem Wesen vertraut machen müssen. Sie funktioniert nach einem einfachen, immer selben Prinzip:
Auslöser – Routine – Belohnung.
Um sie dort vom Thron zu stoßen, wo sie Unheil anrichtet, ist es unumgänglich, sich mit den typischen auslösenden Stimmungen und Situationen vertraut zu machen. Jenen, die den Handlungsmechanismus vollautomatisch in Gang setzen, um die gewünschte Belohnung zu erhalten. Haben wir das Prinzip der Schleife begriffen, können wir an jedem ihrer Glieder ausbrechen, obwohl sie uns – gewohnheitsmäßig – direkt von der Situation in die Handlung katapultieren möchte.
Praktisches Vorgehen, um die Routine zu ändern:
- Identifizieren der dysfunktionalen Gewohnheit
- Den auslösenden Reiz erkennen und ggf. isolieren
- Den Belohnungseffekt analysieren
- Nach alternativen, wohltuenderen Belohnungen fahnden/Experimentieren mit verschiedenen Belohnungen
Ich habe im Verlaufe meines Lebens von vielen Gewohnheiten Abschied genommen. Ich ersetzte sie durch produktivere Alternativen. Insofern bin ich ganz sicher, dass Veränderung nachhaltig möglich ist. Eine Leitlinie für praktisches Vorgehen allein hätte mich allerdings nicht ans gewünschte Ziel geführt. Es waren viele Schritte, Umstände und Erkenntnisse nötig, um die gewünschten Veränderungen zu erreichen.
„Nice to have“-Zeilen, Wünsche und Träume sind keine ausreichenden Gegner, um einer dysfunktionalen Gewohnheit den Garaus zu machen. Willenskraft, Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz können da schon mehr bewirken. Genauso kann ein ganz konkreter „Wenn-dann-Plan“ hilfreich sein.
Ich habe also regelhaft die ungewünschte Gewohnheit durch eine andere ersetzt. Diese tat mir gut und überzeugte mich, weil sie gute Gefühle generierte. Das bedurfte mehrerer Versuche und Experimente. Am Ende wurde ich jedoch mit mehr Lebensqualität und Selbstrespekt beschenkt.
Es kann also auch sehr lohnenswert sein, sich immer mal wieder die Frage zu stellen: „Will ich wirklich, was ich gerade tue? Ist das, was ich tue, mein gewünschtes Leben?“ Dort, wo die Antwort eindeutig Nein ist, sind wir sicher eingeladen, eine neue Entscheidung zu treffen.
„In der Kraft, sich zu entscheiden, liegt die Kraft, die alles verändert. Wenn du eine Entscheidung für dich triffst, zieh einen Schlussstrich.“
„Zieh ihn nicht in Sand, zieh ihn in Zement.“
Tony Robbins
Wie konnten Sie sich von einer ungeliebten Gewohnheit verabschieden?
Brauchten Sie, um diese vom Thron zu stoßen, sog. Teachable Moments, starke Zäsuren, wie Krankheit oder Abschied. Oder reichte ein Urlaub am Meer dafür? Und was hat Ihnen dabei geholfen, neue Gewohnheiten nachhaltig zu etablieren?
Ich freue mich von Ihnen zu lesen!
Beate Kohlmeyer
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Hannover