In Zukunft weniger Zukunftsangst!
Wie wir in unsicheren Zeiten mit Ungewissheit besser umgehen können. Jeder weiß, wie das ist: Wenn wir nicht mehr wissen, wie es weitergeht. Unsicherheit. Ein unangenehmer, verstörender Seelenzustand – und doch eine ganz grundsätzliche menschliche Befindlichkeit. Sie begleitet uns immer wieder auf unserem Lebensweg. Aber sie wird in einer immer unübersichtlicheren Welt für immer mehr Menschen zu einem immer größeren Problem.
Unsicherheit – für den Hirnforscher Achim Peters ist sie sogar das Lebensgefühl unserer Zeit, ein Lebensgefühl, das heute maximalen Stress erzeugt. Unsicherheits-Stress tritt immer dann auf, schreibt er in seinem neuen Buch, wenn Menschen in einer riskanten Lebenssituation die Frage nicht sicher beantworten können: „Welche meiner Strategiemöglichkeiten soll ich auswählen, um mein zukünftiges physisches, mentales und soziales Wohlbefinden sicherzustellen?“
Er geht so weit, es als unseren immanenten Lebenssinn zu bezeichnen, Unsicherheit, sobald sie sich regt, zu reduzieren, wobei wir darauf „geprimt“ sind, Überraschungen zu vermeiden. Überraschung, ganz wertneutral, meint, dass etwas anders kommt als erwartet. Wenn es uns nicht gelingt, diese Unsicherheit aufzulösen, entsteht Stress. Und weil heute Situationen unaufgelöster Unsicherheit immer mehr werden, haben wir auch mehr Stress, vor allem eine toxische Variante davon, das ist Peters These.
Stay or go?
Die kleineren Unsicherheiten im Leben kennen alle. Menschen etwa, die öffentlich auftreten müssen. Sie empfinden die anderen oft wie eine Jury: Man weiß nicht, was richtig ist, um die sozialen Erwartungen zu erfüllen. Was sag ich, wie sag ich es, was wollen die von mir? Man hat keine Strategie zur Verfügung, die die Unsicherheit auflöst: Der Körper macht sich selbst auf die Suche und zieht die „Stressleine“: Erröten, feuchte Hände, mehr Adrenalin, das Notprogramm. Hirnforscher wissen heute, so Peters, dass der vordere cinguläre Cortex der Ort im Gehirn ist, wo die Unsicherheit in der Strategieauswahl „kodiert“ wird. Wenn dort keine zuverlässigen zielführenden Strategien für ein Problem abrufbar sind, dann löst dieser Teil des Gehirns eine Art Notprogramm aus, ein Unsicherheitsbeseitigungsprogramm, die Amygdala wird aktiviert: Hormone werden ausgeschüttet, der Körper erhöht die körpereigene Energiezufuhr. Eine Stressreaktion. Sie ist dafür da, Unsicherheit in der Strategieauswahl zu beseitigen. Dadurch wird die Informationsverarbeitung gesteigert mit dem Ziel, schneller die beste Strategie zu finden.
Es gibt aber auch die schwereren Fälle, in denen Unsicherheit über einen längeren Zeitraum besteht. Beispiel Mobbing im Job: Die Lage ist bald unerträglich. Stay or go? Soll ich diesen Laden nicht besser verlassen, weil er mich fertigmacht? Oder soll ich bleiben, weil er mir zumindest eine gewisse Grundsicherung gibt und es auch nicht sicher ist, ob ich eine gleichwertige Stelle bekomme? Wenn nun am Ende alles fifty-fifty ist, dann ist die Unsicherheit maximal.
Was tun? Mehr Information einholen, mehr Coaching, mehr Rat: Das ist, was Klarheit bringt. Aus fifty-fifty wird so ja vielleicht ein Verhältnis von achtzig zu zwanzig. Jetzt hat man eine Grundlage. Wenn jedoch zu lange fifty-fifty währt, Unsicherheit sich verfestigt, dann flottiert ständig und bald chronisch zunehmend zu viel Cortisol: Wir erleben das als Stress, der irgendwann auch gesundheitsschädlich wird.
Was ist Ungewissheitsintoleranz?
Von dieser wachsenden Unsicherheit die Lebensbewältigung als typisches Gefühl unserer Zeit abzugrenzen, ist der Komplex, den man in der Psychologie „Ungewissheitsintoleranz“ nennt: Sie ist die eingedeutschte Variante des in der amerikanischen Psychologie gängigen Fachbegriffs der „Intolerance of Uncertainty“. Hilfreich ist es in diesem Zusammenhang, vom Nichtertragen von Ungewissheit zu sprechen und den Terminus „Unsicherheit“ für das Fehlen einer Strategie zur Erreichung seelischen Wohlbefindens zu reservieren. Ungewissheitsintoleranz wird heute von immer mehr Forschern als wichtiger Faktor bei der Entstehung und Aufrechterhaltung einer „Generalisierten Angststörung“ bewertet.
Das Konzept der Ungewissheitsintoleranz bezeichnet ganz allgemein die Disposition, mit einer Entwicklung mit offenen Ausgang nicht zurechtzukommen. Der US-amerikanische Psychologe Robert Ladouceur bezeichnet als „Intolerance of Uncertainty“ „die interindividuell verschieden ausgeprägte Neigung, negativ auf ein ungewisses Ereignis oder eine ungewisse Situation zu reagieren, letztlich unabhängig von der Wahrscheinlichkeit eines möglichen negativen Ausgangs und der damit verbundenen Konsequenzen“. „Es ist dabei die pure Möglichkeit eines unerwünschten Ausgangs, die Ungewissheit selbst, die hier belastend wirkt, nicht die Wahrscheinlichkeit seines Eintretens – ob nun richtig kalkuliert oder überschätzt“, schreibt der Psychologe Nils Spitzer in seinem neuen Buch: „Ungewissheitsintoleranz und die psychischen Folgen“, und weiter: „Menschen mit einer geringen Ungewissheitstoleranz sehen sich von ungewissen Ausgängen schnell bedroht, fühlen sich wie gelähmt davon und erleben Ungewissheit als wirklich nur schwer zu ertragen.“
„Che sarà della mia vita, chi lo sa?“, singt Jose Feliciano. Was wird sein in meinem Leben? Wer weiß das schon? Wir wissen nicht, was morgen sein wird. Nichts auf der Welt wird wirklich sicher eintreten, der Ausgang aller Dinge ist ungewiss. Die meisten Menschen mögen Ungewissheit nicht sonderlich, aber haben sich an sie gewöhnt. Sie gehört einfach zum Leben. Es gibt aber auch viele, die darunter leiden. Nicht zu wissen, wie eine Sache ausgeht, ist für sie wie eine Allergie oder eine Art Unverträglichkeit. Auch im Kleinen: Das sind diejenigen, die immer in denselben Urlaubsort fahren oder im Restaurant immer dasselbe bestellen, anstatt einmal das kleine Abenteuer einzugehen – und das Gericht mit dem exotischen Namen zu wählen.
Sich sorgen, Vergewisserung, Kontrollzwang
Eigentlich ist ja das ganze Leben, das vor uns liegt, ungewiss. Aber in manchen Situationen scheint sich die Ungewissheit konkret zu manifestieren, ja regelrecht zuzuspitzen: Wie wird eine Prüfung ausgehen, wie der Schwangerschaftstest, wie die Krebsvorsorgeuntersuchung?
Gewiss ist, ungewisse Situationen kommen immer wieder – deswegen brauchen wir eine Kompetenz im Umgang mit Ungewissheit, wir brauchen eine Ungewissheitstoleranz. Gleichmut, Geduld, Gelassenheit statt Hektik und Aktionismus oder gar Panik. Aber viele verfügen gerade über diese Tugenden nicht: Es könnte ja nicht gut ausgehen, ein unheilvoller Reflex setzt ein: „Diese Menschen haben nicht nur einen Wunsch nach mehr Gewissheit, sondern ein Verlangen, ja sie verspüren einen inneren Zwang, alles zu tun, um Ungewissheit zu überwinden, auch dann, wenn dies völlig unmöglich ist“, schreibt Spitzer. Sorgen, Grübeln, Katastrophisieren, der ständige Versuch, Kontrolle wiederzubekommen, eine permanent erhöhte Wachsamkeit und gleichzeitig ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten prägt diese Menschen. Der Preis, den sie zahlen, ist hoch: ein Leben in Angst, eine deutlich verminderte Lebensqualität.
Wie entsteht ein niedriger Level an Ungewissheitstoleranz?
Unsicherheit als conditio humana, sie betrifft uns alle. Und wir versuchen ihr zu entkommen. Im Grunde jede unsichere Lebenslage stimuliert unser Bedürfnis nach Klarheit, Wahrheit, Eindeutigkeit oder wie es der US-amerikanische Sozialpsychologe Arie Kruglanski genannt hat: nach „kognitiver Geschlossenheit“ (cognitive closure). Wir tun viel dafür, treiben enormen Aufwand, sie immer wieder zu erreichen, immer wieder die Lufthoheit über unser unsicheres Leben zu gewinnen. Eine hohe Ungewissheitstoleranz erleichtert uns das Leben. Entscheidend ist die Frage: Wer bringt sie mit, und wer nicht? Was sind die Determinanten für eine hohe Intoleranz gegenüber Ungewissheit? Ist sie in der Persönlichkeit verankert oder wird sie erworben? Das ist nicht einfach zu beantworten. Der jeweilige Level an Ungewissheitstoleranz ist eine ganz individuelle Größe, viele Faktoren können ins Gewicht fallen.
Es gibt klare Anzeichen dafür, dass „negative Vorerfahrungen“ eine große Rolle spielen. Schon die Forschungen des britischen Kinderpsychiaters und Bindungstheoretikers John Bowlby aus den 1970er-Jahren zeigten, dass ein ständiger Mangel an Wärme und Bindungssicherheit zwischen Kind und sorgender Bezugsperson zur Ausbildung von geringer Ungewissheitstoleranz beitragen kann. Je größer und beständiger die Unsicherheit über die Verfügbarkeit einer liebenden Bezugsperson ist, so seine Theorie, desto mehr wird Ungewissheit zum Angstauslöser, sie auszuhalten zu einem existenziellen Bewältigungsproblem.
Forschungsergebnisse zeigen aber genauso, dass kindliche Überbehütung ein Problem sein kann, weil durch elterliches Vermeidungsverhalten keine oder zu wenig kindliche Lernerfahrungen mit angstauslösender Ungewissheit gemacht werden können. Die Psychologin Irene Goch beschrieb in ihren Untersuchungen diese sehr heterogenen Einflussfaktoren. Je ausgeprägter die Ungewissheitstoleranz der Mütter war, desto höher war auch die der Kinder. Aber andererseits konnte selbst eine von elterlicher Inkonsequenz und von Konflikten geprägte Kindheit die Ungewissheitstoleranz der Kinder fördern: „Die Ungewissheitstoleranz der Kinder war umso stärker ausgeprägt, je ausgeprägter sie die inkonsistente Erziehung durch die Väter und Mütter sowie die Konfliktneigung in der Familie wahrnahmen.“
Fazit: Eine ausgeprägte Ungewissheitstoleranz kann sich also nicht nur unter „idealen“ Voraussetzungen ausbilden, sondern auch als quasi defensive Kompetenz angesichts eher widriger Umstände. Ähnliche Beobachtungen hat man auch in der Resilienzforschung gemacht. Eine hohe wie eine niedrige Toleranz gegenüber der Ungewissheit – sie wird uns in jedem Fall zu einem großen Maß über frühe Erfahrungen „eingeschrieben“. Die Verfügbarkeit einer liebenden Bezugsperson in der Kindheit schafft Urvertrauen und emotionale Sicherheit. Wer diese nicht oder nicht ausreichend erfahren hat, dessen Vermögen, eine hohe Ungewissheitstoleranz zu entwickeln, ist offenbar nicht unmöglich, sie gestaltet sich aber unter erschwerten Startbedingungen.
Es gibt jedoch auch den Sonderfall einer „sekundären Intoleranz“ gegenüber Ungewissheit. Sie betrifft all jene Menschen, bei denen in ihrer frühen Lebensgeschichte eine normale Toleranz gegenüber Ungewissheit ausgebildet war, die sie aber durch vermehrte Negativerfahrungen wieder verloren haben. Anders ausgedrückt: Mit Ungewissheit gut umzugehen, fällt all jenen schwer, die oft die Erfahrung des schlechten Endes gemacht haben. Man nimmt automatisch an, es komme wieder so und verliert das Zutrauen in die Zukunft. Nils Spitzer weist darauf hin, dass langwierige unsichere Lebensumstände „auch noch die beste Ungewissheitstoleranz aufbrauchen können, wenn die ungewissen Lagen einfach kein Ende nehmen wollen.“
Unsichere Zeiten – weniger Unsicherheitstoleranz?
„Wird‘s besser? Wird‘s schlimmer? Fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich!“, dichtet Erich Kästner. Doch es scheint, als hätten Gefahren und allgemeine Verunsicherungen in unserer Gegenwartsgesellschaft noch massiv zugenommen. Wir leben längst in einer „Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck), die einen enorm hohen Level an Umgangskompetenz erfordert, das, was Psychologen „Selbstwirksamkeit“ nennen. Die Welt ist für den Einzelnen undurchschaubarer, unverständlicher und unübersichtlicher geworden. In einer durchrationalisierten Welt nimmt paradoxerweise Unsicherheit eher zu, als dass sie abgebaut würde: Mehr Wissen schafft nicht mehr Gewissheit, sondern seine Uferlosigkeit neue Ungewissheit, weil keiner alles wissen kann. Und die Freiheit zu wählen, tut ihr Übriges: Multioption bedeutet immer, mehr Möglichkeiten zu haben, aber auch mehr Unsicherheit.
Man könnte nun vermuten, dass durch die wachsende Unsicherheit in einer chaotischen Welt auch unsere „innere“ Toleranz ungewisser Entwicklungen gegenüber abgenommen hat. Aus der Sicht der Psychologie gibt es dafür jedoch nur wenig belastbare Hinweise – unsichere Zeiten hin oder her. Alexander Gerlach, Professor für Psychologie und Psychotherapie an der Universität zu Köln, stellt fest, „belastbare und methodisch angemessene Untersuchungen, die die Zunahmen bezüglich psychischer Störungen in Deutschland untersucht haben, finden keine allgemeinen Zunahmen von Angststörungen. Interessanterweise zeigt sich allerdings für die „Generalisierte Angststörung“, die möglicherweise am deutlichsten mit Unsicherheitsintoleranz verknüpft ist, ein kleiner Anstieg von rund 0,5% in der auf ein Jahr bezogenen Häufigkeit.“
Offensichtlich ist: Wo uns eine unsichere Welt immer mehr herausfordert, haben es Menschen mit einem niedrigen Level an Ungewissheitstoleranz noch viel schwerer. „Trifft also eine zunehmend ungewisse Lebenslage auch noch auf eine individuelle Intoleranz gegenüber Ungewissheit, auf verzerrte Überzeugungen bezüglich der Bedrohlichkeit von Ungewissheit oder der Notwendigkeit von Gewissheit, dann können die daraus hervorgehenden Belastungen gravierend sein“, schreibt Spitzer. Das lässt sich veranschaulichen: Gerade bei stressauslösenden Fifty-fifty-Situationen sind Kandidaten mit geringer Toleranz gegenüber Ungewissheit im Nachteil, weil sie zusätzlich zur wachsenden Unsicherheit ihrer Lebenslage auch noch eine erhöhte Angst vor der negativen Variante der Strategiebewältigung haben: etwa bei einem Neustart in einem neuen Job. Auch Achim Peters bestätigt dies. Intoleranz gegenüber Ungewissheit ist eine Ursache dafür, die Unsicherheit nochmals erhöhen kann. „Eine hohe Intoleranz“, stellt er fest, „beeinflusst das Entscheidungsverhalten negativ, weil sie bestimmte Lösungsmöglichkeiten blockiert.“
Von der Intoleranz zur Akzeptanz:
Schau‘n mer mal! Entspannter leben mit Ungewissheit
Eine niedrige Unsicherheitstoleranz ist eine erhebliche Belastung. Wir verpassen das reale Leben. Wenn ich mir ständig Sorgen mache, dann ist mein Fokus nur auf die Zukunft gerichtet, alles Denken kreist darum, die Zukunft zu kontrollieren – obwohl das völlig sinnlos ist. Intoleranz gegenüber Ungewissheit lähmt. Es geht darum, wieder in Bewegung zu kommen. Aber kann man alte negative Erfahrungen tatsächlich „überschreiben“?
Um besser mit Ungewissheit umgehen zu lernen, haben die kanadischen Forscher Melisa Robichaud und Michel Dugas ein bisher nur auf Englisch verfügbares „Generalized Anxiety Disorder Workbook“ geschrieben, eine Art Selbsthilfe für Betroffene, um besser mit der eigenen Ungewissheit, Sorge und Angst klarzukommen. Es geht darin um kognitive Verhaltensstrategien, um durch „learning by doing“ wieder ins Handeln zu kommen. Für den deutschen Sprachraum liegt mit Nils Spitzers Buch erstmals ein umfassendes Werk zur Ungewissheitsproblematik vor, das auch die therapeutische Seite berücksichtigt. Lernziel für Betroffene sei es zu erkennen, so Spitzer, „dass es in einer Situation nicht zum befürchteten negativen Ausgang kam, und wenn es doch negativ war, dann nicht so katastrophal wie befürchtet.“
Vieles kann man selber tun, um die eigene Ungewissheitstoleranz zu steigern. Das Erste ist, sich die Ängste einfach einzugestehen. Dann ist es sinnvoll, die selbst komponierten Schreckensszenarien durchzuspielen und sich zu veranschaulichen, was daran wirklich realistisch ist. Durch gedankliche Konkretisierung schrumpft die antizipierte Katastrophe meist erheblich zusammen. Man sollte sich klarmachen, dass erschöpfende Vergewisserungsbemühungen zum Scheitern verurteilt sind, und sich stattdessen vorstellen, wie ein Leben ohne die Ängste und Zwänge einer Ungewissheitsintoleranz aussehen könnte. Da jede Handlung, die der Intoleranz von Ungewissheit nachgibt, die innere Erstarrung nur verstärkt – auch wenn man sich so auf der vermeintlich „sicheren Seite“ wähnt, geht es darum, wieder beweglich zu werden, indem man das kognitive Profil verändert. Spitzer beschreibt die therapeutische Praxis so: „In Übungen setzen sich Betroffene mit zuerst kleinen alltäglichen Ungewissheiten auseinander, um wieder die Erfahrung zu machen, dass die Ungewissheit allein noch nicht Gefahr bedeutet, sie gewöhnlich handlungsfähig bleiben – und dass daher gar nicht unter allen Umständen Gewissheit hergestellt werden muss. Das kann schon ein kleiner Ausflug in eine unbekannte benachbarte Stadt (ohne Handy!) sein: Wie gefährlich war es? Ist man trotzdem damit fertiggeworden?“
Alexander Gerlach berichtet aus seiner Praxis von einer Patientin, der es gelang, ihre Angst zu überwinden. Die Dame im Rentenalter mit gutem Einkommen hätte eigentlich sehr gerne deutsche Städte besucht und kennengelernt, traute sich aber nicht, sich in unbekanntem Neuland zu bewegen. „Der Königsweg, um mehr Toleranz zu gewinnen, ist aber tatsächlich systematisch zu prüfen, ob die vielen Sicherheitsmaßnahmen wirklich nötig sind“, sagt Gerlach, also zu prüfen, ob man nicht doch in einer fremden Stadt mithilfe von Stadtplänen, Fremde ansprechen sich zurechtfinden kann. Dies verlangt allerdings den Betroffenen ordentlich Mut ab. „Mit besagter Patientin bin ich in eine andere Stadt gefahren, in irgendeinen Bus gestiegen und habe sie dann an der Endstation zurückgelassen. Die Erfahrung, dass sie selber wieder zurück gefunden hat, war eine wichtige neue Erfahrung. Sie hat mir nach Abschluss der Therapie noch Postkarten aus vielen schönen Städten geschickt.“ Vielleicht sollte man sich auch klarmachen, dass es nicht nur um Aushalten und Bewältigen von Ungewissheit und Angst geht, sondern auch, dass es sogar eine schöne Seite der so ungeliebten Ungewissheit gibt: Sie ist nie langweilig, immer spannend, ein kleines oder größeres Abenteuer – und wenn es nur darin besteht, heute Abend im Restaurant einmal etwas anderes zu bestellen als immer das ewige langweilige „sichere“ Wiener Schnitzel.
Literatur
- Gerlach, Alexander/Andor, Tanja/Patzelt Julia: Die Bedeutung von Unsicherheitsintoleranz für die Generalisierte Angststörung. Modellüberlegungen und Entwicklung einer deutschen Version der Unsicherheitsintoleranz-Skala, Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 37, 2008, S. 190–199
- Goch, Irene: Entwicklung der Ungewissheitstoleranz. Die Bedeutung der familialen Sozialisation, S. Roderer Verlag, Regensburg, 1998
- Grad, Jacelyn E.: Intolerance of Uncertainty: A Cognitive Vulnerability That Predisposes Individuals to Develop Social Anxiety? Dissertation, University of Houston, 2011, https://uh-ir.tdl. org/uh-ir/bitstream/handle/10657/250/GRAD-. pdf?sequence=1&isAllowed=y
- Koerner, N,/Dugas, M.J.: A cognitive model of generalized anxiety disorder, The role of intolerance of uncertainty, in: Davy GC, Wells A (Hrsg.): Worry and its Psychological Disorders. Theory, Assessment and Treatment, Wiley, Chichester, 2006
- Peters, Achim: Unsicherheit, Das Gefühl unserer Zeit, C. Bertelsmann, München, 2018
- Robichaud, Melissa/Dugas, Michel J.: The Generalized Anxiety Disorder Workbook, A Comprehensive CBT Guide for Coping with Uncertainty, Worry, and Fear, New Harbinger, Publications, Oakland, CA, 2015
- Spitzer, Nils: Ungewissheitsintoleranz und die psychischen Folgen. Ein Behandlungsleitfaden für Psychotherapie und Beratung, Springer, Berlin, erscheint Herbst 2019
Dr. Martin Hecht
Autor, Publizist, Schriftsteller
Kleiner Selbsttest zur Unsicherheitsintoleranz
Erarbeitet von Alexander Gerlach, Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Köln.
Können Sie Unsicherheit ertragen? Wenn eine der folgenden Aussagen auf Sie gut passt, antworten Sie mit Ja. Wenn das eher nicht der Fall ist, antworten Sie mit Nein.
A) „Eingeschränkte Handlungsfähigkeit durch Unsicherheitsintoleranz“
Unsicherheit hindert mich zeitnah zu handeln. ja/nein
Wenn ich mich unsicher fühle, funktioniere ich nicht richtig. ja/nein
Meine Unsicherheit zeigt mir, dass ich ein geringes Selbstvertrauen habe. ja/nein
B) „Belastung durch Unsicherheitsintoleranz“
Durch meine Unsicherheit fühle ich mich belastet. ja/nein
Wegen meiner Unsicherheit kann ich oft nicht richtig schlafen. ja/nein
Unvorhergesehene Ereignisse stressen mich. ja/nein
C) „Stets auf der Hut sein wegen Unsicherheitsintoleranz“
Ich möchte immer alles im Voraus organisiert haben. ja/nein
Ich will immer wissen, was in der Zukunft passieren wird. ja/nein
Auch kleine unvorhergesehene Ereignisse können alles verderben. ja/nein
Auswertung: Wenn Sie fünf bis neun Mal mit Ja geantwortet haben, neigen Sie möglicherweise dazu, Unsicherheit weniger gut tolerieren zu können. Dies spricht für eine geringe Unsicherheitstoleranz.