Polarisierung als konstruktives Mittel im Konflikt?
Im März machte das Ergebnis einer Studie hellhörig, der gemäß Polarisierung als konstruktives und Qualität steigerndes Mittel in einem Konflikt empfohlen wird (z.B. Herrmann, Sebastian: 2019, S. 16; Anderl, Sibylle: Vorteile der Polarisierung? Schlauer im Streit, 2019). Prompt habe ich im Kollegenkreis bereits gehört: „Super! Das baue ich in meine Beratung von Familienkonflikten ein!“ und „Endlich mal keine Harmoniesoße!“
Aber Achtung: Die Schlussfolgerung der Studienautoren ist nicht verallgemeinerungsfähig. Das liegt – neben individual- und sozialpsychologischen Gesetzmäßigkeiten – unter anderem am Design der Studie, insbesondere daran, dass die Untersuchung auf die Zusammenarbeit von Autoren bei der Online-Enzyklopädie Wikipedia, also primär intellektuell engagierte Personen, und damit auf ein eng umgrenztes Milieu (Artikeleditoren) bezogen ist.
Die Studie wurde von Sozialwissenschaftlern der Universität Chicago durchgeführt und publiziert im Fachjournal „Nature Human Behaviour“. Die Wissenschaftler werteten unter verschiedenen Gesichtspunkten und mit diversen Parametern Daten aus, die von etwa 400000 Editorenteams geliefert wurden. Die erkenntnisleitende Frage bezog sich auf die Art und Weise, wie Autoren von Artikeln kontroverse bis antagonistische Auffassungen zu einem Thema behandeln und wie sich dies auf die Qualität der Leistung auswirken würde.
Der Leser der Schlagzeilen produzierenden Schlussfolgerung, Autorenteams mit gegensätzlichen Meinungen produzierten die besseren, ausgewogeneren Artikel, muss spezielle Rahmenbedingung beachten, etwa jene, dass Autoren bei Wikipedia durch Regeln motiviert sind, zu kooperieren und zu einem publizierbaren Ergebnis zu gelangen (zudem verfolgt jeder den Ehrgeiz, die eigene Expertise zur Geltung zu bringen). Dies vor dem besonderen Hintergrund, dass ein Artikel prinzipiell jederzeit verändert werden kann.
Eine weitere Konklusion muss ebenfalls vor dem Hintergrund spezieller Kontexte gelten, nämlich die These, dass „vielfältige Perspektiven typischerweise“ zu Leistungen einer Gruppe führten, die als „überlegen“ bezeichnet werden, in Referenz zu meinungshomogenen Teams. Auf therapeutische Situationen übersetzt hieße das, vielfältige Perspektiven mündeten typischerweise in eine Lösung, mit der alle Beteiligten besser leben können als mit einer Lösung, die nur einer Meinung folgt, etwa jener des einfl ussreichsten Gruppenmitglieds.
Anzumerken ist mindestens dies: Eine Vielfalt von Auffassungen, Befi ndlichkeiten, Meinungen, Positionen begründet einen produktiven Diskurs und hohe eine Qualität der Lösung notwendig in signifikanter Abhängigkeit von Diskursebene (Verstand und Argumente versus Gefühle und Meinung), dem Niveau des Austauschs, der Motivation zu einem möglichst alle Anliegen verwebenden und daher tragfähigen Arrangement. Diese Bedingungen lassen die Wahrscheinlichkeit wachsen, zu einer akzeptierten Vereinbarung zu gelangen, wozu gehört, dass auch die Kosten einer Einigung getragen werden, die in der besagten Konstellation notwendig kompromisshaft ausfällt und folglich nicht jeden gänzlich zufriedenstellt (Kompromiss versus Synergie). In einem therapeutischen Setting ist daher zumindest zu überprüfen, inwiefern die Verschiedenheit bis Gegensätzlichkeit von Anliegen das Potenzial in sich trägt, zu einer alle zufriedenstellenden Lösung gelangen zu können.
Homogenität oder Ähnlichkeit in Einstellungen, Normen, Ansichten und dergleichen in einer Gruppe behindern Ideenvielfalt und beeinträchtigen die Qualität einer Vereinbarung/Lösung nicht nur aus intellektuellen, sondern aus insbesondere psychologischen und sozialpsychologischen Gründen. Das Inkludieren und Betrachten anderer bis antagonistischer Auffassungen, Überlegungen, Gesichtspunkte kommen insbesondere dann zu kurz, wenn sie moralisch beurteilt werden, wenn das individuelle und/oder kollektive Aushalten kognitiver Dissonanz gering ausgeprägt ist und daher keine Kontroverse geführt, sondern der Konsens hochgehalten wird.
Zudem zeigen empirische Untersuchungen zu Verhalten in Gruppen seit Jahrzehnten, dass ein subjektiv empfundener Anpassungsdruck an die (vermutete, faktische) Meinung der Gruppe bzw. an das Votum der Autoritätsperson so hoch ausfallen kann, dass sich Menschen nicht trauen, davon abzuweichen (Group think). Insbesondere Konsens- und Zugehörigkeitsbedürfnis, Abgrenzungsprofil nach außen und Identitätsstärkung nach innen sowie das in der Gruppe durch die Gruppe wachsende oder stabilisierte Selbstwertgefühl und die empfundene Selbstwirksamkeit sorgen dafür, dass zudem Gruppenmeinungen sich radikalisieren, sowohl in Relation zu Teams mit diversen Auffassungen als auch in Relation zur Einzelmeinung. Das sind seit Langem bestätigte Erkenntnisse, analog zu Motiven und Dynamik im Rahmen von Group think und Meinungsbestätigung sowie der Erkenntnis, dass Menschen die Profilierung nach innen suchen, einhergehend mit einer Radikalisierung der Gruppenposition und einer höheren Bereitschaft, in Gruppen waghalsiger zu handeln, als wären sie allein in der Vertretung und Verantwortung.
In familientherapeutischen Settings wirken diese Mechanismen bekanntermaßen vorzugsweise, wenn sich die Gruppe gegen den Therapeuten wendet. Polarisierung in psychotherapeutischen Kontexten zu instrumentalisieren, ist bereits aus den genannten und aus folgenden weiteren Gründen äußerst heikel. Zu diesen weiteren Gründen zählt, dass etwa in familiären Konfliktkonstellationen eine polarisierte Sichtweise bereits vorherrscht – selten rationalargumentativ, sondern moralisch-emotional vorgetragen.
Die Suche nach Schuld(igen) dominiert ebenso wie das Täter-Opfer-Spiel. Hier noch zu polarisieren und damit zu eskalieren, ist als Mittel der Wahl weniger effektiv als Bemühungen, die Austauschebene hin zu Einsicht und Verstehen zu wechseln, um Zuhören, Perspektivwechsel, Empathie und Konzilianz auf dem Weg zu Verständigung zu ermöglichen.
Familientherapeuten erleben oft, dass sich die Konfliktgegner (die erst zu Partnern werden können) gegen den Therapeuten verbünden: wir gegen ihn. Dieses Szenario begünstigt unter anderem die Radikalisierung der Verteidigungstaktiken, weil das „Wir gegen ihn“ das Gefühl der Kohäsion fördert und suggeriert, dass bei einem selbst, in der eigenen Gruppe, alles im Lot ist. Diese Verdrängung oder Übertünchung kann so lange aufrechterhalten werden, wie es dem Therapeuten nicht gelingt, das Verschiedene in der Gruppe erkennbar zu machen und dies als etwas Positives für Einzelne und die Gruppe erkennen und erleben zu lassen. Um dies zu erreichen, eignet sich Polarisierung bestenfalls dann, wenn man das Konzept der provokativen Therapie (Farelly) oder das Mittel der Pointierung und Überzeichnung beherrscht, wie es Milton H. Erickson praktizierte.
Der Ausruf: „Es lebe der Widerspruch“ (Sebastian Herrmann a.a.O.) oder die Aussicht, durch Polarisierung „Schlauer im Streit“ (Sibylle Anderl) zu werden, ist also an spezifische individuelle und kollektive Voraussetzungen auf der Konfliktgruppenseite gebunden, an Variablen des Konfliktkontextes, an Konstellationen und an Fertigkeiten von Therapeuten (auch Moderatoren, Mediatoren) wie einst – wenn auch auf Paare bezogen – die Erfolgsaussicht von Konfliktbehandlung mit der Verheißung: „Streiten verbindet“ von Bach und Wyden, ein Klassiker, der seit den 1960er-Jahren verlegt wird.
Literatur
- Anderl, Sibylle: Vorteile der Polarisierung? Schlauer im Streit, https://www.faz.net/aktuell/ wissen/polarisierte-gruppen-koennen-besonderserfolgreich-sein-16072376.html#void
- Bach, George Robert/Wyden, Peter: Streiten verbindet. Spielregeln für Liebe und Ehe. Fischer Verlag,1990
- Herrmann, Sebastian: Es lebe der Widerspruch. In: SZ, 11.3.2019, S. 16
- Farelly, Frank/Brandsma, Jeffrey M. et al: Provokative Therapie, Springer, 2009
- Höfner, E. Noni/Cordes, Charlotte: Einführung in den Provokativen Ansatz. Carl-Auer Verlag, 2018
- Höfner, E. Noni: Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind! Grundlagen und Fallbeispiele des Provokativen Stils,. Carl-Auer Verlag, 2016
- Mahlmann, Regina: Konflikte souverän managen. Konzepte, Maßnahmen, Voraussetzungen. Beltz Verlag, 2016
- Mahlmann, Regina: Was verstehst du unter Liebe? Ideale und Konflikte von der Frühromantik bis heute. WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 2003/2015
Dr. Regina Mahlmann
Beratung, Coaching, Schulung, Vorträge, Autorin, Dorfen bei München