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Der Mensch und seine Bedürfnisse - Teil 2

Die menschliche Natur verbindet alle Menschen als universelles Erbe. Sie erklärt unsere physische und psychische Funktionsweise und beschreibt die Grundbedürfnisse des Menschen. Ein gutes Modell stellt die Maslow`sche Bedürfnispyramide dar. Sie wurde von Abraham Harold Maslow entwickelt, einem US-amerikanischen Psychologen des 20. Jahrhunderts. Er gilt als der wichtigste Gründervater der Humanistischen Psychologie.

Der Mensch und seine Bedürfnisse
– Selbstverwirklichung – Individualbedürfnisse – soziale Bedürfnisse – Sicherheit und Schutz – physiologische Bedürfnisse

Die Selbstverwirklichung und die Individualität sind die Sahnehäubchen auf dem Kulturkuchen! Und Menschen können sich diesen erst leisten, wenn alle anderen Bedürfnisse gestillt sind und wenn die allgemeinen kulturellen Gegebenheiten diesen auch zulassen. Denn Kultur als Ergebnis eines Prozesses ist immer auch ein „Arbeitsergebnis“. Es wird ein Ergebnis erzielt, das nicht vererbbar ist, sondern immer wieder neu gelernt werden muss. Wenn wir also mit Patienten oder Klienten arbeiten, ist eine Anamnese wichtig. Meist nehmen wir Daten auf, Name, Alter, Beschwerden, Probleme. Abgleich mit medizinischen Diagnosen, Therapien und Medikation erfolgt. Eher selten gehen wir in das gesamte soziale und normative Setting hinein. Und das ist misslich. Denn so, wie ich mit einer Spinne keinen Vertrag zum gegenseitigen Wohlverhalten im Badezimmer schließen kann, weil wir völlig unterschiedliche Wesen mit unterschiedlichen Grundbedürfnissen, Instinkten und Reaktionen sind, so unterscheiden auch wir Menschen uns.

Bindungen, Beziehungen, das Gefühl für Verantwortung – auch dem Nächsten gegenüber – werden nicht nur entsprechend unserer Biologie, Genetik, Konditionierung im Kindesalter geprägt, sondern eben auch von Erfahrungen, Erlebnissen (Krieg, Heimatlosigkeit, Vertreibung, Missbrauch) und auch der persönlichen sozialen und emotionalen Stellung.

Mit anderen Worten: Verantwortung bedeutet mir etwas anderes, wenn ich um mein Überleben kämpfen muss – oder Zeit meines Lebens meistens musste – als wenn ich satt bin und mich nur um meine Individualbedürfnisse oder gar meine Selbstverwirklichung kümmern kann.

Das normenbildende Wertesystem hingegen ist der Kern einer jeden Kultur
Werte hingegen sind abstrakt. Sie sind Ideale, gleichzusetzen mit Prioritäten. Sie sind die dauerhaftesten Bestandteile eines jeden kulturellen Systems. Werte bilden den Kern einer jeden kulturellen Zwiebel. Sie sind tief in der Zwiebel verborgen, befinden sich im Eisbergmodell in aller Regel unterhalb der Wasseroberfläche und sind somit für Außenstehende schwer zu erkennen. Werte begründen Polarisierung von Verhaltensmustern; sie dienen der Orientierung des Einzelnen im System, seiner Gesellschaft. Hier im Kern der Zwiebel wird somit auch festgelegt, was gut und böse ist, schön oder hässlich, richtig oder falsch, logisch oder dumm ...

Dieses Wertesystem wird nicht vererbt, aber die Konditionierung des Menschen in Bezug auf sein grundsätzliches Wertesystem erfolgt in frühester Kindheit, in seinem ganz speziellen Kulturraum.

Die diesem innewohnenden Werte werden deshalb als „normal“ und „richtig“ betrachtet und nicht infrage gestellt, wenn es nicht unbedingt sein muss. Und mit diesem spezifischen Wertesystem betrachtet jeder Mensch seine Umwelt und handelt entsprechend.

Wenn also Patienten zu uns kommen mit Problemen, die mit Bindung und Beziehung und Verantwortung verknüpft sind, tun sie dies – nicht nur, aber auch – unter dem für sie gültigen Werte- und Normenkomplex. Das müssen wir wissen, sonst können wir nicht helfen.

Die meisten Menschen auf diesem Planeten leben in Gesellschaftsformen, die eher normativ geprägt sind. Man kennt, man erkennt sich an den eigenen Handlungen, dem Verhalten. Die Konsequenzen, die sich aus abweichendem Verhalten ergeben, also aus der Sicht der jeweiligen Gesellschaft unverantwortlichem Handeln, sind in der Regel bekannt.

In unserer Gesellschaft leben wir derzeit in einem großen Spannungsfeld. Der überwiegende Teil der Bevölkerung glaubt an ein noch als Norm angesehenes Werteverständnis, selbst wenn es von einem großen Teil der Menschen gar nicht mehr so gelebt wird, insbesondere von der Jugend. Zunehmend kreisen heute viele Gedanken um individuelle Ansprüche an das Leben.

Quality time und Work-Life-Balance
sind angesagte Schlagworte. Sie beinhalten den Gedanken, dass wir Menschen nicht mehr leben, um zu arbeiten, sondern – endlich – arbeiten, um zu leben. Allesamt leben wir, selbst die materiell ärmeren Menschen, im Vergleich zu den meisten Menschen weltweit, auf dem Gipfel der Bedürfnispyramide: Selbstverwirklichung steht im Vordergrund. Gleichzeitig erleben wir gesellschaftliche Ver-änderungen, einen gesellschaftlichen Wandel – und ökonomische Unsicherheit. Das macht durchaus Angst.

Aber zur Angst kommen wir noch. Zunächst einmal bleiben wir beim Thema Verantwortung.

Im ersten Teil des Artikels, bei der Definition der Begriffe Bindung und Beziehung, erwähnte ich den in der Psychologie oft

erwähnten Ansatz der Bindungsunfähigkeit aufgrund der gesellschaftlichen Wandlungen: Die Menschen wollen nicht mehr füreinander einstehen, wollen keine Verantwortung für sich und andere übernehmen. Quasi narzisstisch kreisen wir nur noch um uns selbst. Ist das so?

Wie schon gesagt, wir leben in einem Spannungsfeld von Möglichkeiten, unterschiedlichen Wahrnehmungen und dem Gefühl, dass wir glücklich und zufrieden zu sein haben. Verantwortung zu übernehmen für was auch immer, fällt schwerer. Wenn Radler auf Gehwegen fahren, keine Ampel mehr kennen – sie müssten ja sonst bremsen und wieder neu starten, somit also eine Einbuße an Zeit und Qualität hinnehmen, dann handeln sie egoistisch und verantwortungslos, zumindest in den Augen vieler Menschen in unserer Gesellschaft – aber längst nicht mehr aller. Rücksichtnahme, Verantwortung übernehmen für die eigenen Taten, für andere Menschen allgemein, besonders aber für „den einen“ anderen Menschen erscheint anstrengend. Ja, das sind durchaus Gründe in unserer Gesellschaft, warum sich viele Menschen weigern, Verantwortung zu übernehmen. Zumindest „noch nicht jetzt“, „später vielleicht“. Andererseits wandeln sich im Laufe gesellschaftlicher Entwicklungen auch Normen und Wertevorstellungen und die Einstellung zu Verantwortung.


„Jeder von uns ist jederzeit für sein Leben verantwortlich.“ Aber da unser aller Leben eng miteinander verwoben ist, sind wir eben nicht nur, wie manche Esoteriker gern glauben machen, für uns selbst verantwortlich. In der Erzählung „Der kleine Prinz“ von Saint-Exupéry erfahren wir auf bezaubernde Weise, dass wir für alles verantwortlich sind, was wir uns vertraut gemacht haben. Tiefe Verbundenheit und auch Liebe werden nur möglich im Gewahrsein unserer wechselseitigen Verantwortung. Was immer ich tue oder nicht tue, hat auch Konsequenzen für dich. Auch dafür bin ich verantwortlich, weil es mich berührt und zu meiner Lebenswirklichkeit gehört, wie es dir geht – sogar dann, wenn ich versuche, mich davor zu schützen. Ich kann unsere Verbundenheit nicht aus der Welt schaffen, ich kann sie lediglich aus meinem Bewusstsein verbannen.


Verantwortung verschwindet nicht, wir verbannen sie lediglich oft, und dann meist nur in Teilen, aus unserem Bewusstsein, manchmal auch aus unserem Leben. Vielleicht aber müssen wir Verantwortung neu denken, neue Wege finden, auch neue Wege zu Bindungen und Beziehungen. Nicht alles ist pathologisch, was nicht in unsere jeweilige Vorstellung von Verantwortung und in der Folge in unsere Vorstellung von Bindungen und Beziehungen passt. Ich möchte noch einen Aspekt aufgreifen, der immer wieder wichtig wird, wenn es um Bindungs- und/oder Beziehungsfähigkeit geht:

Die Heimatlosigkeit – am Beispiel Afghanistan

Jahrzehnte der Islamisierung, Kriege der Volksstämme untereinander und wegen des „rechten“ Glaubens sowieso, in der die weibliche Hälfte der Bevölkerung die meiste Zeit unter Schleiern versteckt nahezu rechtlos um ihr Überleben kämpfen muss. Bindungen und Beziehungen haben in dieser Gesellschaft eine andere Bedeutung als in unserer. Zudem hat der Überlebenskampf seine eigenen Gesetze. Wenn wie in diesen Tagen junge Menschen, oft Männer, ohne feste Bindungen und Beziehungen, auf der Flucht, vertrieben, auf der Suche nach ... was auch immer ... zwar mit den Normen und Werten ihrer Kultur behaftet sind, aber ohne Chance, diese zu leben, dann sind sie innerlich und äußerlich heimatlos.

Kommen sie nun in ein Land wie das unsere, müssen sie sich irgendwie zurechtfinden. Sie haben auch eine Sehnsucht nach Beziehungen, nach Bindungen. Aber sind sie dazu fähig? Und wenn ja, wie sehen ihre emotionalen und psychischen Möglichkeiten überhaupt aus? Ihre Wertevorstellungen? Ihre Normen? In Zeiten von Unsicherheit und Angst?
Angst
Angst als Gefühl ist eine normale Reaktion auf Gefahr. Fight or flight (oder Totstellen wie ein Igel) hilft uns, Gefahr zu erkennen, sie auszuschalten oder ihr zu entkommen. Angst als Störung, z. B. bei einer Angststörung, kann es unmöglich machen, Beziehungen einzugehen. Auch die Bindung an andere Menschen kann eingeschränkt sein. Bei einer echten Angststörung sind die Angstgefühle stark ausgeprägt und überschreiten das normale Maß.

Die ICD-10 sagt zur generalisierten Angststörung F 41.1: eine diffuse Angst mit Anspannung, Besorgnis und Befürchtungen über alltägliche Ereignisse und Probleme über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten, begleitet von weiteren psychischen und körperlichen Symptomen. Es gibt natürlich eine weitere Zahl an Störungen, die von Ängsten und Phobien begleitet sind. Die generalisierte Angststörung betrifft, so wird mittlerweile angenommen, rund 25 bis 30 % der Bevölkerung zumindest einmal in ihrem Leben. Und die Angststörungen nehmen zu. Sie gelten mittlerweile als die am häufigsten auftretende seelische Störungen. Warum das so ist, weiß man bislang nicht wirklich. Es gibt sehr viele Faktoren, die Ängste fördern. Auf jeden Fall tragen zur Steigerung von Ängsten bei:

– zu viele Informationen – Informationsflut
– Kriege, Epidemien, Katastrophen und das Hören darüber – Informationsflut – Gewalterfahrungen und das Hören darüber – Informationsflut
– traumatische Erlebnisse und das Hören darüber – Informationsflut – Krankheiten und die Möglichkeit, zu erkranken – wir werden immer älter! – Anspruchsdenken! Recht, nein geradezu Pflicht auf Erfolg – Versagensangst – Glück, Zufriedenheit und Akzeptanz des Möglichen reichen oft nicht. – Geld: meine Yacht, mein Haus, mein ... Druck – Schönheitsideale
– Freiheit, stets das tun zu dürfen, was man will – Unabhängigkeit vom Elternhaus, von Arbeitgebern und überhaupt – Zu viele Möglichkeiten zwingen uns zu zu vielen Entscheidungen.

– Laissez-faire-Erziehungsstile, Über- behütung von Kindern und das Fehlen von Verantwortungsmechanismen in der Erziehung fördern nicht nur Egois- mus und narzisstische Persönlichkeits- anteile, sie fördern auch Unsicherheit und Angst.

Bei Menschen mit einer ausgeprägten Angststörung bestehen zwar unter Umständen starke Bindungen an Eltern, Familie und Freunde. Feste Beziehungen hingegen einzugehen, mitsamt der Übernahme von Verantwortung und Konsequenzen, machen entweder Angst oder werden als nicht nötig oder gar behindernd angesehen, und zwar in Bezug auf all die individualistischen und/oder von der Gesellschaft als Erfolgsmodell quasi geforderten Aspekte: Erfolg, Freiheit, Unabhängigkeit, Anspruchsdenken.

So hängen Bindungsfähigkeit, Beziehungsfähigkeit, Verantwortung und Ängste eng miteinander zusammen.
Noch einmal zu Balou, meinem „Assistenzhund“. Studien haben ergeben, dass die meisten Befragten zwar angeben, dass sich Haustier und Kind nicht ausschließen, doch wenn sie sich entscheiden müssten, würde sich die Mehrheit – 60 % der Befragten – für einen Hund oder eine Katze entscheiden und nicht für ein Kind.

Einer der Teilnehmer des damaligen Symposiums in Hamburg beugte sich zu Balou nieder, redete mit ihm und streichelte ihn hingebungsvoll.

Ich sprach aus, was alle sahen: „Und hier haben wir ein feines Beispiel für eine spontane Bindungsfähigkeit. Wären Sie jetzt auch bereit für eine Beziehung mit dem Hund, also würden Sie ihn nehmen?“ Natürlich lehnte der Mann ab. Was mich natürlich freute; denn selbstverständlich hätte ich den Hund niemals hergegeben. Bindung, Beziehung, Verantwortung – am praktischen Beispiel aufgezeigt. Deshalb war der Hund ja dabei.

Schnell noch einige positive Zahlen zu den menschlichen Beziehungen:
– Es werden in Deutschland wieder mehr Kinder geboren – mehr Ehen geschlossen
– die Scheidungsrate sinkt, Durchschnitt- lich hält eine Ehe heute 15,1 Jahre.

Im Mittelalter lag diese Quote viel niedriger, was schon daran lag, dass die durchschnittliche Lebenserwartung zeitweise nur bei 35 bis 40 Jahren lag. Hinzu kommt, dass es zu bestimmten Zeiten unterschiedliche Eheformen gab und selten aus Liebe geheiratet wurde. Der Fokus lag auf sozialer und wirtschaftlicher Verantwortung.

Und zum zusammenfassenden Abschluss eine Geschichte

Eine Frau erzählte mir von ihren Ängsten – vor Bindungen an und Beziehungen zu Männern. Seit ihrer Jugend hatte sie immer wieder Partner, darunter einen Ehemann, die sie entweder ausgenutzt oder sie mit Worten misshandelt hatten; einer, in ihrer Jugend, hatte sogar die Hand gegen sie erhoben. Trotzdem war sie ihm damals hinterhergelaufen.


Dem Ehemann viele Jahre später hatte sie wieder und wieder die Hand gereicht, Wege für ein Zusammenleben gesucht. So stark, das hatte sie mir erzählt, war die Sehnsucht nach Liebe und Nähe und einer Bindung, die jede Beziehung würde stützen können. Vergebens.

Später, nachdem sie diese Ehe beendet hatte, vermied sie über Jahre eine feste Beziehung. „Bloß kein Mann mehr, das bringt nur Kummer und Probleme. Die sind nicht beziehungsfähig.“ Sie hatte schlicht Angst. Nur vor wem oder was? Auf der Suche nach Antworten fand sie heraus, dass sie ihr Leben lang von dem Gefühl begleitet worden war, nicht gut genug zu sein, nicht genug getan zu haben, nicht ... was auch immer.

Sie lernte sich im Laufe der Jahre und über einige Therapien und Beratungsgespräche hinweg selber kennen und weiß heute, wo ihre Schwachstellen sind. Sie sagte mir unlängst: „Diese kann ich nicht überwinden, sie tauchen immer wieder auf. Aber ich habe gelernt, mit ihnen umzugehen. Die Männer, mit denen ich zu tun hatte, haben in der Tat zu 100 % Verantwortung dafür, dass sie mich schlecht behandelt haben. Ich allerdings trage auch zu 100 % Verantwortung dafür, wie ich handele und wie ich mich behandeln lasse.“

Es ist dies ein relativ neuer Ansatz, mit der eigenen Verantwortung umzugehen, diese nicht durch Schuldzuweisungen an „den anderen“ zu minimieren, sondern sie vollumfänglich für sich zu übernehmen. Für die von mir beschriebene Frau hatte diese Herangehensweise an ihre Erlebnisse und Ängste den Vorteil, dass sie die Männer, die sie im Laufe ihres Lebens so schlecht behandelt hatten, als das sehen und abschreiben konnte, was sie waren. Sie konnte diese also beiseiteschieben und sich auf sich, ihre Ängste, ihre Bindungs- und Beziehungsmuster konzentrieren und neue Wege finden.


Sie, so erzählte sie, hat sich unmittelbar nach ihrer Therapie verliebt – in einen kleinen Hund aus dem Tierheim. „Ich sah ihn, er sah mich: Da war sofort eine Bindung, die Beziehung entwickelte sich jedoch langsam und hält nun schon seit fünf Jahren. Und ja, ein Mann ist auch wieder in meinem Leben, schön langsam und in dem Bewusstsein, dass eine Bindung zu jemandem zu entwickeln nicht heißt, sich in einer Beziehung zu verlieren. Die Beziehung definiere ich.

Carola Seeler Heilpraktikerin für Psychotherapie, zertifizierte Psychologische Beraterin (VFP), Trainerin, Coach, Buchautorin
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