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Leben lernen im Schatten eines Toten Das unterschätzte Leid der Ersatzkinde

„Ich darf nur leben, weil du sterben musstest.“ Wie prägt solch ein Gedanke die Entwicklung und das weitere Leben? Über Überlebensschuld, Selbstzweifel und das Finden der eigenen Identität

Werde ich nach meinem verstorbenen Bruder befragt, komme ich mir vor wie eine Betrügerin. Auch wenn ich die Wahrheit sage. Nichts davon fühlt sich richtig an. Im Frühjahr 1970 lief Jörg in ein Auto und erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma. Die Ärzte kämpften um sein Leben. Doch der Zehnjährige erwachte nicht mehr aus dem Koma und nach einigen Monaten wurde die Herz-Lungen-Maschine abgestellt. Vermutlich im Herbst. Im Januar 1974 kam ich zur Welt. Mutter wünschte sich einen Jungen. Ich wurde ein Mädchen. Mehr weiß ich nicht.

Wann war Jörgs genauer Todestag, was war passiert, wie war der Alltag mit ihm gewesen, wie sah das Leben ohne ihn aus? Meine Eltern und Verwandten behielten ihre Erinnerungen für sich. Als Geheimnis einer Familie, zu der ich nie ganz gehörte. Stattdessen blieb Jörg ein Teil von ihr. Auf einem schwarz gerahmten Foto, mit strahlenden Augen und einem breiten Lachen.

Er lachte, wenn meine Eltern sich anschwiegen. Er lachte, wenn Mutter seufzte und mir mit ausgestrecktem Arm über den Kopf strich. Wenn sie mir die Locken auskämmte und die Haare schnitt, bis sie so glatt und kurz waren wie seine.

Ich mochte ihn nicht.

Rund 9 000 Kinder und Jugendliche unter 25 Jahren starben nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2022 in Deutschland oder wurden tot geboren. Im Jahr darauf kamen 693 000 Kinder zur Welt. Jedes 78. von ihnen könnte mit dem Wunsch gezeugt worden sein, Schmerz zu lindern. Doch darüber sagen Statistiken nichts aus.

Der Wunsch der Eltern, den Tod eines Kindes durch die Geburt eines weiteren zu überwinden, sei keine Seltenheit, erklärt Psychoanalytikerin Kristina Schellinski. Sie ist die international führende Expertin für die Erforschung und Behandlung des Ersatzkindsyndroms.

Im Jahr 2019 schrieb Schellinski das Buch „Individuation for Adult Replacement Children“, das erstmalig unter Psychotherapeuten und -analytikern verstärkt Aufmerksamkeit für das Thema weckte. Es handelt auch von ihrem eigenen Schicksal. „Noch immer empfehlen manche Ärzte die rasche Geburt eines weiteren Kindes“, schildert sie ihre Erfahrung. „Doch wird die Geburt des Kindes mit dem Wunsch verbunden, den Verlust ungeschehen zu machen, besteht die Gefahr, dass die Eltern versuchen, das tote Kind weiterexistieren zu lassen. Der neue Mensch soll einen Verstorbenen ersetzen. Perfektionismus und Verwirrung über die eigene Identität, Schuld und Angst, Trauer und Scham sind oft lebenslange Folgen.“

Schellinski erforscht die Psyche von Ersatzkindern seit zwei Jahrzehnten. Der nicht betrauerte Verlust eines Familienmitglieds wirke sich bereits im Mutterleib aus, erklärt sie. Das Ungeborene spüre die Emotionen der Mutter. Diese sei oft dem Leben abgewandt und selbst nicht mehr in der Lage, eine sichere Bindung zu ihrem Kind aufzubauen. Auf der anderen Seite behüte sie es über und schränke es in seiner Entwicklung ein. Aus Angst vor einem erneuten Verlust.

Es sei nicht ungewöhnlich, dass das verstorbene Kind zudem überhöht würde, bestätigt auch die amerikanische Autorin Rita J. Battat. Sie und ihre Kollegin Abigail Brenner sammelten Überlieferungen und Erfahrungsberichte von unzähligen Ersatzkindern aus Vergangenheit und Gegenwart. Vor allem nach Todesfällen, bei denen kein Abschied möglich war, mischten sich oft Schuldgefühle und unbewusste Wut in die Erinnerung. Das abwesende Kind würde so noch mehr idealisiert. In der Vorstellung der Eltern hätte jenes all ihre Erwartungen erfüllt.

Das reale Kind hingegen hat seine eigenen Bedürfnisse. Es enttäuscht – weil es lebt. Wütend und verunsichert versuchte ich, mit Jörg mitzuhalten. Klassenbester wäre er gewesen, sagten sie. Sportlich. Hilfsbereit. Bei allen beliebt. Er hätte nie widersprochen. Bis er bei Rot über eine Kreuzung ging. Bis zu meinem zehnten Lebensjahr durfte ich stärker befahrene Straßen nicht allein überqueren. Klassenkameraden spotteten, Mutter weinte, wenn ich rebellierte. Ich drehte Jörgs Foto mit dem Gesicht zur Wand. Mutter schrie auf, dann blieb sie lange stumm. Als sie wieder mit mir sprach, meinte sie, ich solle meinem Bruder dankbar sein. Nur seinetwegen gäbe es mich. An den Wochenenden traf ich mich nicht mit Freundinnen, sondern begleitete meine Eltern auf den Friedhof. Sobald wir bei den Gräbern ankamen, wurde Mutter bleich und schob mich zur Seite. Ich versuchte, mich nützlich zu machen. Still kratzte ich das Moos aus der Inschrift des Grabsteins. Unter den Buchstaben war Platz für weitere Namen.

Warum das Grab größer als alle anderen wäre, fragte ich Vater. Seine Antwort war kurz und sachlich: „Wenn die Mutti und ich sterben, legen wir uns zu Jörg.“

„Viele Ersatzkinder empfinden eine existenzielle Verlorenheit“, so Schellinski. „Die ungerechten Vergleiche wecken darüber hinaus Neid, Eifersucht und Wut auf das Geschwisterkind. Das wiederum führt zu zusätzlichen Schuldgefühlen gegenüber dem Toten.“ Dabei hätten nicht wenige Ersatzkinder ohnehin mit Überlebensschuld zu kämpfen. Gewissensbissen, die auch bei den Überlebenden des Holocaust, von Kriegen und Katastrophen beobachtet wurden. Auf die Frage, warum der Bruder oder die Schwester gestorben, man selbst jedoch am Leben ist, gibt es keine Antwort.

Bin ich wichtig? Darf ich da sein? Die Antworten sind nicht klar!

Elviskinderen. So werden Ersatzkinder in den Niederlanden genannt. Menschen wie der amerikanische Rockstar Elvis Presley, dessen Zwillingsbruder tot geboren wurde. Und auch der holländische Psychotherapeut Ard Nieuwenbroek. Seiner Meinung nach bestehe das große Leid von Ersatzkindern in der grundlegenden Unsicherheit, ob sie eigentlich existieren dürfen:

„Die Selbstvalidierung ist in meinen Augen sehr gefährdet. Bei unserer Beratung geht es um Anerkennung und Bestätigung. Letztendlich geht es darum, das Unrecht zu heilen, das einem Ersatzkind angetan wurde. Das Unrecht, ein Ersatzkind zu sein, aber auch das Unrecht, das den Eltern angetan wurde. Hier möchte ich Ersatzkindern den Rat geben: Machen Sie sich klar, in welcher Lage Sie waren. Sie haben Aufgaben bekommen, die nicht für Sie bestimmt waren.“

Am 30. November 2023 rief Nieuwenbroek das weltweit erste Ersatzkinder-Symposium mit Experten und Betroffenen ins Leben.

„Das Thema trifft auf eine unglaublich große Resonanz“, berichtet er. „Ich glaube, wir haben einen Deckel von einem Brunnen genommen. Es gibt eine enorme Nachfrage, auch von Therapeuten, sich in diesem Bereich weiterzubilden. Und ich erwarte, dass dies in Zukunft noch zunehmen wird. Es wird ein großes Netzwerk geben. Daran wollen wir arbeiten, auch international.“
Nie wieder ein Kind? Das können trauernde Eltern tun.
Nicht jedes Kind, das im Anschluss an den Tod eines Familienmitglieds geboren wird, muss sich den Problemen eines Ersatzkindes ausgesetzt sehen.

„Über weite Strecken meines Lebens wusste ich nicht,

wer ich war –

solange ich nicht dem Bild gerecht wurde,

das man sich von mir gemacht hatte.“

Kristina Schellinski

 

Ausschlaggebend sei, betont Battat, dass die Eltern den Verlust des verstorbenen Kindes betrauerten und das neue bewusst in seiner Individualität annähmen. „Es geht um Gewahrsein. Ich würde den Eltern nur raten, sich viel Unterstützung zu suchen, vorzugsweise eine gute professionelle, wenn sie eine weitere Schwangerschaft durchmachen. Sie müssen sich auf emotionaler Ebene darüber im Klaren sein, dass es sich um ein völlig neues Individuum handeln wird“, erklärt die Expertin.

Wenn nachfolgende Kinder weitestgehend unbelastet von den Hoffnungen und Wünschen, die die Eltern mit dem verstorbenen Kind verbanden, aufwachsen können, so haben sie die Möglichkeit, in der Kindheit und Jugend auf natürliche Weise eine Lebensaufgabe zu bewältigen, die Ersatzkindern oft schwerfällt: die Entwicklung ihrer eigenen Persönlichkeit.

Die verborgene Identität: Auf der Suche nach dem Selbst.

In vielen Therapien wird das Leiden der Ersatzkinder mit einer Persönlichkeitsstörung, einer Depression oder einer psychotischen Episode verwechselt. Dennoch sei der Zustand eines Menschen mit solch einer Biografie keine Krankheit, so Schellinski. Vielmehr handele es sich um die Folge der Anpassung, die dem Kind abverlangt wurde. Doch es sei in jedem Alter möglich, Schritt für Schritt zur eigenen, unverwechselbaren Einzigartigkeit zu finden. Zu all den Bedürfnissen, Zielen und Gefühlen, die unterdrückt werden mussten, um dem Bild des idealisierten Anderen zu entsprechen. Zum Selbst. Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung bezeichnete dies als den „Weg der Individuation“. Er selbst war geboren worden, nachdem seine Mutter drei Kinder verloren hatte. Um sich selbst zu verwirklichen, müsse das Ersatzkind alles loslassen, was es nicht ist, meint Battat dazu. So lerne es, sich gesund vom verstorbenen Kind und den mit ihm verbundenen Erwartungen abzugrenzen. Dann hätte es die Chance, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen.

„Malen Sie!“ Schellinski ermutigt ihre Klienten dazu, sich kreativ auszudrücken, um das Unbewusste sichtbar werden zu lassen. Hier läge der unverfälschte Kern der Persönlichkeit. Warte darauf, sich zu zeigen. Und dränge an die Oberfläche. Ein Leben lang.


Das Gefühl, nirgends willkommen und im Ganzen falsch zu sein, hatte mich jahrzehntelang durch verschiedene Psychotherapien geführt, bis ich mit 49 Jahren zum ersten Mal vom Ersatzkindsyndrom hörte. Schwere Depressionen, eine bipolare Störung, auch Borderline gehörte zu den insgesamt fünf Diagnosen, von denen keine wirklich zu passen schien. Dann las ich Schellinskis Buch. Nahm Kontakt zu ihr auf.

Endlich zu wissen, warum ich so bin, wie ich bin, ist eine Erleichterung. Das Wissen, dass es eine Lösung gibt, die in mir selbst liegt.

Heute kann ich Jörg als den sehen, der er immer war: ein kleiner Junge mit Stärken und Schwächen, Träumen und Flausen im Kopf. Mit einem hübschen Lachen. Ich kann Bedauern für sein Schicksal empfinden. Und ihn dann loslassen, um mich meinem eigenen Leben zuzuwenden.

Ich lese, was immer ich zu dem Thema finden kann, schreibe Träume und Gedanken auf. Tausche mich aus. Erforsche das, was aus dem Unbewussten drängt.

Ich bin auf dem Weg. Um eines Tages sagen zu können: Das ist es, was ich vom Leben möchte. Dies ist die Frau, die ich wirklich bin. Und sie ist gut genug.

 

Individuation:

„Das Privileg des Lebens besteht darin, der zu werden, der man wirklich ist.“

Frances Dahlenburg Journalistin, angehende Traumafachberaterin (ALH), VFP-Mitglied. Ihr Herz schlägt für Menschen und deren einzigartige Lebensgeschichten. Dies ist ihre eigene.
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