Zum Hauptinhalt springen

Teil 3: Short Cuts im Umkreis psychotherapeutischer intervention

Alles nur psycho...logisch?

Short Cuts – gemeint sind kurze Überlegungen und Assoziationen, pointiert, essayistisch, provokativ. Zuweilen hilft es, über die Landschaft zu fliegen, den Blick umherschweifen zu lassen und zu entdecken, was zu Fuß verborgen bleibt. Das gilt auch für die eigene therapeutische Tätigkeit. Die Short Cuts laden Sie zu einem Flug im Helikopter ein und vielleicht werden Sie Interessantes entdecken, das Sie in Ihrem Denken und therapeutischen Handeln fruchtbar machen möchten.

Was nun? Nach all den kritischen Überlegungen der ersten beiden Teile dieses Artikels stellt sich die Frage: Doch was nun? Wie anders?

Die Short Cuts dazu beziehen sich auf die drei genannten Trends und starten mit jenem, dem alle therapeutische Intervention vorgelagert ist: dem eigenen Mindset.

Wie anders vor dem therapeutischen Setting?

Therapeuten haben gelernt, zu dissoziieren, sich vom unmittelbaren Erleben in einer Weise zu distanzieren, die sie befähigt, die persönliche mentale Bahnung, das Fundament oder die Landkarte zum Gegenstand selbstkritischer Betrachtung und Analyse zu machen.

Die kognitive und psychische Landkarte zu erkunden, meint das Nachdenken über jene fachlichen, welt-, lebensanschaulichen, normativen Annahmen sowie persönliche emotionale Charakteristika, die die persönliche Praxis prägen.

Weder Überprüfung noch Infragestellung noch Alternativsuche ist selbst für Professionelle trivial; denn es sind in hohem Maße Überzeugungen und Vorlieben, denen ein maßgeblich identifikatorischer Stellenwert zukommt. Das gesamte Selbstbild oder Selbstkonzept ist berührt. Menschen, auch Profis, fällt es insbesondere schwer, zuzugestehen, etwas aus bestimmten Gründen ändern zu wollen/sollen und dies an tragenden Säulen zu tun. Therapeuten indes verfügen über psychologisches Wissen und kennen Techniken der „Selbstüberlistung“, die ihnen die Aufgabe, die ihnen aus professionellen Gründen obliegt, erleichtern. Einige Anregungen mögen ermuntern, sich auf den Weg zu machen.

Therapeuten können mit dem Gedanken des „Als-ob“ arbeiten, des „Angenommen, dass ...“. 

Sie können einen anderen „Hut“ aufsetzen, in eine neue Identität schlüpfen, einen Charakter einnehmen, einen Typus oder schlicht eine Rolle.

In allen Fällen schlüpfen sie aus Gewohntem heraus in Neues. Das kann eine Überzeugung, ein Handeln, eine Kernidentität sein. Therapeuten können imaginativ oder performativ mit anderen Personen/Darstellern eine Theaterbühne mit Charakteren bevölkern, deren Aufgabe es ist, das bisherige eigene Tun radikal zu kritisieren und zu provozieren.

Auch die Orientierung an ein Bonmot von Friedrich Nietzsche kann mobilisieren, der schrieb: „Jeden Tag einen neuen Gedanken!“ Therapeuten können mit einem Sparringspartner arbeiten bzw. in einer Gruppe mit Rollenverteilung. In diesen Szenarien sind die genannten inneren Dialoge und Kontroversen mit anderen aufführbar. Außerdem besteht die Möglichkeit, in Kollegenforen zu debattieren. Damit eine Debatte in Gang gesetzt wird, sind Kontrahenten nötig. Sollten diese nicht anwesend sein, können verschiedene „Hüte“, Rollen/Funktionen vergeben werden, insbesondere die des Advocatus Diaboli.

Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Spielerisches als Erkenntnis und Eingeständnis förderndes Moment kann inszeniert werden, etwa in Bühnenstücken, die therapeutisches Handeln gleichsam als absurd, komisch, radikal entgegen dem Üblichen, Bekannten aufführen.

Beim Aufwühlen, Prüfen, Infragestellen empfiehlt es sich, die Frage nach der Funktion und, soweit nötig, die Suche nach funktionalen Äquivalenten mitlaufen zu lassen. Denn auch für Therapeuten gilt: Was uns eminent wichtig ist, geben wir nicht auf. Es kann indes sein, dass wir dasselbe auf anderen Wegen erreichen.

An diese Phase schließt sich jene an, in der Antworten formuliert werden. Sofern diese auf Veränderung zielen, besteht die Aufgabe darin, sie zu integrieren. Je umfassender Veränderungsabsichten ausfallen, desto mehr hilft es, das weitere Vorgehen als iterativen Prozess zu begreifen: als ein Lernen – Probieren/Auswerten/Anwenden –, das Erfahrungen in jede neue Feedback-, Lern-, Anwendungsschleife einbaut.
Wie anders im therapeutischen Setting?
Die folgenden Short Cuts konzentrieren sich auf die Frage, inwiefern der Fokus auf das „Ich“ gemildert bzw. aufgegeben werden könnte: im Dienst der Entlastung des Einzelnen als Hort von Problem und Lösung und damit des Aufzeigens Leid vermindernder Optionen, die nicht (primär, maßgeblich) psycho... logisch verortet werden. Die kurzen Überlegungen verbleiben im Raum gängiger psychotherapeutisch praktikabler Intervention, transzendieren ihn also nicht etwa hinein in philosophische, esoterische, kulturell fremde Räume. Daher liefern sie nichts genuin Neues oder Revolutionäres. Doch fordern sie zu einem – in einem Fall radikal – veränderten Denken auf und formulieren Anregungen im Umkreis psychotherapeutischer Praktiken, die noch immer eher selten, weil aufwendig, angewandt werden.


Innerhalb dieses Rahmens bieten sich zwei eingängige Formeln an: „Weniger von X und mehr von Y“ sowie: „Anders als bisher“. Die Formeln verweisen auf zwei Optionen, die ich – grob gefasst – als „Kompromiss“ und als „Paradigmen“- bzw. „Fokuswechsel“ bezeichne. Kompromiss: weniger von X und mehr von Y

Die Kompromissformel vereinigt die auf den Klienten zentrierte Denk- und Interventionspraxis mit einer Erweiterung in die Lebenswelt des Hilfesuchenden.

Die Formel erfasst die Person als Ausgangsund Endpunkt und bezieht gleichzeitig außerindividuelle Variablen und den damit verbundenen Respekt vor Grenzen individueller Zurechen- und Leistbarkeit ein.

 

Der Kompromiss rückt das Externale als das wenig bis nicht Beeinflussbare in den Vordergrund. Dies eröffnet programmatisch die Option des Sowohl-als-auch – und auf diesem Weg die Möglichkeit, Klienten für ein Sicharrangieren zu öffnen, auch mit jenen Gedanken, Gefühlen, Widerfahrnissen, die sie psychisch belasten.

Die Formel ermutigt zu einem Weniger an ich-bezogener Psycho-Logik und einem Mehr an Sozio-Logik, zu einem Weniger an Mitfühlen und einem Mehr an Mit- und Durchdenken, zu einem Weniger an Emotion und zu einem Mehr an Kognition/ Rationalität.

Diese Schwerpunktverschiebung erweitert den therapeutischen Rahmen, innerhalb dessen der Therapeut Dinge erklären kann und somit dem Klienten ermöglicht, zu verstehen (gedanklich nachzuvollziehen), was ihm bisher eher fern lag. Das Verstehen wiederum eröffnet dem Klienten Optionen des Annehmens bzw. Sicharrangierens, die vorher unbedacht blieben oder gar für ihn unannehmbar schienen.

Die Formel nimmt Grenzen subjektiver Leistbarkeit programmatisch in den Blick. Etwa können sich Erkenntnisse aus Neurobiologie und -psychologie als nützlich erweisen. Sie thematisieren biologische (genetische, epigenetische, hormonelle, Neurotransmitter bezogene) Dispositionen, epigenetische Effekte, Wirkzusammenhänge von Physis und Psyche und Konsequenzen für Fühlen, Denken, Handeln einer Person. (s. Bücher von Gerhard Roth).

Wählt therapeutische Intervention den Pfad des Weniger von X und Mehr von Y, hilft sie dem Klienten, primär oder zumindest verstärkt denkerisch und zunächst emotional möglichst neutral bzw. distanziert Motivquellen für seelisches Leiden im Verbund mit eigenen Haltungen und Hoffnungen zu überprüfen, die im Bereich der Ansprüche an das eigene Leben (Lebensphilosophie) beheimatet sind. Im NLP (Neurolinguistischen Programmieren) wird vom „Realitätscheck“ gesprochen, und ihn zu deklinieren, kann klären, was man sich zutraut und sich selbst durch ein Einverständnis mit und Respekt vor eigenen Grenzen entlasten. Dies wiederum hat realisierbare Vorhaben zur Folge, folglich Erfolgs- und Freudeerlebnisse, die ihrerseits entlasten, gar „heilen“ – eine konstruktive Spirale.


Die Formel lädt dazu ein, in der therapeutischen Begleitung ein gemeinsames Nachdenken zu praktizieren, das den Gesprächshorizont thematisch und intellektuell erweitert. Die Individualseite rückt das Ausfächern von Lebensphilosophie und Weltanschauung, von Annahmen, was ein glückliches, zufriedenes, seelisch wohlgelittenes Leben beinhaltet, stärker in den Blick, und das außerindividuelle Moment bezieht alle jene für den Klienten bedeutsamen Variablen (Personen, Milieufacetten, Meinungstrends etc.) ein, die auf seine psychische Befindlichkeit merkbaren Einfluss haben. Der Klient könnte das von ihm Unabhängige und gleichwohl ihn (in unterschiedlichen Graden) Betreffende als eben dies erkennen und sich entscheiden, woran er sich anpassen möchte und woran nicht, was er als sozusagen innerpsychisches Problem betrachtet und was nicht, welche Änderungsoptionen er hat und nutzen möchte.

Die Verbindung von Psychowissen und Erkenntnissen aus anderen Wissenschaften, etwa Neurowissenschaften, Evolutionärer Psychologie, Soziologie ermöglicht Aspekte von Kulturisation und Sozialisation, unterstützt Bemühungen, den Fokus von reiner biografischer Psychogenese abzulenken und Leidlinderung axiomatisch und programmatisch psycho ... logisch zu zentrieren (folglich das Optionsrepertoire zu beschränken).

Exemplarisch seien Resilienzforschung und -empirie genannt, die in einem umfassenden Sinn ökologisch arbeiten. Dort findet man nützliche Annahmen und bewährte Praktiken, die außerindividuelle, mit dem Klienten eng wechselwirkende Personen, Institutionen und andere Parameter innerhalb konkreter Rahmenbedingungen berücksichtigen und einbeziehen, zuweilen so weit, dass keine psychotherapeutische Begleitung nötig ist (s. Arbeiten von und mit Rosemarie Welter-Enderlin). 

Doch selbst auf diesem Feld gibt es, in popularisierter Form, Abweichungen, die im Wind von Psychologisierung segeln. Das folgende Beispiel zeigt die Verkürzung. Ich habe es einem Flyer einer „Resilienz Akademie“ entnommen, die Trainings anbietet. In ihm findet der Leser Resilienz in „Arten“ gegliedert, die „Feelsets“ und „Skillsets“ zugeordnet werden und Resilienz als Aufgabe der Person betrachten: Selbstheilung, -stärkung, -wachstum als subjektiv und quasi-autark zu leistende und leistbare Aufgabe.

Vier Arten individueller Resilienz. Zu dem Resilienz-Feelset/-Skillset gehören:

Seele: Absorption Vertrauen und Ungewissheit. Schutzfaktoren: Sinn, Intuition, Spiritualität, Vision

Geist/Mental: Kognitive Flexibilität. Problemlösung/Lernen/Wachstum
Zu dem Mindset, Toolset gehören: Körper: Regulationsfähigkeit und Balance.
Regulations-Ebenen: Nerven-, Hormon-, Entgiftungs- und Immunsystem

Emotionen: Emotionale Flexibilität. Emotionswissen und -regulation.

Buchtipp: Immun. Gegen Problem, Stress und Krisen. GABAL 2019

Zusammenfassend zur Kompromissformel: Umgebungsfaktoren sind Wirkungsfaktoren, Einflüsse, denen ein Mensch mehr oder weniger ausgesetzt ist, sich ihnen nicht entziehen kann und insofern mit ihnen wechselwirkt.

Weniger psycho ...logisch und mehr soziologisch hält zwar an dem Subjekt als Ausgangs- und Endpunkt fest, speist indes Außerindividuelles in Anamnese, Diagnose, Behandlung ein, mit Konzentration auf jene Variablen, mit denen die Kopplung eng ausfällt, Wirkungsbeziehungen so gewichtet sind, dass sie die Person maßgeblich beeinflussen, und erweitert auf diese Weise den Interventionsraum.


Das scheint trivial und wird in therapeutischen Settings dennoch häufig vernachlässigt. Ein Denken in soziologischen, kulturellen Begriffen und mentalen Modellen gehört noch nicht zum Standard. Je heterogener die Herkunft von Klienten ausfällt, desto mehr drängt sich diese Erweiterung auf. Im therapeutischen Gespräch könnten gezielt Anliegen des Klienten diskursiv erschlossen werden, neben biografischen Daten seine mentalen Vorzeichen einbezogen und seine Wünsche realistisch mit dem abgeglichen werden, was er innerhalb seines Lebensmilieus leisten kann.

Außersubjektive Optionen grundsätzlich und praktisch vermehrt als Teil der Lösung zu betrachten, obliegt der folgenden Formel.

Paradigmen-, Fokuswechsel: anders als bisher

Die Formel „anders als bisher“ zielt, um den Titel dieses Beitrags aufzunehmen, auf die Kernthese: „Alles nicht nur psycho... logisch“.

Der Paradigmen- und Fokuswechsel und deren Niederschlag in psychotherapeutischen Angeboten ist zwar nicht neu, sondern in Systemischer Psychologie und Psychotherapie etabliert – aber noch kaum verbreitet. Unter dem Dach „systemisch“ wohnen verschiedene Varianten, die sich theoretisch und in praxi darin unterscheiden, wie strikt der personale Fokus verlassen und systemtheoretische Logik angewandt wird. Mein Augenmerk gilt der systemtheoretisch grundierten Variante. Die Grundlogik entstammt kybernetischer Theorie und Komplexitätsforschung und fand ihren Weg in Psychowissenschaften vor allem durch Öffnung zur Soziologie. Neben den Schulen im Rahmen Alternativer Psychologie ab den späten 1960er-Jahren (Ash/Geuter ...) trug insbesondere die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns dazu bei, in Psychologie und Psychotherapie System(theoret)isches Denken und Intervenieren einzuführen.

Dieser Zweig psychologischer Theorie und therapeutischer Praxis operiert mit einer Grundlogik, die von der Person bzw. Biografie fortführt. Es erstaunt daher nicht, dass man von einem gewissen Fremdeln seitens der Anwender in Psychodisziplinen sprechen kann. System-, differenztheoretisches Denken entführt in unvertraute Kategorien und eine technisch anmutende Sprache, wie die folgenden Begriffe zeigen: System und Systemumweltdifferenz, Systemgrenzen und Systemfunktionalität, funktionale Äquivalenz, Selbstreproduktion, Eigenlogik, Autopoiesis, Komplexität, Kommunikationscode, und der Mensch wird zum psychischen bzw. psycho-physischen System.


Systemische Psychologie/Psychotherapie
Der Containerbegriff Systemische Psychologie genießt in Fach- und Anwenderkreisen Attraktivität, weil der therapeutischen Anwendung Wirksamkeit bescheinigt wird. Daher die nun erweiterte Kassenzulassung. Einem Artikel von Stefan Beher (der Beitrag der Familien zum seelischen Gleichgewicht. FAZ, 23.1.2024) ist zu entnehmen, dass systemtherapeutische Behandlung, seit 2018 als Richtlinienverfahren für Erwachsene zugelassen, seit Januar dieses Jahres auch Kinder und Jugendliche umfasst (vom Gemeinen Bundesausschuss sozialrechtlich anerkannt).

Unter den verschiedenen Ansätzen, die insbesondere das familiale System einbeziehen, ragt eine Behandlungsmethode heraus, nämlich die das Relevanzsystem erweiternde multisystemische. Sie setzt auf das Einbeziehen von Personen, die außerhalb des familialen Systems eine herausragende Rolle für Symptombildung bzw. „Anpassungsleistung“ von Klienten stehen, etwa „Peers oder Bezugspersonen aus der Schule“ (ebd.). Diese Methode hat sich in den USA offenbar so gut bewährt, dass sie als „Best Practice“ gilt; bewährt hat sie sich ebenfalls, wie erwähnt, in der Resilienzförderung.

Da das Denken in systemtheoretischen/ systemischen Kategorien noch wenig vertraut ist, seien einige charakteristische Denkfiguren und Termini knapp skizziert. 

Wesentliche Charakteristika von Systemlogik

Grundsätzlich gilt, dass systemisches Denken nicht das Ich, das Fühlen und Denken, das Bewusste und Unbewusste des Klienten zentriert und „Ursachen“ für individuelle Probleme und Leid nicht innerhalb dieses personalen Systems als Fehlleistungen verortet, sondern für den Klienten relevante Systeme und funktionale (Wechsel-)Beziehungen betrachtet und sein Verhalten als rationale, zweckdienliche Anpassungsleistung (je nach systemtheoretischer Schule) werden Eigenleben (Eigenlogik) und operative Geschlossenheit/informationelle Offenheit eines Systems in Bezug auf Kommunikationscodes, Einfluss/Beeinflussung mitgedacht und therapeutisch berücksichtigt. Der erste Schritt der Annäherung gilt dem Einbezug des familialen Systems in das therapeutische Setting. Familial bedeutet: sozialisatorisch und gegenwärtig bedeutsam. Sodann wird, je nach Bedarf, der Kreis erweitert um außerhalb des Familialen befindliche lebensweltlich relevante Bezugspersonen und Parameter – etwa kulturelle Prägungsfaktoren durch Menschen, Medien, Symbole oder soziale Normen in Peers und Institutionen, in denen sich der Klient viel aufhält. Insofern meint systemtheoretisch geprägtes Betrachten stets, dass unterschiedliche Systeme bzw. deren Elemente daraufhin geprüft werden, inwiefern sie und der Klient interagieren.

Systemtherapie rückt Beobachtungen im Umfeld von Wechselwirkung, Beziehungsdynamik, Gewichtungen (Prägungsintensität) sowie zeitlich versetzte Wirkungen und Grade der Kopplung (Beziehungsintensität mit entsprechendem Einfluss) in den Vordergrund. Stets läuft die Frage nach funktionalem Stellenwert von Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen von Klienten und signifikanten Akteuren mit. Verhaltensweisen, die in anderen Modellen als „krank“ kategorisiert werden, gelten daher als sinnvolle Anpassungsleistung an Systemerfordernisse, seitens des Klienten als Antwort auf die Frage: „Wie muss ich mich verhalten, damit ...?“ Es geht folglich um die Analyse von Arrangements mit und in vorgefundenen Realitäten. Daher fragt Systemtherapie nach funktionalen Äquivalenten, um alternative Verhaltensweisen aufzufächern, ohne den Zweck der Anpassung verändern zu müssen, sofern dieser erhalten bleiben soll: „Auf welche anderen Weisen kann der Zweck, die Funktion weiterhin erfüllt werden?“


Der Klient gilt als Symptomträger oder Projektionsfläche für Bedürfnisse innerhalb des Systems. Fällt er weg, kollabiert das System bzw. ist es gezwungen, etwas zu ändern. Wenn etwa die erwachsene Tochter als guter Engel fungiert und diese Rolle aufgibt, gerät alles aus den Fugen und entsprechend müssen sich alle Beteiligten in der Interaktion neu ausrichten. Nicht der Einzelne, sondern soziale Dynamismen werden beobachtet, analysiert, diagnostiziert, therapiert.

Diese Betrachtungsweise bezieht auch jene sozialen Systeme ein, mit denen der Klient außerfamilial zu tun hat, mit denen er eng gekoppelt ist, die also großen Einfluss auf ihn haben. Systemische Intervention tastet ab, inwiefern das relevante System über das familiale bzw. unmittelbare Lebensumfeld (z. B. Wohngemeinschaft) hinaus erweitert werden muss und richtet Analyse, Diagnose und Therapie an konkret und symbolisch signifikanten Anderen und signifikantem Anderen aus.

Therapeutische Intervention erfasst Überlegungen zu Veränderungsoptionen von Rahmenbedingungen (Einbettung), erfasst Muster in Denken, Fühlen, Interagieren aller relevanten Personen, einschließlich des kommunikativen Codes (symbolisch generalisierter Kommunikationscode nach Niklas Luhmann, etwa „Liebe“), der diktiert, was wie gesagt und getan werden darf. Therapie bezieht grundsätzlich das Wechselspiel von Variablen aus unterschiedlichen Systemen ein und lenkt den Blick auf Eu-, Dysfunktionalität und funktionale Äquivalenz – und erweitert auf diese Weise Optionsvielfalt für Klienten.


Diese wenigen Hinweise deuten bereits an: Systemtherapeutische Intervention bedient sich einer anderen als der personalen, der ich-fokussierten Logik und erfordert daher andere Denkmuster (Kategorien). Die Anstrengung lohnt insofern, als der Klient Freiheitsgrade gewinnt, sowohl an Erkenntnis als auch im Agieren, und dies, ohne dass der sich geniun psychisch gestört und therapiebedürftig fühlen muss, und ohne dass er als jene „Ressource“ identifiziert und adressiert wird, die sich selbst heilt, quasi Münchhausen spielen und sich selbst am Schopf aus dem Sumpf des Leidens ziehen soll.

Ausblick

Das immanente Plädoyer dieser Gedankenskizze lautet: Psychotherapeutisch Tätige sind gut beraten, die Vorzeichen therapeutischer Praktiken (samt ihrer Folgewirkungen) zu reflektieren, gegebenenfalls ungewohnte Wege einzuschlagen. Je nach Schwerpunkt-Klientel kann es sich zudem empfehlen, neben den personalen Ansätzen in humanistischer, tiefenpsychologischer, behavioristischer Psychologie und Therapie systemtheoretische Denkweise, Termini anzuwenden, um a) mehr oder tiefer zu verstehen und b) dem Klienten mehr Freiraum für gesundheitsfördernde, ihn stärkende Optionen zu eröffnen.

Frei nach dem Motto: „Wenn nicht immer“ „Ich schon falsch bin“, sondern nur „Bündelung“ oder „Schnittpunkt sozialer Kreise“ (Georg Simmel), „liegt es nicht immer schon und nur an mir, wenn etwas falsch läuft, und ich muss nicht alle Last der Änderung allein tragen.“

Dr. rer. soc. M. A. phil. Regina Mahlmann Beratung, Coaching, Autorin Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.