Moral und Psyche
Ab und zu kommt mir immer mal wieder der Gedanke, was wir doch für merkwürdige „Tiere“ sind mit unserer hochkomplizierten Psyche und unserem Bewusstsein, das ein Ego produziert, das uns stets und ständig in Konflikte mit der Welt und mit uns selbst stoßen will! In dem Zusammenhang fallen mir dann auch so Allgemeinplätze ein, die zum Teil auch im Volksmund kursieren, wie dieser negative Ausspruch mit dem erhobenen moralischen Zeigefinger, dass der Mensch grundsätzlich aus seinem Inneren heraus egoistisch und faul sei.
Doch ist das überhaupt moralisch so verwerflich, wie oftmals gesagt wird? Steht nicht eher einfach ein Naturgesetz dahinter? Ist es nicht quasi das Grundgesetz des Lebens? Es bedeutet: Jedes Lebewesen auf diesem Planeten hat zwei grundsätzliche Aufgaben:
– Selbsterhaltung (Überleben) – Fortpflanzung (Sexualität).
Müssen wir nicht eher konstatieren, dass wir durch die Evolution egozentrisch strukturiert und auf Effizienz getrimmt worden sind? Ist es nicht auch genau das, was unsere Spezies allen Widrigkeiten einer gewaltigen feindlichen Natur und physisch viel stärkeren Fressfeinden zum Trotz überleben ließ?
Selbsterhaltung bedeutet, dass es die Aufgabe jedes Individuums ist, aus den vorhandenen Ressourcen für sich möglichst viel Energie zu gewinnen und dabei/dafür möglichst wenig Energie aufzuwenden – also Effizienz!
Andererseits sind wir ja auch Herden- oder Gruppen-„Tiere“! Denn wir haben ebenfalls über Hunderttausende von Jahren gelernt, dass wir in der Gruppe bessere Überlebenschancen haben als alleine. Aus der Einsicht und dem Wunsch, in der Gruppe sicher und aufgehoben zu sein, entwickelten sich dann wohl unsere „weichen“ Impulse und Emotionen wie Empathie, Zuwendung, Fürsorge und Liebe.
Weil wir die gute Situation in der Gemeinschaft gerne behalten wollen, haben wir es auch quasi „im Blut“ – will sagen in den Genen –, unsere Gruppe nach außen abzugrenzen und zu verteidigen, darum signalisieren uns auch Fremde stets erst mal Gefahr! Sie erscheinen uns bedrohlich, denn sie könnten ja als Konkurrenten um die Ressourcen unserer Gruppe und damit uns selbst etwas wegnehmen wollen, das wir zum Überleben brauchen! Bei der Begegnung mit Fremden zucken wir also erst einmal intuitiv zurück! Unsere Egozentrik (Egoismus) bzw. die Selbsterhaltung ist jedoch im Konfliktfall die stärkere Kraft in uns, dem Sozial- oder Gruppentrieb vorgelagert. Dies zeigt sich in Notzeiten, wenn die Ressourcen der Gruppe nicht mehr für alle ausreichen – dann wird im Zweifelsfall, wenn es ums Überleben geht, auch der Gruppen-Nachbar bekämpft. Wir erinnern uns – Brecht, die Dreigroschenoper: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral!“
Wir tragen also diese Triebe und Impulse in unseren Genen – Egozentrik, Effizienz, Sexualität und Fremden-Skepsis! Dabei werden wir von unseren emotionalen Wahrnehmungen, Grundbedürfnissen und Affekten gesteuert – Durst, Hunger, Erregung, Angst, Wut und Aggression. Alle von uns haben diese Grundlagen in sich, sicherlich in unterschiedlicher Intensität, denn so ein bisschen verschieden sind wir ja alle. Doch tief in uns brodeln diese archaischen Attribute und drängen mal mehr, mal weniger an die Oberfläche.
Es ist ja auch inzwischen wissenschaftlich hinreichend nachgewiesen, dass wir ähnlich wie Eisberge sind! Nur etwa 20 % dessen, was wir sind, was uns ausmacht als Menschen, als lebende Wesen, ist in unserem Bewusstsein, mit unserem Verstand wahrzunehmen und zu steuern. 80 % unseres Seins spielen sich unter der Oberfläche ab – in unserem Unbewussten oder „Unterbewusstsein“! Also 80 % unserer Persönlichkeit, unseres Seins, passiert ohne unser bewusstes Zutun!
Jeder (immer m/w/d) hat schon erlebt, dass wir uns manchmal fragen „warum denke ich gerade jetzt daran?“ oder „was veranlasst mich, jetzt genau dorthin zu schauen?“ oder auch „warum kann ich denn den nicht leiden?“
Gerade der letzte Punkt ist wohl für fast alle von uns am deutlichsten – wie wir unsere Sympathie und Antipathie verteilen, ist uns oftmals ein völliges Rätsel!
Dann fragen wir uns, was sie an sich hat, dass wir sie nicht leiden können, obwohl wir die Person gar nicht kennen. Wir bekommen also erstaunlicherweise sehr viele, sicherlich die allermeisten unserer Denk-, Wahrnehmungs-, Gefühls- und Handlungsimpulse aus unserem Unbewussten! In einem Gemeinwesen sind wir aber darauf angewiesen, diese in uns brodelnden Triebe, Affekte und Impulse irgendwie zu kanalisieren und im Griff zu halten. Dafür wurde dann einst die Moral erfunden, also Verhaltensregeln, die unser Zusammenleben ohne Diebstahl, Gewalt, Mord und Totschlag möglich machen.
Da gibt es vieles – die Zehn Gebote, Menschenrechte, religiöse Regeln, Gesetze oder was auch immer sich in verschiedenen Kulturen dazu entwickelt hat.
Wie gehen wir nun damit um? Die Moral alleine bewirkt ja gar nichts – sie muss an die Menschen gebracht und diese zu deren Befolgung motiviert werden!
So bringt man uns schon in frühester Kindheit ganz viele Dinge bei, die verboten sind, die „man“ nicht tut, nicht tun darf. Tun wir sie doch, gibt es schmerzhafte Bestrafungen, die wir ja nicht wollen.
Mit dieser Konditionierung lernen wir von klein auf moralisch korrektes Verhalten auf der Basis von Angst und Schmerzvermeidung, was wir dann als Zwang und Unfreiheit empfinden. Besser wäre es in der Tat, das auf der Basis von Einsicht zu erreichen, was jedoch nicht möglich ist, wenn wir noch zu klein sind, um die Dinge zu verstehen. Das kommt dann im späteren Leben oder eben auch gar nicht ...
„Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral!“
Ständig vermittelte Moralforderungen, ständige Parolen, die auf uns einprasseln, lösen durch Zwang und Unfreiheit fast immer Angst und Schuldgefühle in uns aus. Das ist uns sehr unangenehm, wir wollen das nicht haben, es baut Druck auf in uns, es regt sich Widerstand dagegen in uns! Das kann leicht bis zur Rebellion gehen nach dem Motto „jetzt mache ich das Verbotene erst recht!!“
Wolf Biermann, 1963: „Keiner tut gern tun, was er tun darf – was verboten ist, das macht uns gerade scharf!“
Oder wir versuchen, diesen ungeliebten angstbesetzten Empfindungen irgendwie auszuweichen durch Flucht und Ablenkung. Probate und weitverbreitete Mittel dafür sind Feiern, Alkohol, Drogen, Spiele, mediale Ablenkungen oder durchaus auch Sexualität bzw. sexuelle Ausschweifungen. So landen dann einige von uns, die ein entsprechendes Potenzial in sich tragen, in einer Sucht.
Die große Frage ist, wie gehen wir in einer gesunden Weise mit unseren archaischen Attributen, Neigungen und Impulsen um? Diese Dinge sind ja in uns – dagegen können wir nichts tun, wir können die nicht „wegmachen“ oder irgendwie loswerden! Verdrängung, Ignorieren und Ablenkung lösen kein Problem – dadurch bekommen wir nur noch mehr davon, oftmals in Form von Krankheitsbildern wie Süchten, Depressionen und Angststörungen! Und – die Sachen, die wir eigentlich loswerden wollen, brodeln dabei in unserem Unbewussten immer weiter und bauen ständig neue Konflikte auf!
Die einzige Chance ist also, hinzuhören, in uns hineinzuspüren, diese „bösen“ Eigenschaften in uns wahrzunehmen und zuzulassen. Das ist ein Teil von dem, was wir Selbst-Wahrnehmung, Selbst-Achtsamkeit und Selbst-Bewusstsein nennen können. Erst wenn wir diese Dinge, diese Empfindungen zulassen und uns bewusst machen, dann können wir sie bearbeiten und für uns eine Entscheidung treffen!
Ich schrieb das bereits einmal in einem Artikel über die Illusion vom Zustand. Veränderung funktioniert über die drei Schritte Wahrnehmung – Bewusstmachung – Entscheidung. Genau das ist ja das Prinzip, mithilfe dessen in Suchttherapien gearbeitet wird!
Nichts anderes sagt dem Grunde nach ja auch der erste Schritt im Programm der Anonymen Alkoholiker und der Narcotics Anonymus: „Wir gaben zu, dem Alkohol (dem Suchtmittel) gegenüber machtlos zu sein und unser Leben nicht mehr meistern zu können.“ Das nennen die AA-Leute „die Kapitulation“ und nahezu alle Betroffenen sagen im Nachhinein, dass genau dieser Schritt sie in die Abstinenz führte. Ich weiß, wie das ist – erst als ich mit dem letztlich Über-Ich-gesteuerten Ankämpfen gegen die Sucht aufhören konnte, war ich in der Lage, die Entscheidung zu treffen, das erste Glas stehenzulassen! Das Ziel ist, einen Zustand zufriedener Abstinenz zu erreichen, einer Abstinenz, die wir positiv für uns empfinden und an der nichts Quälendes oder Mühevolles ist!
„Was verboten ist, das macht mich gerade scharf!“
Solange wir versuchen, der süchtigen Verhaltensweise auszuweichen, sie nicht wahrhaben wollen oder gegen sie ankämpfen, drehen wir uns endlos im fatalen Kreislauf der Sucht!
Heraus finden wir nur mit der Akzeptanz, dem Hinnehmen, dem Zulassen, der Akzeptanz des ungewollten zwanghaften Bedürfnisses, es uns dann bewusst machen sowie daraufhin eine freie Entscheidung zu treffen, das Suchtmittel nicht zu konsumieren. Durch das Zulassen und Akzeptieren verlieren interessanterweise die quälenden Gefühle ebenso wie auch die panischen Ängste der Süchtigen vor einem Leben ohne Suchtmittel einen großen Teil ihres Schreckens.
Ich stelle mir die Frage, ob dieser Mechanismus, diese Art des Umgangs mit unseren inneren Impulsen nicht auch in anderen Bereichen anwendbar wäre.
Da fällt mir gleich der Dauer-Aufreger ein, der in aller Munde, in allen Medien ist – Rassismus! Das ist ja „ganz böse“!
Und fast alle von uns haben sofort ein Schuldgefühl, denn sicherlich haben wir alle schon einmal „etwas Böses“ gesagt, gedacht oder einen Witz gemacht über unsere ausländischen Mitbürger oder eine andere Randgruppe. Wir wollen ja nicht böse sein, doch da ist immer irgendwie auch ein „ja, aber ...“ in uns.
Wir alle tragen, wie ich es anfangs darstellte, über unsere Gene in unserer Empfindungswelt diese von Zehntausenden Generationen unserer Vorfahren ererbte Fremden-Skepsis in uns – der eine mehr, der andere weniger! Bei fremden Menschen sind, wenn wir ehrlich sind, die allermeisten von uns erst einmal vorsichtig, schauen eine Weile und versuchen zu ergründen, ob der Fremde gut für uns ist oder nicht.
Diese Skepsis verstärkt sich sogar, wenn die fremde Person noch anders aussieht als die Leute, die wir kennen, die uns aus unserer Gruppe, unserem Stamm vertraut sind. Das sind total normale Reaktionen, die da aus uns herauskommen wollen!
Aber diese sollen ja immer von den Moral-Wächtern einer Gesellschaft, gleich welcher Couleur, unterdrückt werden!
Eine äußerst naive Illusion der Ideologen ist, zu glauben, die „bösen“ bzw. unmoralischen Eigenschaften oder Gedanken seien dann irgendwie „weg“ ...!
Man versucht aber dennoch stets, über die Konditionierung unseres Verhaltens und unserer Reaktionen, genau das zu erreichen durch ständiges und allgegenwärtiges Wiederholen und Einpeitschen der Parolen sowie durch Stigmatisierung jedes abweichenden Denkens.
Früher mal nannte man diese Art manipulativer Gewaltausübung „Gehirnwäsche“, eine sehr perfide Art der Erschaffung von Unfreiheit, angeblich von den Sowjets in den 1960ern erfunden, aber die CIA und andere Geheimdienste haben das ganz genauso gemacht und machen das sicherlich immer noch!
Wo ist nun der Bezug zu unserer Gegenwart? Die selbsternannten Moralwächter werden nicht müde, ständig ihre Parolen zu verbreiten und vor Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus zu warnen. Der ständige moralische Druck erzeugt Widerstand und treibt die Menschen, wie wir heute sehen, fort von den etablierten politischen Kräften.
Die Menschen sind nicht bereit, einem pauschalen Postulat zu folgen, das im Namen von Toleranz und multikultureller Völkerverständigung fordert, den Mitgliedern von Randgruppen jedweder Art kritiklos positiv entgegenzukommen. Weil die Menschen aus ihrem täglichen Leben wissen, dass es unter Migranten und allen anderen Randgruppen auch schlechte Menschen, Gewalttäter und Kriminelle gibt, denen man zu Recht kritisch gegenüberstehen muss! Ist es nicht seitens der Politik und Justiz ein großer Fehler, den Genannten, moralisch Hochgehaltenen, Präferenzen und eine Art moralischen Kredit einzuräumen? Ist dies einer freien Gesellschaft würdig, die ja ansonsten stets den Gleichheitsgrundsatz als eine fundamentale Errungenschaft der Demokratie feiert? Wohl eher nicht!
Auch Menschen, die in unser Land kommen, müssen sich in unserem Gemeinwesen gefallen lassen, nach ihren individuellen
Qualitäten als Menschen und Mitglieder unserer Gesellschaft nach ethischen, moralischen und auch juristischen Grundsätzen eingeordnet und bewertet zu werden! Verbote und moralischer Dauerdruck führen den Einzelnen, ebenso wie ein ganzes Volk, letztlich in die Abwendung von den Machtinstanzen.
Wir brauchen nur in die Vergangenheit zu schauen – weder Stalin noch Hitler oder Honecker ist es, mit welch perfiden Mitteln auch immer, gelungen, sein Volk auf Dauer in ein gewolltes ideologisch-moralisches Konzept zu pressen!
Doch es finden sich immer wieder Leute, die meinen, genau und besser zu wissen als das Volk selbst, was das Volk braucht, wie es zu leben, zu sprechen und zu denken hat. Zurück geht das unter anderem auf den berühmten Ausspruch Lenins „die Masse ist dumm“, der dann folgerichtig daraus schloss, dass die Masse der Führung bedarf – selbstverständlich seiner Führung! Wohin das führte, wissen wir.
Ein „gesunder“ Umgang mit unserer unbewussten inneren Welt ist, dass wir die in uns aufsteigenden Gefühle und Impulse zulassen, sie in unser Bewusstsein holen, sie anschauen und dann eine Entscheidung treffen, ob wir diesen Impulsen folgen wollen oder nicht.
Das ist Freiheit! Die Freiheit des Geistes! Die geistige Freiheit souveräner Menschen!
Michael Looks Heilpraktiker für Psychotherapie