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Wenn der Impuls autoaggressives Verhalten auslöst

2012-01-Impuls1

Frank-Michael Kotzte, Fallstudie

Eine alleinlebende 38-jährige Mutter einer vierjährigen Tochter war in der Nacht mit ihrem Auto auf einer Landstraße gegen einen Baum gerast. Im Krankenhaus fiel dem Personal die Frau auf, da sie viel weinte und um ihre Tochter bangte. Psychologische oder seelsorgerische Hilfe aus der Klinik lehnte sie konsequent ab. Offenbar waren es persönliche Erfahrungen, welche die Patientin veranlassten einen psychotherapeutisch arbeitenden Heilpraktiker an ihr Krankenhausbett kommen zu lassen.

2012-01-Impuls2Am Samstagvormittag wurde ich in die chirurgische Intensivstation des Krankenhauses gerufen. Die Patientin hatte sich bei dem Autounfall eine multiple Verletzung im Bereich der Muskeln und Sehnen des rechten Armes sowie des rechten Beines zugezogen. Die Verletzungen waren primär operativ versorgt worden.

Im ersten Gespräch begegnete mir eine sehr ängstliche und weinerliche Patientin. Sie bedauerte, den Verkehrsunfall absichtlich herbeigeführt zu haben. Besonders schien sie dabei zu belasten, dass sie ihre vier Jahre alte Tochter alleine in der Wohnung zurückgelassen hatte. An dritter Stelle benannte sie seit Jahren bestehende erhebliche finanzielle Schwierigkeiten. Auf konkrete Nachfrage äußerte sie, den Unfall in suizidaler Absicht herbeigeführt zu haben. Zugleich betonte sie: „... ach das war ein Blackout ...“ und sprach von einer „Handlung im Affekt“. Weiter gab sie an, dass sie bisher nie suizidale Gedanken gehabt hätte und froh sei, dass es nicht „geklappt“ hätte.

Jeweils auf Wunsch der Patientin erfolgten fünf weitere Gesprächstermine in der Klinik. In den Gesprächen äußerte sie wiederholt massive private finanzielle Schwierigkeiten aus einer drei Jahre zuvor geschiedenen Ehe. Auslöser ihres suizidalen Handelns sei der Eingang eines weiteren amtsrichterlichen Zahlungsbeschlusses gewesen, welchen sie am Vorabend der Unfallnacht in der Post fand. Nachdem sie eine halbe Flasche Rotwein getrunken habe, sei sie einem Impuls folgend in ihr Auto gestiegen.

Anfänglich äußerte sie in den Gesprächen, dass sie „… nur so rumfahren wollte, um den Kopf frei zu bekommen”. Im Affekt hätte sie dann entschieden, das Auto gegen einen Baum zu steuern.

Nach der Aufklärung über fragliche Affekthandlungen im Bereich des Suizides gab die Patientin nach anfänglichem Zögern zu, dass es sich um eine seit Längerem durchdachte Tat gehandelt hätte. Zur Planung und Durchführung äußerte sie sich ausführlich im Sinne eines entlastenden Gesprächs.

Anamnestisch war zu erfahren, dass die Patientin sich seit dem 17. Lebensjahr mit autoaggressiven Gedanken und Handlungen beschäftigt. So berichtete sie über wiederholtes „Ritzen“ in Schulter und Arme, zuletzt vor fünf Jahren. Auch suizidale Gedanken seien ihr nicht fremd. Drei Situationen konnte sie ziemlich konkret benennen. Jedoch sei es nie zu einer ernsthaften Handlung gekommen.

In einer von ihr beschriebenen Situation könnte eine Demonstrativhandlung vorgelegen haben. So hatte sie in Gegenwart von Angehörigen im Streit eine suizidale Handlung angekündigt und wurde dann bei der versuchten Ausführung, auf dem Weg zu Bahngleisen, von ihrer älteren Tochter daran gehindert. Allen Handlungen voraus gingen offenbar akute Stresssituationen.

Zum Erfolg ihres aktuellen Handelns erschien sie während ihres Krankenhausaufenthalts jetzt jedoch teilweise ambivalent. Der Patientin wurde von mir wiederholt eine stationäre Psychotherapie angeraten, welche sie jedoch ablehnte.

Vor drei Jahren sei sie wegen eines Burnout- Syndroms in stationärer Behandlung gewesen, was ihr tatsächlich „nichts gebracht hätte“. Stattdessen bat sie um die Übernahme einer privaten ambulanten Behandlung.

Nach zehn Tagen Krankenhausaufenthalt erfolgte die Entlassung der, in ihrer Mobilität stark eingeschränkten, Patientin in ihre Wohnung. Im Sinne einer engmaschigen ambulanten Krisenintervention wurden am Vortag der Entlassung, gemeinsam mit dem Sozialdienst des Krankenhauses soziotherapeutische Maßnahmen besprochen und angeschoben.

Da die Patientin mit ihrer Tochter alleine lebt, wurde diese von der Obhut des Jugendamtes an die Mutter der Patientin übergeben. Weiter wurden eine kurzzeitige hauswirtschaftliche Betreuung sowie eine pflegerische Versorgung durch eine häusliche Krankenpflege veranlasst. Da sie Angst vor der Rückkehr in ihre Wohnung hatte, begleitete ich sie am Entlassungstag zu einem ersten Gespräch in die Wohnung. Die Patientin gestattete mir auf Anfrage anamnestische Gespräche mit ihrer 18-jährigen Tochter sowie mit ihrer engsten Freundin und Geschäftspartnerin.

Beide Gespräche erfolgten noch am selben Tag im Sinn des „Knüpfens eines sozialen Netzwerks“. Mit Einverständnis der Patientin informierte ich die Tochter sowie die Freundin über die Situation und gab ihnen Hinweise zum Umgang.

Im gegenseitigen Einvernehmen übergab die Patientin einen Wohnungsschlüssel an ihre Freundin. Zwischen ihnen wurden regelmäßige Besuche und Telefonkontakte vereinbart.

Es folgten fünf weitere Gespräche in der Wohnung der Patientin, im Sinne einer ambulanten Krisenintervention. Bei allen Gesprächen erschien mir die Patientin bewusstseinsklar und orientiert. Im Kontaktverhalten erschien sie zugewandt, offen und kooperativ. Ihre mnestischen Funktionen erschienen in den Gesprächen unauffällig, an den Unfallhergang selbst konnte sie sich gut erinnern. Es bestand nach meiner Beobachtung keine retrograde oder anterograde Amnesie.

Sie zeigte anfänglich eine weinerliche bis gedrückte Stimmung, welche sich allerdings besonders in der zweiten Sitzung nach der Klinikentlassung gut motivieren ließ. Ein Anhalt für eine depressive Symptomatik war nicht zweifelsfrei erkennbar. Für Wahrnehmungsstörungen, Sinnestäuschungen oder Zwangssymptomatiken gab es keinen Anhalt. Eine weiterhin bestehende Präsuizidalität konnte nicht ausgeschlossen werden. Das Vertrauensverhältnis Patientin/Therapeut bewertete sie auf einer Skala von 1 bis 10 mit 8 bis 9.

Im Ergebnis der Anamnese und Exploration konnte eine Persönlichkeits- und Verhaltensstörung im Sinne eines Borderline- Typs nicht ausgeschlossen, aber auch nicht bestätigt werden. So besteht zur Mutter seit der Kindheit ein deutlich gespanntes Verhältnis. Die Patientin äußert den Eindruck des „ungeliebten Kindes“. Wobei zum Vater eine offenbar sehr enge emotionale Bindung besteht, dieser jedoch seit ihrem sechsten Lebensjahr im Ausland lebt und kein Kontakt bestehen würde. Zu ihrer vierjährigen Tochter besteht offenbar eine sehr enge emotionale Bindung.

Als selbstständige Unternehmerin ist die Patientin deutlich mit einem klaren Selbstbild und klaren Zielen zu erkennen, privat äußerte die Patientin jedoch ein deutlich gestörtes inneres Selbstbild, unklare Ziele sowie ein Gefühl der wiederkehrenden inneren Leere. Sogenannte Schnitznarben an Schulter und Unterarm waren in nur schwacher Form und offenbar schon mehrere Jahre alt zu erkennen.

Zum Unfallhergang gab sie an, ihren Wagen gezielt gegen den Baum gelenkt zu haben, war sich dann jedoch wieder nicht sicher. Das Unfallprotokoll der Polizei ergab, dass die Fahrerin offenbar nach dem Abkommen von der Fahrbahn stark gegengelenkt habe, infolgedessen der Wagen ins Schleudern geriet und gegen den Baum prallte.

Ihre suizidalen Gedanken spiegelte sie einmal mit ihrer Erfahrung nach dem „Ritzen“ als Jugendliche, als Spiel mit dem Tot sowie als Sehnsucht nach „Ruhe“ wider.

Diese Erinnerungen und Gedanken häuften sich immer dann, „... wenn mir der Stress zu groß wird, kann ich nicht mehr klar denken. Mit „ritzen“ oder nach dem Unfall spüre ich ein Gefühl der totalen Entspannung und Beruhigung …”

In der Fremdanamnese erschien die Patientin wieder überwiegend mit klaren Zielen, als ausgeglichene Persönlichkeit, durchaus mit der Fähigkeit vorauszuplanen. Explosives Verhalten wurde als ausgesprochen selten beschrieben. Und wenn, offenbar dann, wenn sich die Patientin in besonderen Stresssituationen, wie Trennung oder extreme finanzielle Schwierigkeiten, befand. Die finanziellen Probleme stehen offenbar im Mittelpunkt des Denkens und Handelns der Patientin. So hat sie mit der Trennung von ihrem Ehemann und Vater der vierjährigen Tochter, mehrere Tausend Euro Schulden übernehmen müssen, während dieser sich ins Ausland absetzte.

Die Tilgung der Schulden gelang ihr jedoch, zwar verbunden mit erheblichen Entbehrungen, außerordentlich gut.

Die Therapie erfolgte im Wesentlichen mit der Methode der Gesprächspsychotherapie nach Rogers. Im Rahmen der Krisenintervention kamen auch Elemente der Konfrontationstherapie zum Einsatz.

So erfolgten zunächst entlastende Gespräche zum Spannungsabbau um das präsuizidale Syndrom zu mindern. Die Suizidalität wurde dabei zum Teil mit Konfrontation besprochen. Wie z. B. Visualisieren des stark beschädigten Unfallfahrzeuges oder die Darstellung der Trauer der Hinterbliebenen, besonders der Kinder. „… au, das war ja doch ganz schön knapp“ oder „… was ich den Kindern damit antue, darüber habe ich ja noch gar nicht nachgedacht“, so die Feststellungen der Patientin.

Weiter wurde mit der Methodik nach Rogers nach Ressourcen und deren Anwendung gesucht. Dabei zeigte sich die Patientin sehr kooperativ. Eine positive Grundstimmung konnte erreicht werden. Einen speziellen Teil der Therapie nahmen das Erlernen des Erkennens der inneren Spannung und der Spannungsbau ohne Selbstverletzung ein.

Als problematisch stellte sich im Laufe der Therapie das Verhältnis zur Mutter dar. „Ich freue mich, wenn sie kommt, aber wenn sie da ist, dann kann ich sie nicht umarmen, drücken oder ihr gar beim 14 Sprechen in die Augen sehen. Sehnsüchtig erwarte ich den Moment, wenn sie wieder wegfährt. Eigentlich haben wir uns gar nichts zu sagen. Sie tut mir weh, ohne mir etwas anzutun.“

Anamnestisch gab sie an, ihre Mutter sei 17 gewesen, als sie geboren wurde, und habe sich nie um sie gekümmert. Aufgewachsen sei sie bei den Großeltern. Den Vater verschwieg sie anfänglich und gab an, sich nicht an ihn erinnern zu können.

Während einer Traumreise in die Kindheit brachen dann, begleitet von heftigen Weinkrämpfen, Erinnerungen an ihren Vater hervor. Jetzt gab die Patientin an, dass sie zuletzt vor vier Jahren mit dem Vater Kontakt gehabt hatte und diesen auch sehr lieben würde. Allerdings hätten persönliche Zerwürfnisse zu der aktuellen Trennung geführt.

Den Einsatz der Muskelrelaxation nach Jacobs ließen die Verletzungen nicht zu. Stattdessen wurde mit Fantasiereisen gearbeitet und es wurden mögliche weitere Techniken zum Stressabbau besprochen.

Nach insgesamt 15 Terminen wurde die Behandlung eingestellt. Die Patientin gab an, ihre Situation im Griff zu haben. Sie hinterließ einen sortierten und aufgeräumten Eindruck, äußerte jedoch in die Zukunft blickend Ängste. Hoffnungsvoll blickte sie auf die bevorstehende ambulante physiotherapeutische Reha-Maßnahme, welche sie „… hoffentlich weiterhin auf andere Gedanken bringt”, so die Patientin.

Sechs Wochen später meldete sich die Patientin telefonisch, um mir mitzuteilen, dass sie ihren Vater besucht habe und sehr glücklich über diese Entscheidung sei. Weiter versicherte sie sich, ob sie bei einer eventuellen Verschlechterung ihres Zustandes kurzfristig einen Termin bekommen würde.

Meine Erfahrung beim Umgang mit suizidgefährdeten Klienten zeigt mir immer wieder, dass diese oft eine gewisse Suizidkarriere und somit häufig psychiatrische Erfahrungen in ihrem Gepäck tragen.

Aus der Therapieerfahrung ist oft zu hören, dass die Betreffenden weitere Therapiemaßnahmen mit der Begründung „... ach, da war ich schon, die können mir sowieso nicht helfen”, ablehnen. Jedoch sind sie erstaunlich oft bereit, eine private Therapie zu finanzieren.

In anschließenden Befragungen ist nicht selten zu hören: „Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass sich jemand Zeit für mich nimmt, mich wirklich versteht und meine Ängste und Sorgen annimmt.“

Dennoch kann ich nur davor warnen, leichtfertig suizidgefährdete Patienten zu behandeln. Grundsätzlich sollten diese Patienten einer stationären Therapie zugeführt werden. Jedoch stellt sich die Situation nicht immer so dar, dass der Patient einer Einweisung zustimmt oder der Hausarzt/Notarzt eine Zwangseinweisung einleiten kann.

Im geschilderten Fall ist es dem Personal der Klinik zu verdanken, dass durch sorgfältiges Beobachten und ein wiederholtes Anbieten professioneller Hilfe die Patientin trotz ihrer Psychiatrie-Erfahrung nach dem ihrer Meinung nach geeigneten Strohhalm griff.

Mit rettungsdienstlicher und kriseninterventorischer praktischer Erfahrung über Jahre sowie mit einer geeigneten Ausbildung kann man es nach meiner Erfahrung wagen, eine ambulante Krisenintervention anzugehen. Und diese auch nach relativ wenigen Sitzungen erfolgreich zu beenden.

Bei der zahlreichen Begleitung von Menschen, die aus dem Leben scheiden wollten, ist es mir bisher in einem Fall nicht gelungen, den Betreffenden erfolgreich in das Leben zurückzubegleiten. Aber dessen müssen wir uns beim Umgang mit Menschen, die Suizidgedanken hegen, immer bewusst sein. Im Fall des Falles entscheidet nur dieser Mensch allein über den Ausgang seiner Gedanken. Wir müssen allerdings in der Lage sein, eventuell dahintersteckende Krankheiten rechtzeitig zu erkennen und aufzudecken.

Am Ende sollte der Therapeut nichts unversucht gelassen haben, die eine oder andere Stunde zusätzlich investiert haben und er sollte auch in der Lage sein, die Entscheidung des Betreffenden zu akzeptieren.

Nach meiner Erfahrung erscheint es mir bei der Begleitung von suizidgefährdeten Menschen weiterhin wichtig, dass für den Therapeuten die Möglichkeit der kollegialen Beratung sowie zur Einzel- und Gruppensupervision besteht. Denn nur so kann unsere Arbeit auf dem Weg und danach ausreichend reflektiert und auch bei ungünstigem Verlauf ausreichend abgefangen werden.

Eines sollten wir auf jeden Fall an uns selbst nicht ausprobieren, nämlich wie viel ein Mensch aushalten kann.

Frank-Michael Kotzte Frank-Michael Kotzte
Heilpraktiker für Psychotherapie Heilkundliche Psychotherapie, Gesprächstherapie, Seelsorge/Krisenintervention
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