Depression und Suizid
Es wird oft argumentiert, dass Depressionen so belastend sein können, dass sie einen Menschen in den Tod treiben. Ich vermeide den Ausdruck „Selbstmord“, weil er schlicht falsch ist. Jemand, der sich selbst tötet, begeht ja keinen Mord, das heißt keine kriminelle Handlung aus niedrigen Beweggründen.
Der Drang, dem Leben ein vorzeitiges Ende zu setzen, gilt als ein wichtiges Krankheitszeichen für die Depression. Auf der anderen Seite gibt es Berichte über Personen, die aus einer tiefen Depression herauskamen, sich wohlfühlten ... und sich dann töteten. Medikamente wie Fluoxetin (Handelsname „Prozac“) haben manchmal diese Wirkung.
Es handelt sich dabei um einen Wiederaufnahmehemmer von Serotonin. Dadurch dass dieses Hormon nicht schnell wieder aus dem Kreislauf genommen wird, bleibt der Serotonin-Spiegel hoch. Dieses Hormon wird in Deutschland auch als Glückshormon bezeichnet, weil ein gewisser Serotonin-Spiegel zu guter Stimmung und Tatendrang führt. Allerdings ist die Tat manchmal die Selbsttötung. Eli Lilly, der Hersteller des weit verbreiteten Medikaments „Prozac“ schreibt auf seiner Infoseite: „Antidepressants increased the risk compared to placebo of suicidal thinking and behavior (suicidality) in children, adolescents and young adults“ (Antidepressiva erhöhten das Risiko, verglichen mit einem Placebo, von suizidalem Denken und Verhalten bei Kindern, Halbwüchsigen und jungen Erwachsenen).
Auch Psychotherapie kann die Folge haben, dass der Patient aus der Depression auftaucht, sich wohlfühlt und dann selbst tötet. Hier zitiere ich aus dem Artikel „Laufen am Abgrund“, „Via Medici 04/97“ von Prof. Dr. Asmus Finzen und Dr. Ulrike Hoffmann-Richter: „Nicht wenige Patienten führen ihren Suizid gerade dann aus, wenn von ärztlicher Seite eine längerfristige Besserung absehbar scheint.“ Andrew Solomon schreibt in seinem Buch „The Noonday Demon“, dass sich Patienten oft töten, kurz nachdem sie aus der Depression herauskamen – oder lange nachdem die Depression verschwunden war.
Zusammengefasst kann man sagen: Solche Personen bringen sich gerade dann um, wenn es ihnen besser geht. Depressionen haben offenbar nicht die Aufgabe, jemanden in die Selbsttötung zu treiben, sondern ihn an dieser Tat zu hindern. Und aufgrund einer uns übertrieben vorkommenden Reaktion während der depressiven Phase wird nicht nur die Selbsttötung verhütet, sondern in unangemessener Weise fast jedwede Tätigkeit gebremst oder verhindert.
Solomon beschreibt, auf welche Weise diese Bremsung vor sich geht: „I would have been happy to die the most painful death, though I was too dumbly lethargic even to conceptualize suicide“ (Ich wäre glücklich gewesen, den schmerzlichsten Tod zu erleiden, obwohl ich zu stumpflethargisch war, Suizid auch nur zu planen). Diese schützende Funktion der Depression wird allerdings teuer bezahlt: mit einer sehr schwer erträglichen Lebensqualität. So gesehen ist die Depression keine Krankheit, sondern eine natürliche, aber oft schwer erträgliche Schutzfunktion.
Aber warum ist sie meistens so unangenehm? Ich stelle hier ein etwas grobes Beispiel vor: Wenn ein Autofahrer zügig dahinfährt, ein Hindernis sieht und fest auf die Bremse tritt, dann ist das zwar nicht sehr angenehm, aber durchaus auszuhalten. Aber wenn er weiterfährt und weiter auf Vollbremsung bleibt und gleichzeitig mit dem anderen Fuß mit aller Kraft auf das Gaspedal tritt, geht jede Fahrfreude verloren. Vor allem, wenn er weiter auf Gas und Bremse tritt, nachdem er an dem Hindernis schon vorbei ist. Verschiedene Teile werden vorzeitig verschlissen, das Material leidet überdurchschnittlich. Das Fahrvergnügen ist dahin.
Für Therapeuten, die einem solchen Patienten helfen wollen, ist also nicht die Aufgabe, die Depression zu bekämpfen, sondern sie überflüssig zu machen. Das ist nicht leicht, denn Therapeutinnen und Therapeuten müssen in solchen Fällen mithilfe der Patienten herausfinden, woher der schon offenbar vor der Depression existierende Todesdrang kommt, und den Patienten helfen, an dieser Stelle eine Information einzufügen, die diesen Drang obsolet macht. Er passt ja nicht mehr in die Zeit, in welcher der Patient lebt. Und das muss in Zusammenarbeit mit einem Patienten gemacht werden, der schlicht zu nichts Lust hat, den jeder Denkprozess schon viel Energie kostet. Wenn diese Arbeit gelingt, wird der Weg frei in ein vielleicht nicht immer ganz leichtes, aber doch unendlich leichteres Leben als bisher.
Hier möchte ich erwähnen, dass keinesfalls alle Depressionen durch einen Suizid-Drang entstehen, sondern nur ein wesentlicher Teil. Auch der Drang, andere zu töten, kann durch die Depression blockiert werden, sogar recht banale Anlässe wie die Angst vor einer Prüfung können schon eine depressive Stimmung auslösen.
Aber hier möchte ich beim Thema dieses Artikels bleiben und stelle in verkürzter Form ein schematisches Beispiel vor, wie so eine Arbeit aussehen kann. Dabei verwende ich hier Teile, aus der zweite Auflage meines Buches „Die Depression: Krankheit oder Notbremse?“.
Nehmen wir an, ein Fünfjähriger erlebt einen wunderschönen Nachmittag. Es gibt eine Feier mit Kuchen und köstlichen Fruchtsäften, Spiele mit anderen Kindern, es ist herrliches Wetter: Die Welt scheint ganz und gar fröhlich und in Ordnung. Als er vom Fest abgeholt wird, erfährt er, dass sein geliebter Opa gerade gestorben ist. Nun kann Folgendes geschehen:
Ereignis:
wunderbare Feier,
gefolgt von Todesnachricht und Trauer
Kindliche Schlussfolgerung:
Wenn es mir zu gut geht,
passiert etwas ganz Schlimmes.
Entscheidung:
Wenn es droht, mir zu gut zu gehen,
bremse ich meine Freude,
um Unglück zu vermeiden.
Die Entscheidung wird, man könnte sagen, nur halb-bewusst getroffen. Für einen Fünfjährigen ist sie bei seiner Weltkenntnis durchaus vernünftig. Sobald wir die Welt besser kennen, wird dieses Programm leider nicht zwangsläufig gelöscht. Es wird im Gegenteil bei bestimmten Gefühlswallungen automatisch immer wieder abgerufen, aber nicht mit der vollen Information: Die Ereignisse im Alter von fünf Jahren werden nicht gleichzeitig abgerufen. Diese Person bremst lediglich jedes Mal ihre Freude, beispielsweise durch Angst erzeugende Fantasien oder indem sie sich „aus Versehen“ verletzt, einen Unfall oder Schaden verursacht usw.
Das passiert immer wieder, so lange, bis sie eine neue Entscheidung fällt, die der Wirklichkeit besser entspricht und eine höhere Lebensqualität ermöglicht. Eine solche Neuentscheidung (Mary McClure Goulding, Robert Goulding: „Neuentscheidung. Ein Modell der Psychotherapie“) wirkt nur durchgreifend, wenn sie in der Schicht angekommen ist, in der die ursprüngliche kindliche Schlussfolgerung und Entscheidung programmiert wurden. Solange das nicht geschehen ist, taucht eine dunkle Wolke auf, sobald das Leben „zu angenehm“ wird.
Es kann nun eine weitere kindliche Schlussfolgerung nachfolgen, die eine extrem depressive Stimmungslage enorm begünstigt. Nämlich wenn unser Fünfjähriger den Opa so sehr liebt, dass er unbedingt mit ihm zusammen sein will. Und in seiner kindlichen Welt auf den Gedanken kommt, wenn er selbst auch tot wäre, könne er mit dem Opa im Himmel zusammen sein. Auf diese Weise würde ein sehr starker Todeswunsch programmiert, der immer dann aktiviert wird, wenn dieser Mensch sich allein fühlt, beispielsweise nach einer Trennung vom Ehepartner oder nachdem er seinen Arbeitsplatz verloren hat, an dem er gute Freunde hatte. Dann taucht der Drang auf, sich zu töten. Leider ist dem Betroffenen aber nicht bewusst, woher der Drang kommt, und zwar mit einer Triebkraft, der nur schwer zu widerstehen ist!
Nun betätigt – auch wieder unbewusst – der Lebenswille die Notbremse: nämlich die Depression, die jetzt nicht mehr nur einer dunkle Wolke gleicht, sondern einem bleiernen Gewicht, das sich auf die Seele legt.
Bei der Therapie muss nun sehr behutsam vorgegangen werden, damit nicht die schützende Depression beseitigt wird und der Todesdrang auf einmal freie Bahn hat. Wenn die Therapie gutgeht, könnte folgendes Schema erarbeitet und der kindlichen Schlussfolgerung hinzugefügt werden. Was dann zu einer günstigeren Neuentscheidung führt. Das sähe dann so aus:
Ereignis:
schönes Erlebnis,
gefolgt von Trennungsschmerz
Erwachsenen Schlussfolgerung:
Lebensfreude und Trennungsschmerz
kommen nur zufällig zusammen vor.
Entscheidung:
Ich lebe das Leben, so wie es ist,
mit Trennungsschmerzen und mit Freuden.
Schöne Zeiten genieße ich aus vollem Herzen.
Es gibt viele andere Motive, weshalb ein Drang zu Selbsttötung entsteht, ein Drang auf Grund von Schlussfolgerungen mit positiver Absicht, der jedoch in der ursprünglichen Fassung nur zu Leiden führt. Hier noch ein Beispiel: Ein dreijähriges Mädchen hat eine Mutter, die in dieser Phase ihres Lebens kein Kind haben wollte. Die Mutter selbst hatte keinen guten Lebensplan, behandelte das Kind schlecht, beschwerte sich, dass es lästig sei und immer nur störe, bestrafte es hart und unvermittelt ohne erkennbaren Grund usw.
Das Kind dachte oft, dass es nicht geliebt wird, dass es am besten wäre, wenn es gar nicht da wäre. Am Ende kam es zu dem Ergebnis, dass es am besten wäre, wenn es sich töten würde. Dann wäre alles in Ordnung. Bei einer solchen Entscheidung denken viele Menschen an Geisteskrankheit oder zumindest eine schwere Störung. Das ist es aber für dieses Kind in keiner Weise. Denn aus der Sicht und begrenzten Weltkenntnis der Kleinen ist das nur positiv: Sie ist nicht mehr auf der Erde, sondern mit freundlichen Engeln im Himmel, wo alle glücklich sind. In dieser Vorstellung ist dann alles in Ordnung, sie ist froh. Auch die Mutter hat ein besseres Leben, weil sie nicht mehr diese Scherereien mit einem Kind hat, das ihr auf die Nerven fällt. Außerdem denkt ja das Kind nicht daran, dass ein Selbsttötungsversuch auch fehlschlagen kann und mit schwerer geistiger und körperlicher Behinderung und großen Schmerzen enden könnte.
Das Kind hat nicht die Fähigkeit, so weit zu denken, aber erfreulicherweise haben wir auch einen erwachsenen Verstand, der mit dem Wissen, das wir heute haben, dem inneren Kind dabei helfen kann.
Für Therapeuten, die so arbeiten wollen, ist es unabdingbar, dass sie entsprechende Selbsterfahrungen machen, durch Vorträgehören oder Lesen allein ist das nicht zu erreichen. Ein guter Kontakt zu den Gefühlen und Körperreaktionen des Patienten und zu den eigenen ist wichtig. Wer Musiker werden will, kann sich ja auch nicht mit dem Hören von Musik oder Lesen von Noten zufrieden geben.
Günter Jursch
Transaktions-Analytiker und Heilpraktiker, eigene psychosomatische Praxis seit über 30 Jahren. Seit 1997 lebt und arbeitet er auf Mallorca. Entwicklung des Tele-Coaching, ein Internet-Fernkurs mit Übungen und Beratungen, die auf die Person jedes Kursteilnehmers abgestimmt werden.
Pablo Noguera 5, E-07100 Sóller (Mallorca)