Musiktherapie mit Kindern
Kinder lieben es, Klänge und Rhythmen zu erzeugen, sie bewegen sich mit Freude zur Musik und sind von Natur aus mit dieser verbunden. Leider unterliegt das musikalische Handeln oftmals zu früh der Bewertung oder dem Zwang, indem Kinder, anders als im freien Ausdruck, zum korrekten Spielen eines Instrumentes oder „richtigem Singen“ aufgefordert werden.
In der Therapie und Förderung von Kindern stellen Musik und Klang wertvolle Mittel zum Ausdruck innerpsychischer Konflikte und verdrängter Emotionen dar. Musik wirkt entwicklungsfördernd, ermöglicht Zugang zum Seelenleben und zu sozialen Erfahrungen des Kindes.
Die pädagogisch/therapeutische Fachkraft braucht keine musikalische Vorbildung, damit sie den intuitiven Umgang mit Musik, Klang, Stimme und Rhythmen fördern kann. Vielmehr geht es darum, selbst Freude am klanglichen Erleben zu finden und diese an Kinder weitergeben zu können.
Musiktherapie ist eine Form der Psychotherapie mit meistens tiefenpsychologischem Fundament. Sie dient außerdem der Wahrnehmungs- und Entwicklungsförderung im Kindesalter. Dabei ersetzen Musik und Klänge teilweise die Sprache des Kindes und stellen eine besondere Ausdrucksform des therapeutischen Dialoges dar. Es werden die unterschiedlichsten Elemente der Musik genutzt, wie z. B. Stimme, Klang, Melodie, Gehör, Geräusch und Rhythmus.
Im musikalischen Dialog können wir Harmonien und Disharmonien erkennen, die uns im Alltag oftmals verborgen bleiben. Damit bringt Musik etwas zutage, das sonst an unserer Wahrnehmung vorbeigeht.
Im Bereich der Entwicklung des Kindes werden akustische Wahrnehmung, Koordinierung und Rhythmusgefühl angeregt. Viele Kinder haben Probleme in den genannten Bereichen, die später als Sekundärprobleme im Bereich des Lernens und Ausdrucks deutlich werden.
In der Musiktherapie unterscheiden wir aktive und rezeptive Formen:
• Bei den aktiven Formen musizieren Kinder oder es wird mit der Stimme, mit erzeugten Klängen und Tönen gearbeitet. Es entsteht eine Form des Ausdrucks und der Kommunikation in Gruppen und/oder in der Beziehung zum Therapeuten/zur Therapeutin. Im sogenannten musikalischen Dialog ersetzen diese Elemente die Sprache und es entsteht eine sehr emotionale Form der Interaktion, die unbewusste Ebenen einschließt.
• Die rezeptiven Formen umfassen das Musikerleben, d. h. das Aufnehmen von Klang, Stimme, Melodie, ohne diese selbst aktiv mitzugestalten. Dabei geht es mehr darum, auf das innere Erleben und die Gefühle zu achten. Bei Kindern werden kreative Elemente wie Farben, Geschichten und innere Bilder zur Aufarbeitung des Erlebten hinzugezogen.
In der Musiktherapie gibt es Möglichkeiten der Einzel- und der Gruppenarbeit. In der Gruppentherapie können beispielsweise soziale Ängste, Kommunikationsstörungen und Minderwertigkeitserleben als Indikation herangezogen werden. Eine einzelne Behandlung würde sich bei schwereren Neurosen, speziellen Behinderungen und traumatischen Erlebnissen anbieten. Teilweise werden Elemente der Musiktherapie während einer Logopädie, Lerntherapie oder heilpädagogischen Behandlung eingesetzt.
Gerade bei Kindern ist eine Kombination der musikalischen Elemente, z. B. mit Theater und Kunst, möglich.
Immer beachtet die Musiktherapie die Ganzheitlichkeit des Kindes in seiner Einheit „Körper, Geist und Seele“.
Ziele des Einsatzes musiktherapeutischer Elemente in der Kinderarbeit
Musik soll die Ausdrucksfähigkeit der Kinder fördern, auch im Hinblick auf die Kanalisierung und Differenzierung von Gefühlen bzw. dem emotionalen Erleben des Kindes. Das Kind kann soziale Erfahrungen machen, Gruppe erleben und den Mut erlangen, aus sich herauszugehen. Musik bietet Kommunikation und Ausdrucksfähigkeit auf der nonverbalen Ebene an. Dort, wo das Kind sich nicht sprachlich mitteilen kann, bekommt es die Möglichkeit, über die musiktherapeutischen Elemente eine Ausdrucksform zu erlangen. Des Weiteren regt die Musik das Kind zum Körperausdruck und Tanz an. Im Bereich der Koordinationsentwicklung trägt Musik sehr viel bei.
Gerade die rezeptive Musiktherapie legt den Fokus auf das Hinhören und Aufnehmen. Das Kind soll sich spüren und selbst wahrnehmen und seine Aufmerksamkeit zentrieren. Es erlebt seine Emotionen und inneren Bewegungen, gleichzeitig lernt es, still zu sein und genau hinzuhören, etwas, das genauso zur Dialogfähigkeit gehört wie der sprachliche Ausdruck. Die Wahrnehmung der ichbezogenen Erlebniswelt trägt zu den verschiedensten Reifungsprozessen bei und ist Voraussetzung, um irgendwann vom Ich zum Wir zu gelangen.
Pädagogische und therapeutische Ziele laufen oft nebeneinander her oder ergänzen sich. Das Erlernen von Liedern, das freie Improvisieren, Spiele mit Musik etc. bereiten Kindern Freude, jedoch kann die Zielsetzung jeweils eine andere sein. Die Methoden der Musiktherapie und der musikalischen Früherziehung sind an einigen Punkten übereinstimmend, die Ziele differieren aber. Im Mittelpunkt der musiktherapeutischen Arbeit steht immer das Erleben mit Hilfe von Musik und nicht das Erlernen musikalischer Formen.
Musiktherapeutische Elemente sollen die Gefühle der Kinder berühren und zum Ausdruck bringen, wie z. B. Ängste, Aggressionen, Kommunikationsstörungen, psychische Belastungen, Hemmungen usw.
Durch die verschiedenen Techniken können diese Gefühle im Spiel zum Ausdruck gebracht werden. Musik dient dabei oftmals als nonverbales Ausdrucksmittel, berührt aber das Innerste und Unbewusste des Kindes, deshalb lassen sich Gefühle leichter darstellen als durch sprachliche Äußerung, ähnlich wie beim kindlichen Spiel. Gleichzeitig wird Regression ermöglicht, d. h., das Kind kann emotional auf Entwicklungsstufen zurückfallen, in denen es unverarbeitete Erlebnisse oder nicht befriedigte Bedürfnisse verarbeiten bzw. nachholen muss, um zu gesunden.
Das Gruppenzugehörigkeitsgefühl wird durch musikalische Elemente gefördert. Musik ist Kommunikation und verbindet in der Gemeinschaft. Es gibt dabei oftmals ein gemeinsames Ziel und die Kinder lernen, aufeinander achtzugeben und sich wahrzunehmen. Klänge und Musik integrieren, schaffen ein klangliches Eingebettetsein in die Gruppe und eine besondere Form der Zugehörigkeit. Das Naturell der Kinder, sich im Spiel auszudrücken und Konflikte zu verarbeiten, wird damit auch in der Musiktherapie als Basis genutzt.
Beispiele für den Einsatz von musiktherapeutischen Elementen
Sexueller Missbrauch
Sarah (Name geändert), 8 Jahre, wurde zwischen ihrem 4. bis 6. Lebensjahr von dem Lebensgefährten ihrer Mutter sexuell missbraucht. Wie viele missbrauchte Kinder, konnte sie nicht darüber sprechen, was ihr Schlimmes widerfahren ist. Sie war über lange Zeit einer verletzenden, krankmachenden Situation ausgesetzt, erlebte Hilflosigkeit, Schmerzen, Angst, Verunsicherung, Selbstzweifel und eine tiefgreifende Isolation durch den Machtmissbrauch eines vertrauten Menschen. Eine Folge der traumatischen Situation war, neben den schwerwiegenden emotionalen Problemen und Entwicklungsdefiziten, selektiver Mutismus. Sarah sprach nur noch selten und nur gegenüber bestimmten Menschen. Sie besuchte deshalb eine Sprachheilschule und hatte kaum Freunde. Eine Spieltherapie erwies sich als schwierig, da Sarah auch in dieser schwieg und nicht agierte. Die Methode des musikalischen Dialoges eröffnete der zuständigen Therapeutin eine Kommunikationsmöglichkeit und damit Zugang zu Sarah.
Im Spielzimmer begann sie über die Djembe mit Sarah Kontakt aufzunehmen. Die Therapeutin gab Sarah eine kleine Djembe in die Hand und platzierte sich mit einer eigenen gegenüber dem Kind und ließ ihre Trommel „sprechen“. Sarah hielt die Trommel zunächst in ihren Händen fest, saß mit gesenktem Blick vor der Therapeutin und schien deren herantastendes Trommeln kaum wahrzunehmen. Auf einmal berührte Sarahs Hand ganz leise die Trommel und schlug diese an. Die Therapeutin antwortete ebenfalls ganz leise und behutsam, spiegelte Sarahs Versuch. Nun blickte Sarah das erste Mal zu ihr auf, lächelte die Therapeutin etwas verschämt an und spielte nun etwas mutiger.
Die Therapeutin antwortete Sarahs Schlägen, spiegelte sie und Sarah hatte sichtlich Spaß daran, bestimmen zu können, wie der musikalische Dialog fortgeführt wurde. Sie löste sich immer weiter aus ihrer Starre, so dass sie sich ohne Worte ausdrücken konnte und einfach durch das Instrument mit der Therapeutin im Dialog stand, und es machte ihr sichtlich Spaß.
Kindern, die erlebt haben, dass sie eine Situation nicht unter Kontrolle haben, tut es gut „den Rhythmus zu bestimmen“. Hier erfährt das Kind, dass die Therapeutin auf seine Anweisungen reagiert. Kinder, die dieses erleben, machen Fortschritte in der Selbstwahrnehmung und erlangen das Gefühl der „Kontrolle“ über eine bestimmte Situation zurück.
Manchmal wirken Instrumente wie Stimmen. Es zeichnen sich tiefe und hohe Töne ab, die ebenfalls miteinander in Kommunikation treten können. Wichtig ist bei missbrauchten Kindern, dass sie selbstbestimmt die Therapiestunde gestalten können. Im Fall von Sarah war es unbedingt notwendig, ihr Bedürfnis nach Abstand zu respektieren. Missbrauchte Kinder haben erfahren, dass ihre Grenzen missachtet wurden und brauchen jetzt Behutsamkeit und Achtung ihrer Selbstbestimmung.
Musiktherapie bei sozialen Störungen
Gerade in der musikalischen Gruppentherapie werden soziale Kompetenzen gefördert, gebildet und verfestigt. Bei vielen gruppenorientierten Methoden ist es wichtig, den anderen zu hören, seinen Rhythmus wahrzunehmen und mit dem ausgewählten Instrument zu antworten, sich einzubringen.
So hängt z. B. bei musikalischen Improvisationen das Gelingen von dem Aufeinanderabstimmen ab. Was hört sich gut und harmonisch an? Wie entstehen Disharmonien? Wie passen die einzelnen Instrumente zueinander? Wer ein sehr lautes Instrument besitzt, ist gefordert, sich trotz der mög- lichen Kraft des Tones anzupassen, damit auch die anderen noch gehört werden. Die eigene Laut-„Stärke“ muss der Gruppe angepasst werden. Auf der anderen Seite kann geübt werden, wie sich das Kind in die Gruppe einbringt, wie es ist, im Mittelpunkt zu stehen und gehört zu werden.
Beim gemeinsamen Musizieren und Singen entstehen automatisch Gefühle der Gruppenzugehörigkeit und soziale Beziehungen. Das Musizieren ist daher bis ins Jugendalter eine Möglichkeit des Kontaktaufbaus und der Herstellung von Beziehung. Jugendliche können eigene Texte bilden, um darin sogar ihre negativen Erfahrungen auszudrücken. Des Weiteren erfordern viele Musikinstrumente Sensibilität im Umgang, da sonst leicht etwas kaputt geht oder Töne entstehen, die nicht mehr klangvoll sind.
Musik hilft im Allgemeinen, Emotionen auszudrücken und dadurch heilsam zu wirken. Zudem vermögen Kinder und Jugendliche Erfolgserlebnisse zu verspüren, wenn sie in musikalische Kompetenzen eingebunden werden und erleben, wie wichtig sie als Person mit ihrem Instrument in der Gruppe sind.
Zusammenfassung
Musiktherapie bietet bei vielen kindlichen Auffälligkeiten und Störungen Hilfestellung. Klänge umgeben uns bereits im Mutterleib, später sind die Stimmen der Bezugspersonen eng an unser emotionales Erleben geknüpft.
Dadurch können Klänge und Töne Kinder und Erwachsene in besonderer Weise berühren und sogar bei sogenannten „Frühstörungen“, die in den ersten drei Lebensjahren entstanden sind, heilend wirken. Hier wird der „nährende Charakter“ musiktherapeutischer Möglichkeiten wirksam, die Therapeutin/der Therapeut kann mittels „geschenkter Klänge“ und durch den Einsatz ihrer/seiner Stimme das Unbewusste des Kindes/Klienten berühren und liebevolle Zuwendung geben. Musik und Klang können uns tragen, einbetten und entspannen. Wir sollten Kindern diesen positiven Zugang zu den Klängen der Welt und zur Musik mittels musiktherapeutischer Elemente im Bereich der Pädagogik und Therapie eröffnen und damit die natürlichen Heilungs- und Entwicklungskräfte fördern.
Literaturempfehlungen:
- „Musiktherapie mit entwicklungsverzögerten Kindern“, Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie, Berlin, 1999
- „Musiktherapie mit Kindern“, Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie, Berlin, 2000
- „Klingen, um in sich zu wohnen“, Methoden und Modelle leiborientierter Musiktherapie, Udo Baer/Gabriele Frick-Baer, Neukirchen- Vluyn, 2004
Bettina Papenmeier
Jg. 1968, Dipl. Soz. Pädagogin, Dipl. Soz. Arbeiterin, dipl. Legasthenietrainerin, Lehrerin für AT und PME, geprüfte Psychologische Beraterin. Seit 15 Jahren Dozentin im Bereich der Familienbildung und beruflichen Weiterbildung von ErzieherInnen, freiberufliche Begleitung von Kindern mit Lernauffälligkeiten, graphomotorischen Problemen, kreative Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im eigenen Atelier.