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Mittelstand verkennt Gefährdungspotenzial

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Managementtrainerin Melanie Göldner warnt in der Schweiz vor kritischen Tendenzen in der Arbeitswelt

2012-01-Mittelstand2Winterthur/Nienburg. Flache Hierarchien, flexiblere Arbeitszeiten, fachbereichsübergreifende Tätigkeiten: In vielen Berufen ist der Job angenehmer geworden – sollte man meinen. Die Nienburger Heilpraktikerin für Psychotherapie und zertifizierte Trainerin Melanie Göldner will das pauschal aber nicht unterschreiben. Im Gegenteil: Bei einem Treffen mittelständischer Unternehmer in der Schweiz warnte sie vor einem dramatischen Anstieg psychischer Erkrankungen in der Arbeitswelt. Davon betroffen sei gerade auch der Mittelstand.

Vor ihrem Wechsel in einen therapeutischen Beruf leitete die Betriebswirtin bei einem internationalen Konzern Projekte mit bis zu 150 Mitarbeitern und war unter anderem für Arbeitsmedizin und Gesundheitsschutz zuständig. Die Thematik ist ihr also vertraut: Nach Häufigkeit der gesundheitlichen Beeinträchtigungen stehen psychische Erkrankungen in den Statistiken der Krankenkassen meist an 4. Stelle. Bei den Kosten aber sind sie inzwischen – bedingt durch meist lange Ausfallzeiten - auf Rang 2 geklettert. Laut Techniker Krankenkasse nahm ihre Zahl allein von 2005 bis 2007 um rund 20 % zu; der Trend ist ungebrochen. Nach Erhebungen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK sind die Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen seit 1994 um 80 % gestiegen. Die Kosten sind immens: „Der volkswirtschaftliche Schaden summiert sich in Deutschland auf rund 6,3 Milliarden Euro im Jahr! Die Weltgesundheitsorganisation spricht in diesem Zusammenhang inzwischen von einer massiven Bedrohung für die entwickelten Volkswirtschaften“, so Göldner in Winterthur.

Zwar gebe es eine Reihe möglicher Gründe für steigende Fallzahlen: „Das Umfeld geht heute toleranter mit einer psychischen Beeinträchtigung um als vor 20 Jahren. Es fällt dem Betroffenen leichter, sich Hilfe zu suchen – also wird eine psychische Erkrankung auch eher als solche erkannt.“ Eine Rolle spielten auch Veränderungen in der Gesellschaft: Weniger klassische Familien, weniger stabile Beziehungen: „Das lässt dem Einzelnen zwar mehr Raum für seine persönliche Entfaltung. Aber wenn er psychisch ins Schleudern kommt, kann der Rückhalt im Umfeld fehlen.“

Besonders wichtig ist nach Überzeugung Göldners der Wandel in der Arbeitswelt: „Die Zeiten, in denen jemand seinen klar umrissenen Tätigkeitsbereich und seine festen Arbeitszeiten hatte, sind vorbei“, meint sie. „Es gibt ständig Schulungen und Fortbildungen. Jeder ist – überspitzt gesagt – ständig erreichbar: Handy war gestern, heute ist es der PDA oder gleich ein Smartphone. In fast allen Berufen und Unternehmen wird bereichsübergreifendes Denken und Handeln erwartet.“

Flachere Hierarchien mit mehr Verantwortung für den Einzelnen, mehr Technik, ständige Erreichbarkeit haben die Arbeitswelt anspruchsvoller gemacht, glaubt Göldner: „Es ist ein Irrglaube anzunehmen, dass wir durch Internet, E-Mail oder Smartphone mehr Zeit hätten. Die Zeit, die wir gewinnen, wird anderweitig verplant. E-Mails und SMS zu lesen und zu beantworten ist auch bei der Arbeit ein Zeit- und Konzentrationsfresser geworden.“ In vielen Bereichen gelte als altmodisch, wer Wert auf einen „echten“ Feierabend legt, Arbeit und Privatleben trennen will. Laut EU, so Melanie Göldner, ist in keinem anderen Land der Euro-Zone die Diskrepanz zwischen tariflicher und tatsächlicher Arbeitszeit so groß wie in Deutschland. „Und das“, meint die Managementtrainerin, „liegt nicht nur an den bösen Arbeitgebern. Die Mitarbeiter treiben sich gegenseitig weiter. Wer nicht mitzieht, ist außen vor – mit unangenehmen Folgen in der Welt von Twitter und Facebook.“

Weil Zeit knapp wird, fehlt sie für die Betreuung der Kinder; zunehmend aber auch für pflegebedürftige Angehörige. „Es geht nicht mehr nur um Kindergartenplätze. Viele Mütter oder Väter wünschen sich auch eine Betreuung ihrer schulpflichtigen Kinder. Und sie brauchen Unterstützung bei der Pflege ihrer Eltern.“ Parallel zur Arbeitswelt beschleunigt sich das Privatleben, mit Wechselwirkung auf den Job – Stress ist, so die Heilpraktikerin für Psychotherapie, „eine betriebswirtschaftliche Größe geworden“. Großunternehmen und Konzerne hätten das Problem erkannt und suchten nach Wegen, ihm zu begegnen, schildert Melanie Göldner Erfahrungen aus ihrer Arbeit in Hannover und Salzgitter: Zum Teil über rigorose Vorschriften zur „Entschleunigung“; zum Teil über medizinische oder sportliche Angebote.

„Das Phänomen zunehmender psychischer Erkrankungen trifft aber eben nicht nur die Konzerne, sondern auch den Mittelstand und sogar – wenn auch sicher in geringerem Maße – das Handwerk.“ Denn die enge Verzahnung der Wirtschaft bis auf die internationale Ebene lasse „Ausreißer“ kaum zu. Und das wird teuer: „Die Kosten für einen Tag Arbeitsausfall bewegen sich laut AOK und Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zwischen 100 und 400 Euro – unabhängig von der Größe des Unternehmens.”

Die steigenden Kosten sind aber nur die eine Seite des Problems – die andere zeigt sich beim demografischen Wandel. Göldner: „In allen Betrieben werden die Mitarbeiter immer älter. Gleichzeitig gibt es weniger Nachwuchs – die Betriebe sind also aus Eigeninteresse gut beraten, ihre Mitarbeiter möglichst lange möglichst gesund zu halten.“ Ein Großunternehmen oder gar ein Konzern hat es, allein schon unter Karrieregesichtspunkten, grundsätzlich leichter, geeigneten Nachwuchs zu finden; außerdem können Großbetriebe einfacher eigene Maßnahmen zur Gesundheitspflege ihrer Mitarbeiter und gegen Stress entwickeln. „Da liegt eine Gefahr für den Mittelstand“, meint die Fachfrau.

Eine Lösung könne sein, die Situation auf Betriebs-, lokaler oder regionaler Ebene zu analysieren und – gegebenenfalls in Kooperation mit einer Krankenkasse – eigene oder betriebsübergreifende Konzepte zu entwickeln. „Es gibt eine Reihe von Instrumenten, mit denen auch ein Mittelständler arbeiten kann – oder auch jeder Einzelne: Auch Menschen aus Heilberufen sind nicht gegen Stress gefeit.“ Melanie Göldner findet ihren Ausgleich in fernöstlichem Kampfsport: „Karate zwingt dazu und hilft dabei, sich zu zentrieren. Körper und Geist müssen im Einklang sein. Für Stress und Gedankenkreisen ist da kein Platz.“

Jens Heckmann, Redakteur
Unternehmenskommunikation
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