Hochsensibel? Hochkompetent!
„Mimose“, „Weichei., „Sei nicht immer so empfindlich“, „Mann, bist du kompliziert“, „Du hörst die Flöhe husten” ...
Die Bezeichnungen und Redewendungen, mit denen sensible Menschen in unserer westlichen Zivilisation bedacht werden, sind bestenfalls nicht gerade schmeichelhaft, schlimmstenfalls sogar beleidigend. Zu fest verankert sind Vorstellungen von Kraft und Stärke, von Machertum und Powerfrauen, von tatkräftigen Energiebündeln, die ihr Leben fest in die eigenen Hände nehmen und Schmied ihres Glückes sind.
Es liegt auf der Hand, dass solche Idealbilder, auch wenn sie unausgesprochen bleiben, einen Einfluss auf die Entwicklung der menschlichen Psyche haben. Dabei ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass dieses Menschenbild in unserer Gesellschaft einen hohen Wert darstellt, sprich in Europa und Amerika, dass es aber in anderen Teilen der Welt durchaus anders ist. Studien zufolge sind in China die sensiblen und nachdenklichen Kinder hoch angesehen im Klassenverband, während diese Eigenschaften in Kanada zu den am wenigsten angesehenen gehören.
Dabei ist der Prozentsatz derer, die mit einem hochsensiblen Nervensystem auf die Welt kommen, gar nicht klein. Forschungen belegen, dass es sich um 15 bis 20 % der Bevölkerung handelt. Parallelstudien haben das gleiche Ergebnis auch im Tierreich nachgewiesen. Es scheint so zu sein, dass hochsensible Individuen auch bei höheren Säugetieren, vor allem bei Katzen, Hunden, Pferden und Nagetieren vorkommen, und zwar zum gleichen Prozentsatz.
Elaine N. Aron, klinische Psychologin aus San Francisko und Pionierin in der Erforschung der Hochsensibilität, zieht daraus den Schluss, dass diese Eigenschaft nützlich für die ganze Spezies ist (Elaine N. Aron, „Das hochsensible Kind“, 2008, S. 37 bis 40). Dieser Gedanke ist bestechend, denn es scheint nahezuliegen, dass Tiere, die vorsichtiger sind, langsamer, Gefahren eher bemerken oder Wasserstellen leichter aufspüren, der ganzen Herde nützlich sind.
Bei dieser prozentualen Verteilung ist kein Unterschied zwischen den Geschlechtern feststellbar. Es gibt genauso viele weibliche Hochsensible wie männliche. In den vergangenen Jahren ist das Interesse am Thema Hochsensibilität/Hochsensitivität stark gestiegen. Das liegt meines Erachtens daran, dass gleichzeitig die Hektik und der Trubel des Alltags ebenso stark zugenommen haben. Viele Menschen, darunter die meisten Hochsensiblen, können und wollen mit dieser Entwicklung nicht mehr Schritt halten. Erkrankungen wie Burnout sind oft die Folge. Das Phänomen Hochsensibilität ist sichtbarer geworden, obwohl es immer schon sensible, auch hochsensible Menschen gegeben haben dürfte.
Was versteht man nun genau unter dem Begriff Hochsensibilität? Es kursieren einige Bezeichnungen für dasselbe Phänomen. Begriffe wie Hochsensitivität, Hyperempfindlichkeit, Dünnhäutigkeit sind nur ein paar der Schlagworte, denen man auf seinen Recherchen begegnet. Der sich im deutschen Sprachgebrauch eingebürgerte Begriff Hochsensibilität geht im Grunde auf eine ungenaue Übersetzung zurück. Elaine Aron prägte in den 1990er Jahren aufgrund ihrer Forschungen den Begriff „highly sensitive person“, was streng übersetzt „hochsensitive Person” bedeutet. Diese Bezeichnung schließt alle Sinne mit ein, während man im deutschen Sprachraum unter einem hochsensiblen Menschen vor allem Feinfühligkeit und Empathievermögen versteht. Darum ist es korrekter, weil umfassender, von Hochsensitivität zu sprechen.
Bereits C. G. Jung, Iwan Pawlow, Jerome Kagan und Alice Miller haben festgestellt, dass es unterschiedliche Typen von Menschen gibt. Bei Jung sind es die Introvertierten, bei Pawlow und Kagan die weniger Belastbaren, bei Miller die begabten Kinder. Alle diese Forschungen behandelten Teilaspekte der Hochsensitivität. Erst Elaine Aron gelang es, die verschiedenen Puzzleteile zu einem Ganzen zusammenzufügen und zu erforschen.
Hochsensitive/hochsensible Menschen werden mit einem Nervensystem geboren, welches sie innere und äußere Reize wie durch einen Verstärker wahrnehmen lässt. Das hat zur Folge, dass HSP (so die übliche Abkürzung für hochsensitive Personen) ständig einem ungefilterten Strom von Reizen ausgesetzt sind. Diese Reizüberflutung führt dann schnell zur so genannten Überstimulation. Darunter versteht man einen Zustand der Desorganisiertheit.
Das Schema des Yerkes-Dodson-Gesetzes macht deutlich, dass nur der optimale Aktivierungsgrad zu optimalen Ergebnissen führt. Die „Komfortzone“, d. h. der Raum, in dem jemand sich wohl fühlt (optimal aktiviert ist), kann sehr schmal sein. Bei hochsensitiven Menschen ist dieser Grat deutlich schmaler als bei Nichthochsensitiven. Betroffenen ist schnell alles zu viel, ihr Verhalten ist für Außenstehende manchmal launisch und unberechenbar, selbst kleinste Alltagstätigkeiten können überstimulierend wirken, so dass der innere Speicher der Betroffenen nahezu ständig bis zum Rand gefüllt ist.
Dazu kommt, dass HSP oft Schwierigkeiten haben, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, was dazu führt, dass alle Anforderungen des Lebens gleichwertig nebeneinander bestehen, das Ausräumen der Spülmaschine gleichermaßen wie das Ausfüllen der Steuererklärung oder ein Vorstellungsgespräch. Auch wenn äußerlich wenig läuft, sind Hochsensitive oft so in ihren eigenen Gedankenkreiseln verhaftet, dass auch das schon überstimulierend sein kann. Auch Langeweile kann als Überstimulation verstanden werden.
Die Tendenz, ständig überstimuliert zu sein, ist ein wichtiges Merkmal von Hochsensibilität/ Hochsensitivität. Ein weiteres Kriterium ist das lange Nachhallen, d. h., jedes Erlebnis, auch kleine alltägliche Situationen, bleiben im Gedächtnis und im seelischen Empfinden lange präsent. So kann ein Telefongespräch oder ein Wortwechsel wochenlang das innere Erleben bestimmen und von der Arbeit ablenken.
Es ist leicht nachvollziehbar, dass die Kombination zwischen der Überstimulation aufgrund hoher Wahrnehmungsfähigkeit und dem langen Nachhallen dazu führt, dass die Betroffenen sich oftmals wie in „Watte gepackt“ oder in einem inneren Chaos gefangen fühlen. Für Vorgesetzte und Arbeitskollegen kann es dann den Anschein haben, als sei dieser Mensch unstrukturiert, chaotisch, ja, im schlimmsten Fall sogar unzuverlässig.
Dieses Missverständnis trifft Hochsensible besonders hart, denn sie haben meistens einen starken Perfektionsdrang und stellen hohe Ansprüche an sich und Andere. Sie leiden oft an der Diskrepanz zwischen ihren Ansprüchen, den Anforderungen durch die Umwelt, und ihrem Unvermögen, sich zu erklären und die eigene Erlebenswelt unter Kontrolle zu bringen.
Lebensbereiche, in denen diese Veranlagung, wenn schon nicht verstanden, so doch oft noch toleriert wird (Familie, Freunde), so kann es beruflich schwierig werden. Durch ihr reiches Innenleben und großen Erfahrungsschatz fühlen sich Hochsensible oft zu sozialen Berufen hingezogen, kommen aber mitunter in Konflikt mit hierarchischen Strukturen, der Zusammenarbeit im Team und der fehlenden Rückzugsmöglichkeit. HSP, welche einen unpassenden beruflichen Platz haben, erkranken oft psychosomatisch. Burnout, Mobbing und Depressionen können die Folge einer hochsensiblen Veranlagung sein. Harrt jemand wider seine Natur möglicherweise über Jahre in einer unbefriedigenden Situation aus, kommt noch „das Leiden am sinnlosen Leben“ (Viktor Frankl) dazu.
Deshalb kommt der Prophylaxe eine außerordentlich hohe Bedeutung zu. Es kann nicht oft genug betont werden, wie wichtig es ist, frühzeitig die eigene Hochsensibilität zu erkennen und sinnvoll in die eigene Persönlichkeit zu integrieren.
Da Hochsensitive im Laufe ihrer Sozialisation meistens das Gefühl verinnerlichen, nicht „ganz richtig zu sein“ und irgendwie „anders zu ticken“, haben sie oft ein brüchiges Selbstbewusstsein entwickelt. Das Selbstbewusstsein zu stärken, gehört zu den klassischen Zielsetzungen in Therapie und Beratung. Aus der Erfahrung heraus kann ich berichten, dass sich für hochsensitive Menschen ein integrativer Ansatz in der Beratung bewährt hat, welcher aus kognitiven, emotionalen (affektiven) und körperlichen Methoden besteht. Es wirkt oft schon entlastend für den Klienten oder die Klientin, diese drei Ebenen (Gedanken, Gefühle und Körperwahrnehmung) voneinander zu trennen und einzeln zu betrachten. Somit lernt der Klient/die Klientin, die eigene Wahrnehmungsfähigkeit gezielt einzusetzen und das Bewusstsein für die eigenen Empfindungen zu entwickeln.
Ebenso können auch die Gefühle und die Körperreaktionen wahrgenommen und bearbeitet werden, z. B. durch Focusing. Belastende Gefühle oder körperliche Empfindungen können symbolisiert werden, wie es z. B. in den Methoden zum inneren Team geschieht, und mithilfe von gezielten Fragen und dem Erarbeiten von „Lösungsbildern“ der gewünschte Zustand vorweggenommen werden. Hilfreich dabei ist die lösungsorientierte Beratung, die Aufstellungsarbeit (insbesondere die systemische Strukturaufstellung von Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibed) und die Hypnotherapie nach Ericcson.
Dabei ist nie aus den Augen zu verlieren, dass viele Einstellungen und „Empfindlichkeiten“ aufgrund von Sozialisationserfahrungen entstehen und nicht ursächlich auf eine angeborene Disposition zurückzuführen sind. Deshalb ist es in der Beratung immer wichtig, zu trennen zwischen dem, was erlernt, und dem, was das Eigene ist.
Somit ist es im Laufe des Beratungsprozesses möglich, ein gesundes Selbstbild zu entwickeln, Strategien zur Bewältigung des Alltags auszuprobieren sowie lebensfreundliche Einstellungen und Perspektiven zu gewinnen. Gelingt dies, kann der hochsensitive Mensch sehr viel Energie und Engagement aufwenden, um das zu erreichen, was ihm wirklich wichtig ist, und einen passenden Platz in der Gesellschaft einnehmen.
Ich bin überzeugt davon, und die Erfahrungen mit meinen Klienten und Klientinnen bestätigen dies, dass HSP durch ihre Kreativität, ihre Empathie, ihr ethisches Gewissen und durch ihren inneren Reichtum für die Gesellschaft wichtig sind und etwas bewirken können. Grundvoraussetzung dafür ist jedoch eine veränderte Haltung der Eigenschaft der Sensibilität gegenüber sowie Mut, außergewöhnliche Lebensentwürfe zu leben und sich dem eigenen Rhythmus anzuvertrauen. Hochsensibel und hochsensitiv zu sein bedeutet, viel Disziplin aufbringen zu müssen. Kein anderer Typus ist meiner Ansicht nach nach so gefordert, in Kontakt mit sich selbst zu treten, ja, man könnte sagen, dass Hochsensitivität der Aufruf nach Entwicklung und Transzendenz ist.
Durch Zwillingsstudien ist die Forschung der Ansicht, dass Hochsensibilität ein angeborener Wesenszug ist (vgl. D. Daniela und A. Plomin: „Origins of Individual Differences in Infant Shyness“, in: Developmental Psychology 21 (1988), S. 167 bis 171).
Sensibilität gehört aber wie alle anderen Wesenszüge auch zu den veränderlichen Persönlichkeitsmerkmalen eines Menschen. Da die Hochsensitivität sich nur anhand von Indizien nachweisen lässt, gibt es Bereiche, in denen sie sich mit anderen Phänomen überschneidet. Deshalb braucht es für die Erkennung und Behandlung große Erfahrung seitens der Berater. Besonders im Bereich Reizüberflutung liegt die Ähnlichkeit mit ADHS – hier besonders die stillere Variante, das ADS – auf der Hand. Während das ADS- oder ADHS-Kind immer Schwierigkeiten hat, sich zu konzentrieren, tritt die Konzentrationsschwäche bei Hochsensiblen nur aufgrund von Überstimulation auf.
Lehrer und Eltern sollten also zunächst einmal genau beobachten, wann das Kind überreizt ist, welchen Stimulantien es vielleicht schon vor Tagen ausgesetzt war, ob es dazu neigt, sich viele Gedanken zu machen usw., bevor sie eine übereilte Diagnose stellen. Mehr zum Thema Hochsensibilität und ADHS/ADS finden Sie in diesem Buch: Birgit Trappmann-Korr: „Einfach anders und trotzdem ganz normal“.
Erwachsene können manchmal nach einem besonders belastenden oder gar traumatischen Erlebnis feststellen, dass sie auf einmal so empfindlich sind. Die Posttraumatische Belastungsstörung weist ebenfalls Ähnlichkeiten mit Hochsensibilität auf. Hier ist es hilfreich, sich auf die Kriterien zu besinnen, die im ICD-10 zur PTBS festgelegt sind. Hochsensible haben in der Regel keine „Flashbacks“.
In den letzten Jahren hat die Neurobiologie wichtige Erkenntnisse für die Psychologie liefern können. Manche Forscher sind der Ansicht, dass durch die Erklärung biochemischer Vorgänge im Gehirn jegliches Verhalten und alle seelischen Zustände nachweisbar sind. Zum Thema Hochsensibilität weiß man durch moderne bildgebende Verfahren (MRI), dass verschiedene Hirnregionen bei HSP stärker aktiviert sind als andere, z. B. das limbische System, welches für Gefühle und Stimmungen zuständig ist. Bis auf die bekannte Wechselwirkung von zu wenig Serotonin und zu viel Cortisol scheint es keine auffälligen Unterschiede zwischen Hochsensiblen und Normalsensiblen zu geben, obwohl manche Autoren von der Besonderheit des gekippten Keilbeins sprechen (Hofmann: „Hochsensible Kinder“).
Es ist festzustellen, dass die Forschung sich dieser Zielgruppe noch nicht zugewandt hat. Dementsprechend fehlen seriöse Studien und Forschungsergebnisse, die das Phänomen Hochsensitivität auf eine wissenschaftliche Ebene stellen würden. Immerhin entstehen zurzeit Master- und Diplomarbeiten von heilpädagogischen und therapeutischen Fachleuten, die sich im Rahmen ihrer Ausbildung dem Thema zuwenden.
Diese Entwicklung stimmt zuversichtlich, dass die Veranlagung der Hochsensitivität weite Kreise von therapeutischem und beraterischem Fachpersonal erreicht und damit zum besseren Verständnis der Betroffenen beiträgt.
Zum weiteren Studium empfohlen:
www.zartbesaitet.net
www.hochsensibilitaet.ch
www.ifhs.ch
Brigitte Schorr
Jahrgang 1965, Psychologische Beraterin und Erwachsenenbildnerin, Studium der sozialen Verhaltenswissenschaften, Erziehungswissenschaften und der Soziologie, Trainerin für Kompetenzmanagement nach CH-Q, spezialisiert auf Angebote und Beratungen für hochsensible Menschen, Autorin.
Institut für Hochsensibilität IFHS Untersteinstraße 6, CH 9450 Altstätten