Interkulturelle Kompetenz in der Praxis
Was ist interkulturelle Kompetenz und was bedeutet interkulturelle Kommunikation? Warum benötigen wir das eine und sollten das andere anwenden – und zwar sowohl in Theorie als auch in der Praxis bei der Arbeit mit dem Patienten? Was haben negativer Stress und seine Vermeidung damit zu tun?
Zahlen des Statistischen Bundesamtes für 2010 belegen, dass rund 20 % der Bevölkerung Deutsche oder Ausländer mit Migrationshintergrund sind. Hinzu kommen Deutsche oder Ausländer ohne unmittelbaren Migrationshintergrund, die aber einen starken Bezug zu anderen Kulturen als der deutschen haben, sowie Studierende (2008 rund 130.000). Können wir es uns also bei einem Anteil an der Bevölkerung von mindestens 30 %, der nicht der deutschen Mehrheitsgesellschaft zugeordnet werden kann, leisten, diesen zu ignorieren?
Schon der Begriff Kultur ist schwer greifbar. Wir Menschen sprechen von „unserer“ Kultur und denken in aller Regel: Wir haben sie einfach – und zwar die richtige. Wir sind „eben so“ und der „Andere“, der “Fremde”, muss sich mit „seiner“ Kultur an uns anpassen und dies am besten so weit, dass er nicht mehr auffällt und in seinem Aussehen, Handeln und Auftreten nicht mehr von der Mehrheitsgesellschaft zu unterscheiden ist – also von „uns“. Was Kultur nun so genau eigentlich ist, darüber denken wir selten nach und nehmen – deshalb häufig unreflektiert – nur durch die eigene „kulturelle Brille“ wahr.
Kultur und Kommunikation
Die Wissenschaften unserer Zeit stehen mehrheitlich hinter der Annahme, nach der Kultur (lat.: cultura = Bearbeitung, Pflege, Ackerbau) stets etwas vom Menschen selbst Gestaltetes ist und im Gegensatz zur Natur steht, die aus sich selbst heraus ist. Wenn Kultur aber nun Weiterentwicklung der Natur ist, kann sowohl Natur wie auch Kultur nur durch die eigene – individuelle und kollektive – kulturelle Brille gesehen werden. Und diese Brille tragen – auch wenn sie unterschiedliche Stärken hat – alle Menschen. Es gibt einige Interpretationen des Begriffes Kultur. Im hier besprochenen Kontext kann man darunter ein Sinnsystem verstehen, das für eine bestimmte Gruppe von Menschen gültig ist, und welches
1. gemeinsames Wissen, gemeinsame Wertvorstellungen, Weltbilder, Deutungsmuster und Gewohnheiten einer Gruppe sowie
2. daraus folgende Handlungsmuster und Verhaltensweisen beinhaltet, die zu
3. der kulturellen Identität des Individuums bzw. einer sozialen Gruppe führt, die das Zugehörigkeitsgefühl zu einem definierten kulturellen Ganzen und die daraus resultierende Gegenüberstellung des „Eigenen“ zum „Anderen“ im Gepäck führt.
Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Bewegungsströmen. Diese haben natürlich Spuren hinterlassen. Im Zuge der Migrationen entwickelten sich ständig neue Ausprägungen kultureller Eigenschaften. Deshalb gibt es auch nicht die Kultur im Sinne von statischen, so schon immer gewesenen kulturellen Gegebenheiten, wie sie durch erworbene Fähigkeiten, Wissen und Traditionen hervorgebracht werden. Es gibt lediglich immer wieder Zeiten, in denen kulturelle Veränderungen innerhalb einer Gesellschaft in solch kleinen Schritten stattfinden, dass sie von den betroffenen Menschen in ihrem Leben gar nicht wahrgenommen werden. Es gibt deshalb ein von der Mehrheit einer Gesellschaft in ihrem Erlebensabschnitt wahrgenommenes Gefüge, das sich identitätsstiftend darstellt. Es ist ein System, in dem man sich wiederfindet, das durch Traditionen, Sitte und Brauchtum sowie Regeln des Zusammenlebens Halt gibt und Sicherheit. Es handelt sich um die sogenannte kulturelle Identität. Man weiß, wer man ist, wohin man gehört und was die soziale Gruppe zusammenhält. Man spricht dieselbe Sprache. Alle Gruppenmitglieder (er-)kennen sich und können sich in den anderen Mitgliedern spiegeln.
Wenn diese Sicherheit bedroht wird, sei es auch nur aufgrund eines subjektiven Angstgefühls, einer persönlichen oder gemeinschaftlich empfundenen Unsicherheit, wird diese „eigene“ Kultur zum schützenswerten Gut; sie wird als besonders wertvoll empfunden, gelobt und gepriesen und muss verteidigt werden. Dabei zeigt die Erfahrung, dass die Menschen einer Gesellschaft, deren kulturelles System, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr oder noch nicht sehr stabil ist, sich schneller stärker bedroht sehen, als jene mit einem stabilen Selbstvertrauen. Das gilt für die Menschen aufnehmender Gesellschaften ebenso wie für die „Fremden“, die sich in einer neuen Umgebung zurechtfinden müssen, und Angst haben, ihren Halt und ihr Selbstvertrauen zu verlieren, weil sie ihre kulturelle Identität verlieren könnten. Diese Verlustangst ist unabhängig von Fakten; es reicht das Gefühl der Verunsicherung. So erklärt sich z. B., warum in den neuen Bundesländern eine gewisse Ablehnung allem Fremden gegenüber stärker ausgeprägt ist als im Westen, obwohl dort viel weniger Ausländer oder Menschen mit Migrationshintergrund leben. Daraus erklärt sich auch, warum viele Mitbürger mit ausländischen Wurzeln in Deutschland sehr viel zurückgezogener, traditioneller und konservativer leben, als sie dieses im Heimatland tun würden.
Alle sind anders – ich auch
Nehmen wir das Beispiel von Hund und Katze: Sie sind nicht grundsätzlich verfeindet. Meist verstehen sie einander nur nicht; sie sprechen einfach völlig verschiedene Sprachen und senden Signale aus, die der jeweils Andere nicht verstehen kann bzw. die bei ihm eine ganz andere Bedeutung haben und deswegen anders interpretiert werden. Ein Beispiel: Wedelt die Katze mit dem Schwanz, ist sie nervös, der Hund hingegen signalisiert auf diese Weise – wenn auch manchmal mit nicht so freundlichen Hintergedanken – Frieden und Freundschaft. Hund und Katze gehen sich also lieber aus dem Weg. Es gibt einige, meist kennen sie sich von klein auf, die schaffen es, sich gegenseitig zu ignorieren und leben in so genannten Parallelgesellschaften, was, wenn es uns Menschen geschieht, schon als erfolgreiches Multikulti bezeichnet wird. Aber nur sehr selten liegen Hund und Katze wirklich vertraut nebeneinander auf dem Sofa oder spielen gar miteinander.
„Ihr Inder fahrt doch völlig chaotisch Auto; es gibt überhaupt keine Regeln und wenn eure Autos zum TÜV müssen, wird sowieso nur die Hupe geprüft. Da bekommt man ja Angst, auf die Straße zu gehen.“ „Natürlich haben wir Regeln, aber im Gegensatz zu euch Deutschen halten wir sie nicht um jeden Preis ein; wir passen sie den Gegebenheiten an. Also wir fahren offensiv Auto, ihr aber aggressiv.“ (Aus einem Gespräch mit Freunden in Indien, November 2011).
Unsere kulturelle Brille, geformt nicht zuletzt durch gruppendynamische Konditionierungen, ist stark mit ausschlaggebend dafür, was wir wahrnehmen, wie wir es wahrnehmen und wie unsere Wertvorstellung dazu ist. Sie ist maßgeblich für ausgeprägte oder mangelnde Flexibilität im Umgang mit anderen, fremden, neuen Situationen und Menschen. Sie ist deshalb ausschlaggebend für unsere Handlungen und unsere Verhaltensmuster. Diese sind zwar auch abhängig von unserer jeweiligen individuellen „Biologie“ und unserer mentalen, psychischen und physischen Verfassung. Sie liegt aber mitnichten „im Blut“. Grundsätzlich können wir deshalb Konditionierungen auch verändern; wir können lernen, verlernen oder neu lernen. Wir können aber vor allem hinzulernen und auf diese Weise interkulturelle Kompetenz erlangen.
Diese stellt zunächst lediglich fest, dass Kultur nicht überall gleich ist und dass sich Menschen aufgrund ihrer jeweiligen kulturellen Konditionierungen nicht immer und überall in gleicher Weise auf neue Gegebenheiten einstellen können – weil sie diese entweder gar nicht erkennen, und wenn doch, sie an ihrem jeweiligen Wertemaßstab messen. So senden sie Zeichen aus, Signale, die der „Andere“ nicht verstehen kann und sie reagieren auf Signale des „Anderen“ für diesen ebenso befremdlich. Missverständnisse sind vorprogrammiert, negativer Stress wird produziert, gesteckte Ziele können nicht erreicht und gewünschte oder erhoffte Ergebnisse nicht erzielt werden. Nun kann kein Mensch auf dieser Welt alle kulturellen Besonderheiten aller Kulturen kennen oder erkennen – und schon gar nicht kann er von einer kulturellen Sichtweise zur nächsten springen. Möglich ist aber, sich ein Bewusstsein dafür anzueignen, dass es neben den eigenen Sichtweisen, Denk- und Handlungsmustern auch andere gibt, ohne diese von vornherein zu werten und zu verurteilen. Das ist interkulturelle Kompetenz. Und erst, wenn eine solche erreicht wurde, ist echte interkulturelle Kommunikation möglich.
Diese ist aber auch abhängig vom Wissen um das eigene Ziel, das mit Aufnahme eines jeden Austausches verbunden ist. Was will ich vom Anderen, was erwarte ich von ihm? Integration, Assimilation, Verstehen und Verständnis? Möchte ich ein guter Gastgeber sein für einen Gast? Möchte ich dem Anderen ermöglichen oder erleichtern, in meinem Land zu leben. Sollen langfristige Geschäftsbeziehungen aufgebaut werden? Möchte ich ihm medizinisch, psychotherapeutisch, beratend helfen können? Bevor ich mir die Frage stelle, was ich in welchem Umfang von dem Anderen möchte, sollte ich mir darüber im Klaren sein, ob das, was ich sage und wie ich es kommuniziere, auch beim Gegenüber überhaupt so ankommen kann. Das heißt: Wenn ich mit Anderen, mit Fremden kommunizieren, arbeiten oder leben möchte, muss ich zum einen über meinen kulturellen Hintergrund, meine Handlungs- und Verhaltensmuster Bescheid wissen und zum anderen auch über die meines Gegenübers.
Von Eisbergen und Zwiebeln
Nur ca. 10 bis 20 % eines Eisberges ragen aus dem Wasser. Der weitaus größere Teil des Berges ist unter Wasser verborgen, und zwar vielfältig geformt und raumgreifend. Wenn nun ein Schiff nicht vorbereitet ist auf den Eisberg und keine professionellen Hilfsmittel hat, die unter Wasser drohenden Gefahren zu erkennen und ggf. zu umschiffen, ist ein Zusammenstoß vorprogrammiert – die Vermeidung bleibt dem „Glück“ überlassen. Schon der österreichische Arzt Sigmund Freud verglich das menschliche Bewusstsein mit einem Eisberg. Für ihn waren die 10 bis 20 % dessen, was als Eisberg über dem Wasserspiegel liegt, mit dem Anteil menschlichen Verhaltens zu vergleichen, den wir in täglichen Situationen bewusst anwenden. Was sich unter Wasser verborgen abspielt, hat einen großen und in vielem sogar bestimmenden Einfluss auf das, was sich über Wasser ereignet, hat also Einfluss auf unsere Handlungen, ohne, dass wir uns dessen unmittelbar bewusst sind.
In der Trainingspraxis für Kommunikationsstrategien hat sich der Begriff Eisbergmodell eingebürgert, der gemäß dem tatsächlichen Aussehen eines Eisberges Kommunikationsverhalten analysiert. Oberhalb des Wassers „liegt“ das gesprochene Wort, die unmittelbare Körpersprache und das sichtbare Verhalten. Unter der Wasseroberfläche befinden sich hingegen die Motive, Erfahrungen, Emotionen, Bedürfnisse, Normen, die den eigentlichen Motor für das Geschehen über der Wasseroberfläche darstellen. Sie sind schwerer zugänglich und werden sich unter Umständen überhaupt nicht zeigen – wenn man nicht interkulturelle Kompetenz erworben hat und darüber hinaus zu entsprechender Kommunikation fähig ist.
Die Kultur einer Gruppe zeigt sich unter anderem auch darin, was und wie gegessen wird, wie wir uns kleiden und aufeinander zugehen, aber eben auch darin, wie wir denken, fühlen und handeln. Kultur sind 21 unsere Normen, Werte und Haltungen, aufgrund derer wir eben denken und fühlen.
Und somit kommen wir zum Begriff der Kulturzwiebel. Wenn wir die Schalen einer Zwiebel Schicht für Schicht entfernen, kommen wir letztlich zum Kern, der das Wesentliche der Zwiebel darstellt.
Der französisch-niederländische Wissenschaftler Alfons „Fons“ Trompenaars, ein führender Protagonist im Bereich interkultureller Kommunikation, stellt Kultur ebenfalls anhand einer Zwiebel dar. Er setzt die explizite Kultur, die sich auf Gegenstände und Produkte im weitesten Sinne bezieht, also auf das, „was man sieht“, auf die äußeren Schalen.
Die mittleren Schalen beinhalten Werte und entscheiden über das, was „Gut und Böse“ ist. Im Kern der Zwiebel befinden sich die impliziten Werte, d. h. die grundlegenden Annahmen über die Existenz. Der Zwiebelkern beinhaltet den Motor, der sich aus Werten, Normen und Glaubenssätzen zusammensetzt. Diesen Motor kann man als Außenstehender meist nicht sehen. Dieser ist es aber, der den Menschen in Bezug auf seinen Umgang mit Raum und Zeit, Freundschaft, Sippe, Clan, Familie, Gesellschaft, Kindererziehung, Geschlechterrolle, Arbeitsmoral antreibt und beherrscht.
Die Bedeutung in der Praxis
„Nun sagen Sie mir doch einfach einmal in wenigen Worten, was Ihnen fehlt. Haben Sie eventuell Probleme zu Hause?“, fragt der Arzt seine Patientin, die wegen massiver Rückenbeschwerden in seine Praxis gekommen war. Klinischen Untersuchungen ist sie nur bedingt zugänglich. „Haben Sie sich zu dem Gymnastikkurs angemeldet, den ich Ihnen verschrieben habe?“
Frau O. weicht aus und erzählt stattdessen von der Oma, die nächste Woche zu Besuch kommen wird.
Es kann verschiedene Gründe für diese Antwort geben, die dem Arzt gar nichts sagt, da er keinen Bezug zur Frage sieht. Deutschland ist ein hoch individualisiertes Land, Omas sind wichtig, ihr Besuch auch. Aber was der Besuch der Oma mit einem notwendigen Gymnastikkurs zu tun haben sollte, leuchtet ihm nicht ein. Er fragt nach:
„Sie könnten aber dennoch zu dem Kurs gehen. Der tut Ihnen gut. Sie müssen mehr an sich denken ...”
An sich gedacht – losgelöst von der Familie – hat Frau O. vielleicht ihr ganzes Leben noch nicht. In Deutschland denkt man immer an sich, denkt sie vielleicht, alles Egoisten ohne Sinn für die Familie, und sie überlegt, ob sie weiterhin zu diesem Arzt gehen soll. Dr. A. hingegen versteht Frau O. entweder gar nicht oder hält sie für unterdrückt, weil sie gar nichts Eigenes machen kann. Er denkt auf jeden Fall, dass er sich klar ausgedrückt hat – Frau O. denkt das über ihre Antwort ebenfalls.
Dr. A. hat eine typisch deutsche „klare“ Ansage gemacht, gerichtet an seine Patientin, die nun eine ebenso klare Antwort geben und die vor allem den Kurs zu ihrem eigenen Besten besuchen soll. Dr. A. folgt seiner kulturellen Konditionierung, nach der man erstens klar und direkt sagt, was „Sache“ ist, um die es letztendlich geht, und man zweitens ebensolche Antworten erwartet, und zwar möglichst zügig; denn Zeit ist knapp.
Frau O. hingegen stammt eventuell aus einem der Länder der Welt (und es ist dies die überwiegende Anzahl aller Länder), in dem es zum einen ausgeprägte Machtdistanzen gibt und Hierarchien, die unbedingt beachtet werden müssen, innerhalb des gesellschaftlichen Gesamtgefüges, innerhalb der Sippe und auch innerhalb der Familie. Dann stammt sie folglich sehr wahrscheinlich auch aus einer Region, in der das Individuum wenig, die Gruppe alles bedeutet. Vielleicht folgt sie auch einem Weltbild, in dem das Leben von Frauen und Männern getrennt stattfindet und Frauen niemals mit Männern in einem Gymnastikkurs turnen würden. Wenn diese Aspekte zutreffen, zumindest Teile davon, wird Frau O. auch aus einer Welt kommen, in der man nie eine negative Antwort geben würde, zumindest nicht so brutal direkt. Das ist unhöflich.
Im vorliegenden Fall leidet Frau O. unter starken Rückenbeschwerden. Dr. A. hat zudem den Verdacht, dass sie einfach zu viel arbeitet und unter psychosomatischen Beschwerden leidet. Er möchte Frau O. helfen, deren unruhiges, „gestresstes“ Verhalten in der Praxis auffällig ist. Frau O. fühlt sich aber durch die direkte Ansprache unter Druck gesetzt. Wie soll sie mit dem Thema Gymnastikkurs umgehen. Sie empfindet die Besuche bei Dr. A. zunehmend als Belastung. Sie überlegt, „da“ nicht mehr hinzugehen, weil ihr Dr. A. ohnehin nicht helfen kann.
„Herr D. stammt aus dem Iran und studiert seit einem Jahr in Deutschland. Zunächst begann alles sehr gut. Sein Professor war zufrieden; der Kurs wurde ja in Englisch gehalten; so gab es auch keine Sprachprobleme. Die Kommilitonen wunderten sich zwar, dass Herr D. immer so zurückhaltend war und offensichtlich keinen Kontakt wollte, aber sie ließen ihn dann in Ruhe. In letzter Zeit leidet Herr D. unter Schlafstörungen, neulich brach er im Labor plötzlich in Tränen aus und klagte über Herzrasen. Sein Professor riet ihm, sich durchchecken zu lassen – ohne Ergebnis, alles in Ordnung. Seit einer Woche kommt Herr D. immer später ins Labor. Sein Professor schickt ihn zum psychologischen Dienst der Uni; dort erzählt Herr D., dass er vielleicht doch lieber wieder nach Hause gehen sollte. Am nächsten Tag erzählt er im Labor, dass alle gegen ihn seien. Der Professor denkt darüber nach, ob Herr D. wirklich für eine Promotion geeignet ist. Der psychologische Dienst rät Herrn D., weniger zu arbeiten, mal zu entspannen und unter Leute zu gehen. Herr D. bedankt sich ...
Herr D. kommt aus einem Land mit ausgeprägter Willkommenskultur; eine solche gibt es in Deutschland nicht. Hier wartet man nicht oder vergebens darauf, dass Kontakt und Hilfe an einen herangetragen werden. Man geht auf andere Menschen zu, wenn man etwas möchte, man kümmert sich selber. Wer dies nicht tut, bleibt allein. Und viele Menschen sind offensichtlich gern allein. Nicht Herr D., der aus einem Land kommt, in dem kaum jemand freiwillig alleine leben würde; aus einem Land, in dem ein Professor eine hierarchisch hochgestellte Persönlichkeit ist, die man nicht einfach anspricht, von der man aber den Schutz und die Fürsorge eines „Vaters“ erwarten kann, aus einem Land, in dem die Mitbewohner im Studentenwohnheim ihn, den Neuen, einladen würden!
Herr D. ist schlicht einsam; er droht an dieser Einsamkeit, die ihm niemand erklärt und die auch seinem psychologischen Berater nicht klar ist, der ihm deshalb auch nicht die richtigen Antworten geben kann, zu zerbrechen. Denn nach Hause könnte Herr D. auch nicht – zu groß wäre die Schande, der Gesichtsverlust. Herr D. ist auch verzweifelt, weil doch zu Anfang alles so großartig gewesen war, solche Hoffnungen hatte er in dieses Land und in sein Studium gesetzt ... und jetzt ist er fremd und allein und einsam.
Der Kulturschock
Er trifft früher oder später beinahe jeden, der sich in andere „Welten“ begibt. Diese können im eigenen Land, quasi „um die Ecke“, liegen, sehr wahrscheinlich aber überall dort, wo kulturelle Unterschiede hart aufeinanderprallen. Der Kulturschock beschreibt einen als schockartig empfundenen Sturz aus der Euphorie in das Gefühl, fehl am Platze zu sein, fremd, nicht dazugehörig. Dem klassischen Einwanderungsland Kanada entstammt deshalb auch der Anthropologe Kalvero Oberg, der ein U-förmiges Kulturschockmodell entwickelte, welches 1996 von Prof. Dr. Wolf Wagner um eine 5. Phase erweitert wurde.
Die Phase 1 beschreibt die Ankunft: Man kommt erwartungsvoll an, findet alles aufregend und interessant, zumindest akzeptabel. Wenn erste Kontaktschwierigkeiten auftreten und man sich schlecht fühlt, vielleicht sogar schuldig deswegen, beginnt Phase 2. Um darin nicht zu verharren, wird in Phase 3 die fremde Kultur zur „Gegenseite“, man klammert sich an das, was man kennt, die eigene Kultur wird eventuell verherrlicht. Aus dieser Polarisierung resultieren in Phase 4 häufig Missverständnisse, die aber gleichzeitig durch die Gegenüberstellung der Kulturen erklär- und hinnehmbar gemacht werden: „Wir haben halt unterschiedliche Kulturen.“ Die Phase 5 beschreibt die Überwindung des Kulturschocks durch Verständigung. Unterschiedliche Spielregeln werden verstanden, akzeptiert und oft auch geschätzt.
Symptome eines Kulturschocks können sein: Gefühl der Hilflosigkeit und Zurückweisung durch Andere, starkes Gefühl der Fremdheit und dadurch Bedrohung. Dieses führt dann unter Umständen zu starkem Heimweh, Frustration, Einsamkeit, Zorn, Wut und Aggressionen, körperlichen Stressreaktionen, Angst, Panik, Depression. Das sind alles Symptome, die wir unter Umständen überhaupt nicht mit der Ursache in Verbindung bringen, weswegen wir z. B. in der Behandlung völlig falschen Ansätzen folgen und zu Schlüssen kommen, die nicht nur nicht helfen, sondern verschlimmern – und mindestens zu zusätzlichem negativem Stressgeschehen führen. Was geschieht nun, wenn jemand ganz alleine ist mit seinem Kulturschock, wenn er überhaupt nicht auf einen vorbereitet war, weil er sich alles, was dann kam, gar nicht hatte vorstellen können? Nicht den Schock als solchen, nicht die vermeintlich gänzlich andere Kultur, die man nun nicht verstehen kann? Und das in einem Land wie Deutschland, das mit individualistisch geprägter Erwartungshaltung an Selbstständigkeit von jedem Fremden aus einer gruppengeprägten Kultur als hart, kalt und abweisend wahrgenommen werden muss? Und wo ihm niemand je in „seiner Sprache“ Antworten geben kann?
„Letzten Monat war meine Frau so krank; sie aß nicht, sie saß nur da ... wir mussten den Notarzt holen; zwei Tage war sie in der Klinik. Nun ist aber alles gut; sie hat die richtige Medizin bekommen ...“ „Ihre Frau leidet unter Einsamkeit. Sie muss Deutsch lernen, sie muss rausgehen ...“ „.Ja, aber ich komme immer erst spät aus der Uni zurück; aber es geht ihr auch schon viel besser …”
Deutschland ist Deutschland. So ist es hier eben, mag man sagen. Dennoch: Was will ich von und mit dem Fremden? Was ist mein persönliches, was ist das berufliche Ziel, das ich hier unter Umständen vertrete? Es reicht nicht, an der Uni englischsprachige Studiengänge einzuführen, diese mit schönen Bildern zu bewerben und zu glauben, dass nunmehr nur noch glückliche ausländische Studierende hier leben werden. Es ist auch nicht ausreichend, seinem IT-Spezialisten aus Indien ein gutes Gehalt zu zahlen und ihn „genauso“ zu behandeln „wie alle anderen auch“. Und auch jede „Behandlung“, jede Therapie ist nur so gut, wie die Diagnose, und nur dann erfolgreich, wenn sie kulturspezifische Besonderheiten berücksichtigt. Eine davon ist, dass psychotherapeutische Ansätze in vielen Ländern der Welt überhaupt keine Tradition haben.
Schock geht davon aus, dass er ansonsten völlig Gesunde befällt, die mit einer plötzlich auftretenden neuen Situation nicht adäquat umgehen, sich aber im Laufe der Zeit anpassen können.
Es kommen hingegen Menschen aus ganz fremden Lebenswelten, und es kommen Flüchtlinge und Asylsuchende. Viele von ihnen haben Schreckliches erlebt: Krieg, Hunger, Vertreibung, massive Unterdrückung, Vergewaltigung, Mord, Naturkatastrophen ... sie sind oft traumatisiert und leiden unter den vielfältigsten Störungen. Und wir erwarten eine gesunde, unserem Kulturkreis angemessene, Verhaltensstruktur. Aber das wird nicht funktionieren, wenn wir nicht über grundlegende interkulturelle Kernkompetenzen verfügen und unsere Handlungen nicht entsprechend anpassen. Deshalb noch ein kurzes Wort zu psychologischen Stressreaktionen.
Diese sind von der individuellen Wahrnehmung der Umwelt und somit von der daraus folgenden kognitiven Bewertung eines Stressors abhängig. Der Mensch versucht im Falle eines „Angriffs“ durch einen Stressor (… fremdes Land, andere Kultur, andere „Sprache“) sich mit dem Stressfaktor auseinanderzusetzen und sucht eine Anpassungsmöglichkeit, die sein Wohlergehen sichert. Reicht das nicht aus, durchforstet er in einem zweiten Schritt seine Ressourcen, um mit der Stresssituation besser umgehen zu können. Diesem Schritt folgt dann eine Neubewertung, idealiter eine positive, dem persönlichen Wohlbefinden förderliche. Damit diese Schritte keine krankmachende Richtung einschlagen, die Akzeptanz eines negativen emotionalen Zustandes und gegebenenfalls Rückzug bedeuten, muss ihm dabei geholfen werden. Deshalb muss auch eine Diagnose alle Aspekte berücksichtigen, die zu diesem Stressgeschehen beigetragen haben. Das wiederum kann nur gelingen, wenn alle Menschen, die mit Personen aus anderen Kulturkreisen erfolgreich arbeiten wollen, zumindest so viel von grundsätzlichen kulturellen Unterschieden verstehen – und unter Umständen sogar von länderspezifischen – und mit ihnen umgehen können. Das kann man aber lernen. Wenn erst einmal eine Basis zur Verständigung geschaffen ist, kann darauf sehr gut aufgebaut werden. Das kann dann auch ruhig auf „typisch deutsche“ Weise geschehen.
Carola Seeler
Die Betriebswirtin arbeitet seit rund 20 Jahren bei einer großen Organisation, die sich mit dem Austausch von Studierenden und Wissenschaftlern befasst. Sie ist Autorin, zertifizierte Psychologische Beraterin (VFP) und Heilpraktikerin für Psychotherapie