Demenz ... oder der Ruf nach der Mutter!
Fast täglich können wir neueste Erkenntnisse über die Entstehung von demenziellen Erkrankungen in Magazinen und Zeitungen lesen und es scheint, als nehme die Krankheit erschreckend zu, vor allem seitdem dieses Thema häufig sogar in deutschen Kinofilmen seinen Platz findet.
Ich habe mich bereits während des Studiums an der Paracelsus Schule Berlin mit der Gerontologie angefreundet, wobei sie schnell zu einer Obsession wurde und mich als Dozentin zu einer „Spezialistin“ für Demenzen machte. Da ich auch ambulant therapeutisch in der Alten- und Eingliederungshilfe arbeite, referiere ich nicht aus dem Lehrbuch, sondern wende die ganzheitlichen Schlüssel und Werkzeuge meiner täglichen Praxis im Umgang mit kognitiv eingeschränkten Menschen an.
Ein prägendes Erlebnis waren die Lehrstunden des Dozenten der Paracelsus Schule, Herrn Menzel, der die spirituelle und ganzheitliche Sicht der Demenzen aufzeigte. Meine Faszination war geweckt und ich suchte mir einen Praktikumsplatz in einer Seniorenresidenz, die über einen geschützten Demenzbereich verfügte. Ich war nun sehr neugierig darauf, das Gelernte und Verstandene anzuwenden, um zu schauen, ob ich mit diesen Erkenntnissen auch praktisch arbeiten könnte. Ich konnte! Der plötzliche Erfolg und die Wandlung der Bewohner mit der Diagnose Demenz wurde durch die Unterstützung der Wohnstättenleiterin, des Pflegepersonals und der Angehörigen untermauert.
Was ist so anders an meiner Arbeit? Ich wende doch nur die Theorie des Dozenten in meinem therapeutischen Tun an. Hier liegt der Schlüssel, denn trotz der verbreiteten Meinung, dass der Umgang mit demenziell Erkrankten schwierig und herausfordernd sei, zeige ich täglich, dass es so einfach ist, dass es für Außenstehende fast wie Zauberei wirkt.
Auch als Dozentin wühle ich im Urschleim psychologischer Wissenschaften und Erkenntnisse, um den Mitarbeitern in der Pflege die Ursachen, die ganzheitlichen Zusammenhänge zu schildern, um sie zu motivieren, diese im täglichen Umgang praxisnah anzuwenden, um den Betroffenen wahrhaftig, kompetent und in Würde zu begegnen. Darüber hinaus erleichtert es den beruflichen Alltag aller Pflegekräfte sowohl im temporären als auch im inhaltlichen Ablauf in den einzelnen Bereichen.
Es berührt mich sehr, wenn ich immer wieder mit schimpfenden und mit Regressen ausgestatteten Mitarbeitern konfrontiert werde, die ihren privaten statt des kompetenten Modus im Umgang mit Menschen mit demenzieller Erkrankung anwenden, obwohl regelmäßige Weiterbildungen für dieses Krankheitsbild in der Altenpflege Pflicht sind. Nur zeigt sich ganz offensichtlich, dass das Lehren schulmedizinischer Entstehungsfaktoren wohl nicht zu einer kompetenten und erleichternden Herangehensweise führt.
Auch hier gilt ein Umdenken, denn die aktuelle Debatte um Verbesserungen in der Pflege sollte sich nicht nur um Erhöhung der Bezüge und mehr Personal drehen, sondern um die Möglichkeit, mit vorhandenen Ressourcen bestmöglich zu arbeiten. Das bezieht die Erweiterung des Horizonts mit ein, neben der Gabe von Medikamenten zu erkennen, dass die ganzheitliche heilpraktische Sicht und Herangehensweise ihren festen Platz in der Altenpflege haben muss. Das Schwierige ist, Kritikern immer wissenschaftliche Beweise liefern zu müssen. Ich sage, wendet es an, handelt danach und die Ruhe, die Schmerzreduktion und das verbesserte Wohlbefinden Betroffener sind Beweis genug!
Wie die Überschrift dieses Artikels vermuten lässt, ist der Schlüssel die Mutter. Und bevor es gleich Proteste hagelt, es geht weder um Schuldzuweisungen noch um eine Absicht seitens der Mutter, ihr Kind vernachlässigt zu haben.
Hierzu schauen wir die psychologische Entwicklung nach Freud bzw. Dosen an.
Sigmund Freud
- Über-Ich (konditioniertes Ich) 7. bis 12. Lebensjahr
- Ich (Bewusstsein) 3. bis 7. Lebensjahr
- Es (Unterbewusstsein) bis 3. Lebensjahr
Emotionale Entwicklungsphasen nach Anton Dosen
- Erste Adaption bis 0,5 Jahre, Integration von sensorischen Stimuli und Strukturen
- Erste Sozialisation 0,5 bis 1,5 Jahre, soziale Bindung, Bildung Vertrauensbasis
- Erste Individuation 1,5 bis 3 Jahre, Ich-Du-Differenzierung, Objektkonstanz
- Erste Identifikation 3 bis 7 Jahre, Ich-Bildung, Ich-Zentriertheit, Lernen aus Erfahrung
- Entwicklung/Moral 7 bis 12 Jahre, Ich-Differenzierung, moralisches Ich, Realitätsbewusstsein, logisches Denken
Neben neuen Studien der Charité in Berlin, der Forschung allgemein, bei denen es um Plaques in der Gehirnstruktur geht, um multifaktorielle Ursachen der Entstehung von Demenzen, zeige ich die emotionalen Entwicklungsphasen auf, um den zentralen Wert der Mutter bei der persönlichen Entstehungsgeschichte Einzelner zu verdeutlichen.
Emotionale Entwicklung mit in die Weiterbildungen im Umgang mit kognitiv eingeschränkten Menschen heranzuziehen, ist nichts Neues. Ich gehe jedoch noch einen Schritt weiter, indem ich im therapeutischen Ansatz die mütterliche Liebe ins Zentrum des Umgangs stelle, um eine Art der Heilung zu erlangen, die wissenschaftlich zwar nicht zu belegen ist. Wenn man allerdings das Wort „Heil“ betrachtet, das als „wieder gesund“ oder „ganz in sich“ frei zu übersetzen ist, kann man allein durch dieses fehlende Teil – die Liebe der Mutter – Heilung auch bei Demenzerkrankten erlangen.
Irgendwann in den ersten sieben Lebensjahren während der eigenen emotionalen Entwicklungsphasen gibt es eine widernatürliche Trennung bzw. ein Lösen von der Mutter oder eben der Person, die direkt nach der Geburt die Rolle dieser Bindungsperson einnimmt. Je früher in der Entwicklung der innere oder äußerliche Verlust erlebt wird, desto schwerer wiegt die Auswirkung auf die Psyche und die Persönlichkeit. Dies ist bereits von den verschiedensten Psychologen, Wissenschaftlern und Sozialpädagogen beschrieben worden, jedoch ist dieser Zusammenhang keiner, der seinen Platz in der Beschreibung der Ursache für Demenzen findet.
Die mütterliche Liebe zeigt bereits Erich Fromm in seinem lesenswerten Buch „Die Kunst des Liebens“ auf, in dem er die Liebe differenziert darstellt, wobei er bei der mütterlichen Liebe von der bedingungslosen Liebe spricht. Auch diese Erwähnung Fromms beziehe ich in meinen Therapien mit demenziell erkrankten und auch oligophrenen Menschen mit ein.
Die Trennung der Mutter kann zu Verlustängsten und Anpassungs- und Persönlichkeitsstörungen führen, aber wirklich auch zu Demenzen?
Die Psyche kennt wunderbare Strategien, um das Überleben ihres Gefäßes, ihres Menschen, zu fördern. Durchaus, von außen betrachtet, führt ein Mensch, der schreckliche Traumata auf der Flucht von Schlesien oder Ostpreußen erlebte, ein gelungenes, erfolgreiches Erwachsenenleben mit allen verfügbaren Verdrängungsstrategien, die ihm seine Psyche zur Verfügung stellt. Nur da fehlt ein Link, ein Stück, um heil zu sein. Irgendetwas scheint ein Mensch, der durch Krieg, Verfolgung und andere Erlebnisse traumatisiert ist, zu suchen und zu brauchen, um sich ganz in Körper, Geist und Seele zu fühlen.
Es sind nicht die schrecklichen Ereignisse, die die Belastung an sich ausmachen, sondern die Erlebnisse in der ersten Adaption oder ersten Sozialisation, bei denen der Schlüssel darin liegt, ob die Mutter einem die bedingungslose Liebe, Fürsorge und Sicherheit geben konnte. Nun wissen wir, dass auch die Mütter oft beladen von Verwundungen ihrer Seele, geplagt von Verlustängsten und Bindungsstörungen einfach psychisch nicht die Werkzeuge hatten, um ihren Kindern dieses für jedes Säugetier so wichtige Instrument der konstanten und beständigen auf Vertrauen aufbauenden Liebe zuteil werden zu lassen.
Nun möchte die Seele aber gehört werden und sendet ein Leben lang Hinweise auf die Defizite, denen es gilt, aufmerksam gegen- über zu sein – und eben diese gewagte These, dass die Erkrankung an einer Demenz dieses Heilwerden begünstigt und möglich machen kann, wenn man die fehlende Bedienung der einzelnen Entwicklungsphasen des Erkrankten nicht wiederholt.
Denn nun verläuft die emotionale Entwicklung rückwärts und man kann sie sicherlich mit Antidementiva, gesunder Lebensweise und engmaschiger Kooperation von Ergo- und Physiotherapeuten im Verlauf verlangsamen, jedoch nicht aufhalten oder gar heilen (im Sinne schulmedizinischer Heilung).
Aber mit dem Wissen, dass es die Beziehung zur Mutter ist, die es gilt, erneut dem Erkrankten zuteil werden zu lassen, kann man zum Seelenheil beitragen. Nun, was hat derjenige davon? Der Mensch kann in Frieden in die nächste Stufe gehen, was immer nach dem physischen Tod auch wartet, es scheint wichtig für die Psyche zu sein, dass bestimmte Blockaden und Ungeklärtes noch in dieser Lebensstufe gelöst werden.
Häufig kann man bei demenziell Erkrankten ein Festhalten am Leben beobachten, trotz physischem und geistigem Verfall. Da überlebt er Lungenentzündungen, Knochenbrüche und schwere grippale Infekte, und als Außenstehender bringt man nur Verwunderung hervor, warum dieser Mensch einfach nicht sterben zu können scheint.
Bereits in der Rückwärtsentwicklung der emotionalen Entwicklung in die „erste Identifikation“ beginnt der demente Mensch nach seiner Mutter zu fragen oder zu rufen.
Naomi Feil hat da hervorragende Validationstechniken entwickelt, um den kognitiv eingeschränkten Menschen in seiner Wahrnehmungswelt abzuholen und die Bedürfnisse zu bedienen. Mir geht das nicht tief genug. Zwar spreche ich nach Naomi Feil nun nicht von „Mensch, Ihre Mutter ist doch seit 25 Jahren tot“ und validiere, indem ich dem Bewohner erzähle, seine Mutter würde sich verspäten und er solle schon mal mit dem Essen beginnen, jedoch ist das nicht das fehlende Teil, das der Mensch nun braucht. Er braucht seine Mutter, die die aktuelle Verlustangst versteht und ihm mit Liebe und Körperkontakt begegnet.
Es geht nicht um ein Schauspiel, dass wir dem Betroffenen vorgaukeln, wir seien seine Mutter – so funktioniert das nicht. Der Auftrag besteht im bedingungslosen Befriedigen der Bedürfnisse, die der demenziell Erkrankte stellvertretend als sein früheres inneres Kind hat, das ist „Ich liebe dich so, wie du bist, ich gebe dir Sicherheit in einer Konstanz und ich gebe dir Zuneigung in interaktivem Kontakt.“ Wir treten an die Stelle seiner Mutter mit vestibulierenden, wiegenden Bewegungen oder auch mit basalen Stimuli, Summen und Singen bekannter Kinderlieder.
In der Pflege ist es notwendig, Stabilität und einheitliches Verhalten anzubieten, denn differente Vorgehensweisen führen eher zur Verunsicherung.
In meiner täglichen Praxis in den verschiedensten Einrichtungen erlebe ich immer großartige Programme für das Gedächtnis und die Feinmotorik. Ich vermisse Programme für die Seele. Wenn ich mit Bewohnern „nur“ spazieren gehe, sie dabei an die Hand nehme, diese auch noch streichele und sie anschließend auf meinen Schoß nehme, ernte ich anfangs irritierte Blicke, denn jahrelang lernten die Mitarbeiter, in der Pflege Distanz zu wahren und zu siezen, um nicht erniedrigend im Verhalten zu wirken.
Diese sind jedoch nicht als übergriffige Handlungen einzustufen, sondern bedienen die Bedürfnisse der einzelnen emotionalen Entwicklungsstufen, je nachdem, in welcher der demente Mensch sich gerade befindet. Interessanterweise kategorisiert der ICD-10 Demenzen in drei Schweregraden, die auch in ihrem Äußern des Krankheitsbilds der Entwicklung nach Sigmund Freud oder eben differenzierter nach Anton Dosen zu beobachten sind. Zentral steht immer das Ich oder die Ich-Du-Differenzierung. Das muss in der ganzheitlichen Herangehensweise berücksichtigt werden, da das Ego jedes Menschen von wichtiger persönlicher Reifung ist. Im Vordergrund steht demnach immer das Stärken des anderen Ichs, während ich das meinige zurückstelle.
Befindet sich der demenziell Erkrankte im mittleren Schweregrad, so macht sich das eben nicht nur in Störungen des Gedächtnisses, sondern im erhöhten Maße mit einem Verhalten, das man durchaus als Trotz einstufen darf, bemerkbar, da sich derjenige von der Entwicklung her in der ersten Ich-Identifikation befindet, d. h. er benimmt sich egozentrisch, möchte seine Kekse nicht teilen, möchte sofort Gehör finden und viele andere bekannte Verhaltensweisen dieser Entwicklungsphase. Hier ist die Notwendigkeit, dieses Ich mit Verständnis, Liebe und auch positiver Ignoranz zu unterstützen, wenn die eine Bewohnerin die andere kneift, weil nicht sie, sondern die andere neben der Betreuerin am Tisch Platz nehmen darf.
In dieser Phase sind zwar Wortfindungsstörungen und Störungen des inhaltlichen und formalen Denkens zu beobachten, jedoch besitzen die Betroffenen noch ihre allgemeine Sprache, eben jene eines drei- bis siebenjährigen Kindes. Schon hier zeigt der demente Mensch einen erhöhten Bedarf an Körperkontakt. Dieses Bedürfnis gilt es zu bedienen, um den typischen Anzeichen einer Trennungsangst, wie plötzliche Wutanfälle, generalisierte Ängste und stereotypes Verhalten, entgegenzuwirken.
Spiele mit Luftballons und Gedächtnistraining wie sie im Allgemeinen in Wohnstätten angeboten werden, verbessern diese Verhaltensauffälligkeiten nicht, ganz im Gegenteil, hier kommen noch Frustrationen und das Gefühl der Unzulänglichkeit hinzu. Körperkontakt durch Streicheln, Klopfen des Rückens und Wiegen gepaart mit valider Kommunikation hilft, Ängste zu mindern und Vertrauen zu erkennen.
In der letzten, meist längsten Phase ist die demenzielle Erkrankung durch Sprachverlust, vermehrte Störung im Antrieb und Störungen der Vitalität in Form von Schlafrhythmusstörungen und mangelndem oder vermehrtem Appetit gekennzeichnet. Dieser Mensch befindet sich in der ersten Adaption bzw. ersten Sozialisation und es ist daher nachvollziehbar, dass er einen hohen Bedarf an Beständigkeit durch eine Bezugsperson hat. Hierbei ist das Rufen und Fragen nach der Mutter ein fester Bestandteil des Tagesablaufs.
Nicht „Mensch-ärgere-Dich-nicht“ oder „Eier bemalen“ sollen nun im Vordergrund stehen, sondern das Geben von mütterlicher bedingungsloser Liebe. Das Umdenken muss mit dem Wissen, dass jeder zweite Bewohner einer Seniorenwohnstätte eine Demenz diagnostiziert bekommt, schnell passieren, denn wir sind alle verantwortlich, dass der Mensch human und mit dem bestmöglichen Wissen mit Erfolgsschlüsseln ausgestattet wird, damit er in Frieden von der Erde gehen kann und seine Seele am Ende seines Lebens das erfährt, was aus verschiedenen Umständen seine Mutter nicht in der Lage war, ihm zu geben.
Erstaunlich ist immer wieder, dass in der Sterbephase am letzten Tag, in den letzten Stunden nochmals ein wacher, teilweise reflektierter Moment aufkommt, in dem es zu Dankes- oder Liebesbekundungen kommt.
Eine Dame, Hedwig, aus einem geschützten Demenzbereich sagte plötzlich, nachdem sie fest meine Hand drückte: „Oh Mädchen, es tut mir so leid, ich war wohl ganz schön anstrengend und du hast dich so rührend um mich gekümmert, danke!“
Nicole Casper
Heilpraktikerin für Psychotherapie, NLP-Trainerin, Referentin in Senioreneinrichtungen, Schwerpunkt Gerontologie, Arbeit mit dementen Menschen
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