Fallstudie: Prozessorientierte Gestalttherapie: von der Einzeltherapie zur Familientherapie. Aspekte des Kontaktmodells.
Ich möchte hier den Verlauf der Therapie von Frau L. schildern, die als Einzeltherapie begann. Sie kam aufgrund einer ungünstig verarbeiteten Trennung, die zu einer depressiven Symptomatik sowie zu Kontakt- und Beziehungsproblemen führte. Im Laufe der Zeit wurde deutlich, dass es sinnvoll war auch den Sohn, bei dem im Grundschulalter ADHS diagnostiziert wurde, mit einzubeziehen.
Als Gestalttherapeutin nutze ich mich selbst als Katalysator des Geschehens. Die gestalttherapeutische Theorie ist recht komplex, in diesen Ausführungen beziehe ich mich hauptsächlich auf Kontaktstörungen bzw. gelungene Kontaktprozesse.
Frau L.
Frau L. ist eine kompetent wirkende, attraktive junge Frau, die als Sozialpädagogin in einer Tagesklinik arbeitet. Sie sucht mich in meiner Praxis auf, um eine Blockade zu bearbeiten, die sich seit der Trennung vom Ehepartner entwickelt hat. Immer wenn ein interessanter Partner in der Nähe sei, verschließe sie sich komplett. Sie könne sich nicht auf ein Gespräch einlassen, könne ihr Gegenüber kaum anschauen und müsse die Situation verlassen.
Auch in unserem Erstkontakt bemerke ich, wie Frau L. den Augenkontakt nur sehr kurz hält. Ein Gefühl von Scham macht sich bei ihr bemerkbar. Ich registriere es, um es eventuell, wenn sich genügend Vertrauen entwickelt hat, zu vertiefen. Dies im Erstkontakt ohne genügend aufgebaute Unterstützung anzusprechen, kann zum Kontaktabbruch führen.
Die häusliche Situation als alleinerziehende Mutter mit einem an ADHS erkrankten Kind überfordere sie. Sie erklärt, dass sie eine gestalttherapeutische Unterstützung ausgesucht habe, da sie sich vorstellen kann, mithilfe kreativer Medien schneller zum Ziel zu kommen. Sie verbinde Gestalttherapie mit der Arbeit mit kreativen Mitteln. Ich erläutere ihr, dass ich je nach Anforderung gerne mit kreativen Mitteln arbeite, diese aber meiner Erfahrung nach nicht immer der „schnellste“ Weg seien. Das unmittelbarste Medium in der gestaltterapeutischen Arbeit sei der Kontakt selbst, also auch unser Kontakt im Hier und Jetzt, und die Erforschung dessen, was z. B. auch zwischen uns beiden geschehe, oder aber auch der Kontakt zum eigenen Körper, dessen Wahrnehmung und der Kontakt zur dinglichen Umwelt. Zentrales Anliegen dabei sei, die Wahrnehmung dessen, was jetzt ist und was ausgeblendet wird, zu schärfen.
Zum Ende der Stunde frage ich sie, ob sie sich vorstellen könne, mit mir zu arbeiten. Frau L. schaut mich an, schon ein bisschen länger, und meint, dass sie gerne mit mir weiterarbeiten möchte. Ich spüre eine Verbindung in unserem Blick und freue mich. Trotzdem bin ich gespannt, ob sie zur nächsten Stunde erscheinen wird.
Lebensgeschichtliche Entwicklung
Frau L. ist mit ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder und den Eltern aufgewachsen. Die Beziehung zur Mutter beschreibt sie als symbiotisch und sehr eng. Sie hat das Gefühl, ihre Mutter habe ihr zwei Kernsätze mitgegeben: „Du sollst nicht glücklich werden als Frau, weil ich in meinem Leben auch nicht glücklich geworden bin“ und „Dir soll es mal besser gehen als mir”. Die Mutter von Frau L. ist eine vom Leben und den Beziehungen sehr enttäuschte Frau, die von einer großen Ambivalenz geprägt ist. Frau L. hat sehr früh gelernt sich den Forderungen der Mutter zu beugen und sich bemüht „eine gute Tochter“ zu sein. Sie möchte die Mutter nicht enttäuschen. Sie hat auch gelernt, dass der Kontakt zur Mutter immer mit sehr großen Anstrengungen ihrerseits verbunden ist. Hinsichtlich der eigenen Bedürfnisse wurde sie von ihrer Mutter gerne als „gierig“ bezeichnet, was ihr sehr unangenehm war und ist. Sie bemühe sich deshalb, nicht gierig/bedürftig zu sein oder zu erscheinen.
Die Beziehung zum Vater beschreibt sie als ungelebt. Er ist seit Jahren schwer erkrankt und bettlägerig. In früheren Jahren hat sie ihn als streng und unnahbar erlebt.
Als Jugendliche ist Frau L. immer ein Stück über die eigenen Grenzen gegangen. So erzählt sie eine Episode, in der sie Frostbeulen an den Füßen bekam, als sie vor einer Diskothek anstand, um eingelassen zu werden. Sie habe den Schmerz erst nachher gespürt.
Krankheitsanamnese
Vor ca. drei Jahren habe sie im Rahmen einer depressiven Phase (kurz nach der Trennung) ungefähr ein Jahr lang eine Psychotherapie (Verhaltenstherapie) gemacht und Antidepressiva erhalten. Ihr sei es anschließend besser gegangen und sie habe im Einvernehmen mit dem Therapeuten sowohl die Therapie als auch die Einnahme der Medikamente ausgeschlichen. Seitdem gehe es ihr größtenteils gut, die häuslichen Streitereien mit dem Sohn belasten sie allerdings sehr. Außerdem fühle sie sich manchmal beruflich überfordert und ihr fehle eine nahe Beziehung, ein Lebenspartner.
Gestalttherapeutische Diagnostik
Zu Beginn der Therapie fällt auf, dass sie sehr schnell vom Erzählen in eine weinerliche Stimmung verfällt, insbesondere wenn ihre unerfüllten Bedürfnisse deutlich werden. Das Kontaktverhalten ist eingeschränkt, sie wendet den Blick häufig ab und schaut im Raum umher. Sie redet, ohne den Blickkontakt zu halten, insbesondere wenn es um sie und ihre Bedürfnisse, Schwächen, Wünsche und Hoffnungen geht.
Sie hat Probleme damit, einen Aspekt ihrer Persönlichkeit, nämlich die Bedürftigkeit, zu haben, zu leben und zu integrieren.
Psychodynamik
Die Lebensgeschichte gibt über die vom Leben enttäuschte Mutter Anlass zur Vermutung, dass Frau L. nicht ausreichend orale Wünsche nach Versorgung und Genährtwerden ausleben konnte. Die eigene Bedürftigkeit, die Wünsche und Sehnsüchte werden verachtet und im Beruf hauptsächlich als „Helfer“ kompensiert, ausgelebt.
Frau L. kann ihr berufliches Verhalten sehr genau und differenziert schildern, in dem sie sich als kompetent und sicher erfährt. Hier kann sie ihre Anteile ausleben wie: „Ich bin sanft, nett und gebe alles. Ich werde gebraucht.“ Hier arbeitet sie bis an die Grenzen der Belastbarkeit und versorgt sich dabei selbst schlecht. Bis sie nicht mehr kann, zusammenbricht und sich krank meldet. Sie steckt ihre eigenen Bedürfnisse zurück und verkehrt Ärger und Unwohlsein ins Gegenteil, mit der Hoffnung, sich als Helfer unentbehrlich zu machen, so gesehen zu werden und Anerkennung zu bekommen.
Ihr Mann beginnt sich abzuwenden, sobald der Sohn auf der Welt ist. Ihre Welt dreht sich zunehmend vereinnahmender um den Sohn. In der Versorgung und Hinwendung erlebt sie sich als gebraucht und fühlt sich gesehen. Den Ehemann, der sich abwendet, registriert sie nur aus den Augenwinkeln heraus. Die Beziehung scheint ihrem inneren Druck nach Anerkennung und Zuwendung nicht gewachsen zu sein. Ihr Mann gerät zunehmend in Konkurrenz zum Sohn um die Zuwendung der Mutter. Er verletzt und erniedrigt seine Frau. Die Eltern von Frau L. schlagen sich auf die Seite des Ehemannes, da sie als Frau und Mutter versage. Sie hatte immer den Traum von Familie: Vater, Mutter und Kind, der nun zerbricht. Seitdem fühle sie sich als Frau nicht mehr „erwünscht“.
Solange der Sohn klein und unselbstständig ist, kann auch hier ihre überversorgende Art zum Tragen kommen. Mittlerweile ist ihr Sohn zehn Jahre alt, seine Wünsche nach Selbstständigkeit werden größer und an dieser Stelle kippt das fragile Gleichgewicht. Vom „Ich bin eine gute, immer versorgende Mutter, ich werde gebraucht“ zum „Wenn ich nicht mehr existenziell gebraucht werde, wer bin ich dann, existiere ich dann noch?“. Sie verhält sich dem Sohn gegenüber fordernder, macht sich selbst zum Opfer und den Sohn zum Täter, der ihr vorenthält, was sie benötigt. Die Beziehung eskaliert.
Im Umgang mit dem anderen Geschlecht erlebt sie sich als inkompetent, unsicher und tollpatschig. An dieser Stelle, wo sie ihre eigene Bedürftigkeit deutlich spürt, werden alte Muster aktiv: Wenn ich etwas brauche, werde ich verlassen oder verachtet, deshalb schaue ich mein Gegenüber erst gar nicht an. Ich gehe nicht in den wirklichen Kontakt.“ Dieses kann so natürlich auch nicht die Wünsche oder Bedürfnisse erkennen und in keiner Form beantworten.
Kontaktblockade zur eigenen Bedürftigkeit als zentrales Thema
In der dritten Therapiestunde wird die Blockade der eigenen Bedürfnisse deutlich.
Sie sagt: „Ich habe das Gefühl, etwa auf Brusthöhe gibt es eine Schranke, die den Kopf von den Gefühlen trennt. Ich möchte da gar nicht hinfühlen. Von oben fühlt es sich gerade und klar an. Jenseits der Schranke herrscht das Chaos.“
„Bitte, wenn möglich, geben Sie diesem Gefühl etwas mehr Raum. Versuchen Sie, weiterzuatmen, ruhig weiterzuatmen. Und lassen Sie mich daran teilhaben, was geschieht.“ Ich bemerke, wie sie ruhiger wird und sich ihr Gesicht entspannt.
„Ich merke, dass ich Angst habe, dass das Chaos unterhalb der Schranke ganz von mir Besitz ergreift.“
„Wir werden uns dem ganz langsam und beschaulich nähern. Wir schauen uns im Weiteren erst einmal die Schranke von oben an, wie sie sich anfühlt, wofür sie gut ist. Erst wenn es für Sie möglich ist und Sie sich sicher genug fühlen, schauen wir, was sich darunter befindet.“
Als Hausaufgabe gebe ich ihr auf, diese Schranke zu malen und sich bildlich damit zu beschäftigen. In den nächsten Stunden beschäftigen wir uns intensiver mit diesem Bild ihrer gefühlsmäßigen Organisation.
So beschreibt sie das innere Bild deutlicher: „Ich weiß jetzt, wofür die Schranke steht, so kann die ganze Wut nicht einfach nach außen dringen. Ich verletze niemanden. Oberhalb der Schranke fühlt es sich kalt und ruhig an und unterhalb warm und chaotisch.“
„Bleiben Sie noch etwas bei dem warmen chaotischen Gefühle. Geht das?“
„Ich finde es sehr unangenehm. Ich möchte da weg.“
„Geht es noch, einen Moment dazubleiben, weiterzuatmen und dem Gefühl und dem inneren Bild etwas mehr Raum zu geben?“
Ich sehe, dass Frau L. sehr damit ringt, die Fassung zu wahren, Tränen laufen ihr übers Gesicht. „Was passiert? Können Sie mir erzählen, was in Ihnen vorgeht?“
„Ich kann es schlecht ausdrücken, aber sinngemäß ist es Folgendes: Ich spüre eine große Traurigkeit, weil ich nicht weiß, ob der Mensch, der unter der Schranke ist, nicht eigentlich ein ganz anderes Leben leben will und ganz anders ist, als ich es bin.“ Sie weint dabei und ihre tiefe Betroffenheit und ihre Trauer um die eigenen, nicht gelebten Emotionen werden deutlich.
Wir erarbeiten, wie wichtig in ihrem früheren Leben diese Schranke war, um den Kontakt zur Mutter, die mit den Bedürfnissen der Tochter nicht umgehen konnte, zu halten. So konnte Frau L. in einem Klima, in dem Bedürfnisse als Schwäche gesehen werden, überleben, leider mit den fatalen Folgen, diese Bedürfnisse zu leugnen. Als Druckmittel wurde Liebesentzug eingesetzt.
Sie berichtet, wie groß ihre Angst vor Einsamkeit sei, und dass sie sich deshalb in Beziehungen immer bis an die Grenzen der Belastbarkeit anstrenge. Dabei kenne sie keine Grenze, sie spüre sich dann oft nicht mehr. Auch in unserer Arbeit wird ihre grenzenlose Hingabe deutlich, sie blendet eine Überforderung aus und ich merke, dass ich jetzt gerade im Anfang die Grenzen der Belastbarkeit der Klientin gut im Auge behalten muss. Dies thematisiere ich mit ihr. Sie reagiert dankbar und sichtlich erleichtert auf meine Intervention. Sie fühlt sich gesehen und entspannt sich.
Als Nächstes bearbeiten wir die Themen Bedürftigkeit, anderen Bedürfnisse mitzuteilen, Achtsamkeit und Gewahrsein im Umgang mit sich und den Bedürfnissen.
Im Verlauf der weiteren Arbeit wirkt Frau L. gelöster. Sie kann den Blickkontakt auch bei schwierigen eigenen Themen und Befindlichkeiten länger halten. Sie erzählt von einigen geglückten Kontaktaufnahmen zu Männern. So wurde eine frühere Beziehung wieder aktuell und im weiteren Verlauf kommt die Beziehung zum Sohn ins Zentrum unserer Arbeit. Sie beschreibt, wie fordernd er sei und wie schwierig es für sie sei, Grenzen zu setzen.
Entwicklung der Therapie und weiteres Vorgehen
Frau L. fragt mich in einer der nächsten Stunden – sie weiß, dass ich auch mit Familien arbeite –, ob ich nicht auch mit ihrem Sohn und ihr gemeinsam arbeiten könne. Sie fühle sich zwar mittlerweile deutlich entspannter im Umgang mit ihm, würde aber gerne den Kontakt verbessern und einen offeneren Zugang zu ihm bekommen. Besonders abends würde es immer große Probleme geben, er verhalte sich ihr gegenüber dann sehr respektlos und schreie sie an.
Da ich mir gemeinsame Gespräche gut vorstellen kann und zur Mutter eine tragfähige Arbeitsbeziehung aufgebaut habe, schlage ich folgendes Vorgehen vor: Zunächst werde ich Gespräche mit Leon alleine führen, um ihn kennenzulernen und eine Beziehung aufzubauen. Diese Gespräche führe ich gerne im Haushalt des Kindes, da ich die Erfahrung gemacht habe, dass sich Kinder im gewohnten Umfeld viel authentischer verhalten als in fremder Umgebung.
Anschließend werden wir weitere Termine mit Mutter und Sohn ansetzen, um die konfliktreichen Situationen gemeinsam zu reflektieren, nicht gelungene Kontaktprozesse genau zu betrachten und Möglichkeiten finden, unabgeschlossene Gestalten zu schließen, um so zu einem zufriedenstellenderen Umgang miteinander zu kommen.
Leon L. – Erste Monate
Leons Geburt ist schwierig, in den ersten Monaten schreit er oft und langanhaltend und lässt sich kaum beruhigen. Er wirkt oft unzufrieden und reizbar.
Frau L. ist durch das Verhalten des Kindes völlig irritiert und verunsichert. Sie möchte alles richtig machen und konsultiert bald verschiedene Ärzte, um eine Aussage zum Problem mit dem Kind zu bekommen. Bis zur Erschöpfung habe sie sich um das Kind gekümmert, das dann doch nur geschrien habe. So gerne hätte sie sich bei den eigenen Eltern als gute Mutter präsentiert, aber Leon sei kein Vorzeigekind gewesen.
Hier wird deutlich, dass der sehr fragile und immer sehr komplexe Einigungsprozess zwischen Mutter und Sohn schon früh Störungen aufweist. Frau L. fühlt sich von Sohn und Ehemann im Stich gelassen in dem Wunsch nach positiver Wertschätzung. Sie muss das Schreien des Sohnes für eine persönliche Demütigung halten, die ihr die Bewertung der Mutter vor Augen führt: auch als Mutter sei sie unfähig. So kann sie das Schreien nicht mehr als das sehen, was es vermutlich zu Anfang war, eine Antwort auf eine schwierige Geburt, auf Blähungen, auf das Kiss-Syndrom mit den Schmerzen im Kopfgelenk oder Ähnliches. Es wird verbunden mit den Abwertungen der Mutter und vermutlich auch mit den eigenen nicht befriedigten Bedürfnissen. Die in den Medien dargestellten glücklichen Familien gleichen nicht dem, was Frau L. jeden Tag sieht und erlebt. Sie fühlt sich alleingelassen und betrogen und mit dem Säugling völlig überfordert. Sie berichtet von Tagen, in denen sie unentwegt weinte und sich der Versorgung des Kindes kaum zuwenden konnte.
Und natürlich wirkt sich dieses Verhalten auch auf die Eigenwahrnehmung Leons hinsichtlich seiner eigenen Bedürfnisse und deren Artikulation aus. Leon spürt schon sehr früh, dass es gefährlich sein kann, Bedürfnisse durch Schreien zu artikulieren. Ein erster Bruch im Kontaktprozess von Mutter und Sohn ist da.
Leon L.
Leon ist bei unserem ersten Termin sehr aufgeregt, unkonzentriert und unruhig. Er ist ein altersentsprechend entwickelter, aufgeweckter Junge von zehn Jahren. Er besucht die Realschule.
Leon erzählt mir von seinen Problemen mit seiner Mutter und dass er ja ADHS habe, aber manchmal sei er einfach nur wütend oder schlecht gelaunt. Das habe mit dem ADHS nichts zu tun. Er wünsche sich, besser mit seiner Mutter zurechtzukommen und nicht so viel mit ihr zu streiten. Besonders abends sei er oft schlecht gelaunt und schreie seine Mutter an, er könne sich dann meistens nicht mehr bremsen und beschimpfe die Mutter aufs Schlimmste. Eigentlich möchte er sich so nicht verhalten, weiß aber nicht, wie er das ändern kann. Früher, als beide Eltern noch zusammengelebt haben, wäre es zuhause schöner gewesen. Seine Mutter war entspannter und sie seien häufig zusammen zu Besuch bei Freunden gewesen. Das habe ihm gut gefallen.
Mir fällt auf, dass er in manchen Bereichen ein hohes Maß an Verantwortung übernimmt, das eigentlich nicht altersentsprechend ist. Altersangemessene Verantwortung auch hinsichtlich der eigenen Befindlichkeit und Organisation nimmt er jedoch selten wahr. Er ist sehr bemüht, den Anforderungen der Umwelt zu genügen.
Wenn er aufgeregt ist und sich unsicher fühlt, neigt er dazu, das Gesicht in Grimassen zu verziehen.
Mit Grundschulbeginn wurde bei ihm ADHS diagnostiziert und medikamentös behandelt. Daraufhin entspannte sich die schulische Situation, er kam leistungsmäßig gut mit und hatte Freunde gefunden. Seit Anfang des Jahres besucht er die Realschule. Er hatte zunächst große Probleme, sich einzufinden, sich räumlich und sozial zu orientieren, und er hatte Schwierigkeiten im Umgang mit den Lehrern. Dies hat sich aber in den letzten zwei Monaten deutlich gebessert, er kommt jetzt mit den meisten Lehrern gut klar und ist ein beliebter Klassenkamerad. Nachmittags verabredet er sich oft und ist auch räumlich sehr selbstständig.
ADHS als chronische Unterbrechung des Kontaktprozesses
Grundlage der Gestalttherapie sind Kontaktprozesse und deren Störungen. Kontakt in diesem Sinne kann Kontakt zum anderen Menschen, zur dinglichen Umwelt oder zu sich selber sein.
Jeder Kontaktprozess verläuft in vier Phasen: dem Vorkontakt, der Orientierung und Umgestaltung, dem vollen Kontakt und dem Nachkontakt – die natürlich im Erleben nicht voneinander abgegrenzt sind, sie gehen ineinander über. Im Vorkontakt wird die Person durch einen Reiz (z. B. Duft von Speisen) erregt. Damit beginnt der Kontaktprozess, zunächst zum eigenen Körper und dessen Bedürfnissen: Energie wird zur Verfügung gestellt und die Konzentration richtet sich auf ein Ziel.
In der Phase der Orientierung und Umgestaltung (wie komme ich an das Essen, ich suche mein Geld usw.) werden sensomotorische Funktionen aktiviert, um das Objekt unseres Interesses deutlicher werden zu lassen.
„Dieser Vorgang beansprucht unsere Sinne ebenso wie unseren Verstand und fordert die aggressiven Funktionen der Initiative, der Bearbeitung, der Analyse sowie des Aussortierens, des Beseitigens und der Abgrenzung. Hier kommen unsere Erfahrungen und Fähigkeiten voll zum Einsatz, der Energiepegel steigt weiter an. Hier bin ich mit meinen Kompetenzen, dort ist das Andere, Fremde, Neue, das Anziehende oder das Störende.” (Dreitzel, 2004, Seite 37 ff).
Im vollen Kontakt wird dann aus Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Neuen eine Berührung und Verschmelzung („Ich habe eine Tüte Pommes in der Hand und beginne zu essen“). Die Energie bleibt auf hohem Niveau. Es stellt sich so etwas wie Sättigung, Erfülltsein, Befriedigung ein. Nun beginnt der Nachkontakt, die Energie sinkt, das Ziel ist erreicht, eine kurze Phase der Bewertung beginnt („Hätte ich nicht etwas anderes essen können, Pommes sind ja so ungesund“ oder „Gut fühlt sich mein Bauch jetzt an“). Dann nimmt der nächste Kontaktprozess seinen Lauf.
Werden im Verlauf der frühkindlichen Erfahrung die ersten Kontaktprozesse immer wieder im frühen Stadium (Vorkontakt oder Beginn der Phase Orientierung und Umgestaltung) unterbrochen oder erhält das Kind nicht genügend Unterstützung für die Kontaktbildung, so kann das Kind den Kontaktprozess als Ganzes nicht erlernen. Folgende Störungen können sich manifestieren:
– Die aggressiven Funktionen können nicht abgeleitet und in positive Energien für den Kontaktprozess umgestaltet werden. Eine ungelenkte Impulsivität kann die Folge sein.
– Die sensomotorischen Funktionen kommen nicht zum Einsatz, können sich nicht zur Gänze ausbilden. Wahrnehmungs- und Orientierungsprobleme können die Folge sein. „Ein hyperaktives Kind ist oft stark lernbehindert, weil seine visuellen, auditiven und manchmal auch taktilen Wahrnehmungsfähigkeiten beeinträchtigt sind.“ (Oaklander 1981, 277).
– Der gesamte Kontaktprozess wird nicht als geschlossene Gestalt erlebt, wodurch er so etwas wie Sinnhaftigkeit erhält, sondern als beliebig. So werden die einzelnen Kontaktprozesse nicht phasenmäßig durchlaufen und beendet, sondern immer wieder neu angefangen. Da die Störung mittlerweile chronisch ist, beginnt immer wieder ein unbefriedigender Kreislauf. Der Kontaktprozess wird begonnen, in der Phase der Orientierung und Umgestaltung durch eine Ablenkung aus der Umwelt abgebrochen und ein neuer Kontaktprozess beginnt. Die Frustration durch die ungeschlossenen Gestalten staut sich auf und entlädt sich. Eine Sättigung und Befriedigung wird nicht erreicht. Eine altersentsprechende Entwicklung wird erschwert.
Um den Kontaktprozess positiv zu durchlaufen und adäquat erlernen zu können, benötigt das Kind von der Bezugsperson angemessene Unterstützung. Diese Unterstützung muss dem Alter und den Fähigkeiten des Kindes angepasst werden. Ein zweijähriges Kind braucht z. B. eine Hand beim Klettern, um diese Aufgabe zu bewältigen. Würde man dagegen einem gesunden, normal entwickelten 15-Jährigen in derselben Situation die Hand reichen, würde dies nicht als Unterstützung, sondern eher als Behinderung erlebt. Erziehung ist immer ein Prozess von der Fremd- zur Selbstunterstützung. Viele Mütter wissen automatisch, wie und wann sie ihrem Kind helfen sollten. Für eine Mutter, die sich selbst in einer depressiven Phase befindet, kann diese fein zu differenzierende Unterstützungsarbeit jedoch eine große Überforderung darstellen und nicht wirklich gelingen.
In der Arbeit mit Leon bedeutet das, ihm bei Kontaktprozessen die Unterstützung zukommen zu lassen, die für den Kontaktprozess nötig ist, und ihn da zu fordern, wo er sich selbst unterstützen kann. Zunächst mal heißt das ihm zuzuhören, ihn nicht zu unterbrechen, seinen Worten Wert beizumessen. Ich arbeite mit Leon daran, Kontakt zu sich selbst herzustellen, sich selbst wahrzunehmen und diese Wahrnehmungen wichtig zu nehmen und zu lernen, diese zu artikulieren. Ich stärke seine Entscheidungsfähigkeit und nehme sie ernst.
Kontaktgeschehen zwischen Mutter/Sohn
In den gemeinsamen Gesprächen mit der Mutter bedeutet das, Problemsituationen millimetergenau zu beleuchten und zu besprechen. Mutter und Sohn haben die Möglichkeit, sich mitzuteilen, sie finden Gehör, auch gegenseitiges Gehör. Beide lassen sich auf die Gespräche ein und es entwickelt sich eine vertrauensvolle Arbeitsatmosphäre, in der sich Mutter und Sohn öffnen können.
Zu Beginn unserer gemeinsamen Gespräche ist es noch sehr schwierig, jedem die Möglichkeit einzuräumen, seine Gesprächswünsche bis zu Ende artikulieren zu können. Leon anzuschauen und den Blickkontakt zu halten ist für Frau L. sehr schwierig, es sei denn, sie verfällt in ihren Arbeitsmodus.
Sich dem Sohn auf angemessene Weise zu öffnen, sich emotional einzubringen und zu erklären, wird zum wichtigen und zentralen Arbeitsthema. So kann Leon von der übergroßen Verantwortung entlastet werden, die er für die Belange seiner Mutter trägt, und er erhält mehr Möglichkeiten, seine Bedürfnisse zu erkennen und zu artikulieren.
Ausblick
Nach fünf weiteren gemeinsamen Sitzungen, in denen wir jeweils Konfliktsituationen beleuchten, schwierige Ablöse- und Selbstwertprozesse besprechbar machen, stabilisiert und entspannt sich die Beziehung von Mutter und Sohn. Eine gegenseitige Wertschätzung und offenere Wahrnehmung wird möglich. Die früher festgefahrene und in der Aggression stecken gebliebene Kommunikation kann jetzt erfolgreich zu Ende geführt werden.
Literaturempfehlungen
- Hans Peter Dreitzel: Gestalt und Prozess, EHP, 2004
- Fitzner, Thilo, Stark,Werner: Doch unzerstörbar ist mein Wesen ..., Beltz Verlag, 2004
- Reinhard Fuhr, Milan Sreckovic, Martina Gremmler-Fuhr: Handbuch der Gestalttherapie. Hogrefe-Verlag, 1999 und 2001
- Stephen M. Johnson: Charaktertransformation, Andreas Kohlhage/EHP, 2007
- Violet Oaklander: Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen, Klett-Cotta, 1981
- Klaus Skrodzki, Krista Mertens: Hyperaktivität, Borgmann publishing, 2000
- Joseph C. Zinker: Auf der Suche nach gelingender Partnerschaft, Junfermann Verlag, 1997
Sigrid Budszuhn
Jg. 1962, Studium der Erziehungswissenschaften, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Gestalttherapeutin
Praxis für Gestaltpädagogik und Gestalttherapie
Gerther Heide 9, 44805 Bochum